20 Nov

Europa – Meditation 3

Europa – Meditation # 3

So oft in der Geschichte Europas mussten sie fliehen, aus einer Ecke Europas in die andere oder sogar über den großen Teich in erbärmlich kleinen Schiffen. Und viele kamen niemals an, wo sie ankommen sollten. Aber die Verzweiflung ließ sie einfach Hab und Gut hinter sich lassen, Heimat aufgeben und das bisschen Leben, das sie noch hatten, auf eine einzige Karte setzen: Die Fremde.

Ja, die Hoffnung stirbt zuletzt, in der Tat. Manche Bark, beladen mit zitternder Menschenfracht, kam nicht einmal zwei Tage weit – da hatte ein Sturm schon alle mit Kind und Kegel in die eisige Tiefe gerissen. Die Verwandten, die zurückgeblieben waren, trauerten und trauerten. Alle Ersparnisse hatten die ausgemergelten Familien zusammengekratzt, alles umsonst. Und auch später, als dann Dampfschiffe durch die schier endlosen Fluten vorwärts strebten, auch da waren es verzweifelte, arme Menschen, die Europa den Rücken kehrten. Und wie glücklich waren sie, wenn nach langen Wochen auf offener See endlich Land in Sicht kam, die Neue Welt. Aber nach der Ankunft mussten sie lange warten, bis sie endlich Fuß fassen durften am neuen, fremden Ufer. Viele wurden sogar wieder zurückgeschickt, damals. Alles schon vergessen im unerbittlichen Sog der Zeit? Die Hugenotten zum Beispiel, die Puritaner zum Beispiel, die arbeitslosen Handwerker aus Friesland, aus Irland, aus Schottland und aus Italien, um nur ein paar Ländernamen zu nennen.

Zahlen? Wozu Zahlen? Wenn wieder ein Schiff vor Lampedusa sinkt, wer will dann noch wissen, wieviele es waren, woher sie kamen, wohin sie wollten, welche Hoffnungen sie in ihren Herzen verbargen?

Es sieht beinahe so aus, als wären die Europäer hinter einer fetten Schicht von Wohlstand, Ansprüchen und Arbeitsdisziplin so dick geworden, dass ihre Augen gar nicht mehr aus diesem wärmenden Warenberg hervorschauen können. Was da am Rande Europas angespült wird, ist so weit weg, so fremd, dass kein Mitleid mehr sich rührt.

Damals hatten die Menschen in ihren bescheidenen Verhältnissen die fliehenden Europäer aufgenommen, hatten das Wenige, das sie hatten, mit ihnen geteilt, hatten ihnen, den Fremden aus Europa, die Hände gereicht, zusammen schuf man dann sogar oft Besseres danach.

Längst vergessen? Nicht vergleichbar?

Natürlich, nichts kann verglichen werden, alles ist einmalig. Ein bequemer Satz. Dabei sind sich die Menschen doch so ähnlich, damals wie heute: Die Angst vor dem Ungewissen hält sie lange gefangen, aber dann will man es wissen. Die Kürze des Lebens erlaubt kein Zaudern, lieber die Unwägbarkeiten der Fremde ertragen, als weiter Not, Gewalt, Krankheit und Tod in der eigenen Heimat hinnehmen. Und all die zahllosen Begabungen! Sollen sie wirklich nicht zum Tragen kommen können? Der neue, fremde Blick auf das scheinbar Selbstverständliche könnte den Europäern eine Hilfe sein. Oder wie war das damals in der Neuen Welt? Hat es sich nicht gelohnt, dem Fremden gegenüber offen, hilfreich und wohlwollend zu sein?

17 Nov

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 2

Europa – Fortsetzungsgeschichte  #  2

(…also hat es damals gar keine Entführung gegeben?
Es sieht wohl so aus. Und wenn man ganz genau hinhört in das Flüstern aus vergangenen Zeiten und Geschichten, dann könnte es vielleicht auch so geklungen haben:)

Von der Begegnung erzählt sie den Freundinnen nichts. Der Fremde gehört ihr noch ganz allein. Ihr Vater, der König, drängt, im kommenden Frühling soll die Hochzeit sein. Der Prinz aus dem fernen Ardash wird sie holen lassen, hat Vater gesagt. Aber Europa will den Prinzen nicht. Vor vielen Jahren, sie waren damals beide noch Kinder, haben sie sich einmal gesehen. Seitdem nie wieder.
Seit heute weiß sie, sie will mit dem Fremden gehn, der ihr am Ufer erschienen war.
„Ich werde es tun“, sagt sie leise, als sie abends am Fenster sitzt, aufs Meer schaut und sehnsüchtig  dem Versinken des rotglühenden Balls zuschaut.
Gänsehaut wohlig überall.
Von den Bergen kommt ein kühler Wind herab, er bringt den Duft der Zedern mit. Er streichelt ihre heiße Haut.
Und die Mutter darf auf keinen Fall auch nur etwas ahnen von ihrem kühnen Plan.
„Und wenn er bei Neumond gar nicht wiederkommt?
Europa, quäl dich nicht selbst mit solch dummen Fragen!“ weist sie sich zurecht.
„Wenn ich diese Nacht von ihm träumen werde, soll es mir ein Zeichen sein.  Die Göttin wird mir im Traum erscheinen, ganz sicher.  Sie wird mich stark machen. Ich werde mit niemandem darüber sprechen können. Vor dem Einschlafen will ich beten. Inständig.“

Alle fühlen, dass etwas mit Europa geschehen sein muss. Sicher, sie lacht, aber nicht wie sonst.
Ja, sie ist eine gehorsame Tochter, aber doch anders als sonst.
So gehen die Tage dahin. Bald wird Neumond sein.
Dem König fällt auf, dass Europa jetzt häufiger zum Tempel geht, der Göttin Opfer bringt.
Woher kommt diese innige Frömmigkeit?
„Europa, du warst sonst immer so ausgelassen, was ist los?“ fragen die Freundinnen neugierig die Prinzessin.
„Was soll sein? Ich denke nach, bald werde ich euch ja verlassen müssen. Habt ihr das denn schon vergessen?“
„Ach was, doch erst im kommenden Frühjahr – wenn die Gesandtschaft des Prinzen überhaupt kommt“, beschwichtigen die Freundinnen Europa.
Als stünde die Zeit still, so kommt ihr das Warten auf den Neumond vor. Jedenfalls viel zu langsam.
An seine Gestalt kann sie sich noch erinnern. Aber sein Gesicht, seine Stimme? Ihr Gedächtnis lässt sie lieblos im Stich. Manchmal meint sie für einen Augenblick sogar, das Ganze nur erdacht zu haben. Vielleicht sind sie sich ja gar nicht am Strand begegnet, vielleicht will sie nur, dass es so war.

Dann träumt sie wieder. Am hellichten Tag träumt sie die glücklichste Geschichte mit dem Fremden. Einfach so. Und nachts, in ihren Träumen, erinnert sie sich dann wieder nicht mehr daran.

Neulich hatte die Göttin sie im Traum gewarnt:
„Europa, prüfe ihn, bevor du mit ihm gehst!“
„Aber wie? Wie könnte ich das tun?“
Da war der Traum schon ausgeträumt.
Als sie aus dem Schlaf hochschreckt, laufen ihr Tränen die Wangen herab.

16 Nov

Europa – Meditation 2

Europa – Meditation 2

In Mexiko werden – unter so vielen anderen schon – seit Wochen dreiundvierzig Studenten vermisst. Eltern, Geschwister, Freunde wollen das so nicht mehr hinnehmen. Gut so. Sie wollen dreiundvierzig Ratshäuser und Parteibüros anzünden. Ein Fanal der Verzweiflung, der Wut. Die willkürliche Gewalt feiert seit Jahren in Mexiko ein Drogenfest nach dem anderen. Auch an der Grenze zu den Vereinigten Staaten ist die Gewalt seit vielen, vielen Jahren Tag und Nacht mit am Tisch, am Arbeitsplatz, an der Bushaltestelle, im Taxi. Junge Frauen verschwinden gewaltsam und auf nimmer Wiedersehen.

Aber es ist scheinbar so weit weg von uns Europäern, so jenseits unserer Muster auch.

Oder vielleicht doch nicht?

In der ersten Meditation zu Eruopa war der Blick einen Augenblick gerichtet auf den Nahen Osten, wie er zu Anfang des 20. Jahrhunderts sehr mutwillig und selbstherrlich von den Europäern in Scheiben und Scheibchen zerteilt wurde, damit man ja genug vom Kuchen, dem zerbröselnden, abbekommt. Unselige Folgen unseliger Willkür seitdem. Die Medien haben es anschaulich auf Karten und in gut belegten Artikeln vor jedem, der es wissen will, ausgebreitet. Denn das, was da jetzt scheinbar so unvorhersehbar zu zerfallen scheint, war doch nie ein Zusammengehörendes, ein größeres Ganzes. Es waren Zwangsterritorien, in denen gewaltsam Menschen mit so unterschiedlichen religiösen, ethnischen, familiären Hintergründen zusammengepfercht waren, dass jeder halbwegs einsichtige Mensch hätte vorhersagen können, das kann nicht gut gehen, nein, das kann wirklich nicht gut gehen. Fast böte sich das Bild des Bumerangs an, um das, was jetzt dort geschieht, vorstellbar zu machen. Aber lassen wir es lieber, weil es zu einfach, zu automatisch erscheinen könnte.

In der zweiten Meditation zu Europa ist der Blick nun für einen Moment auf Mittelamerika gerichtet.

Auch da haben die Europäer (im Nahen Osten vor allem Engländer und Franzosen und Jungtürken, in Mittelamerika vor allem Spanier, weiter südlich dann Portugiesen und weiter nördlich Holländer, Engländer und Franzosen) ebenfalls nach gusto und gewaltsam Grenzen gezogen und Landschaften neue Namen gegeben und neuen Glauben aufgezwungen. Die, die seit je dort schon lebten, hatten sich dem zu unterwerfen oder verfielen dem Tode. In Filmen und historischen Romanen haben Künstler versucht, diese unselige Geschichte in anschauliche Bilder zu fassen, die seitdem unser Gedächtnis bevölkern, beruhigen und unterhalten. Als einziges Beispiel sei hier nur an Werner Herzogs Film Aguirre oder der Zorn Gottes erinnert: Die Gier nach Gold trieb die Eroberer tief in den Urwald, bis die Natur sie einfach verschlang. Damals. Heute scheint sich selbst die Natur geschlagen zu geben. Erst kürzlich ging es wieder erbarmungslos um die Gier nach Gold in einem Film, der in Mexiko spielt: The Counselor . Prahlende Drogenbarone kennen nicht nur keine Gnade gegen die Arbeitsklaven, nein, auch nicht gegen die Konkurrenten, falls die ihnen dazwischen funken wollen. Denn „die Gier ist der Abgrund“, in dem sie alle im freien Fall taumeln und lachen und töten. Der mit glitzernden Statussymbolen reich behängte Moloch hat einen großen Hunger, der nie gesättigt ist. Mehr, mehr, mehr! Und dem bringen die Barone jedwedes Opfer. Und die Drogenopfer sind ja sowieso selber schuld, die dummen! Als gäbe es einen späten Zusammenhang – könnte man meinen – zwischen den Gewaltorgien des 17. und 21. Jahrhunderts – als käme da, wie ein Bumerang ( aber das wäre ja, wie gesagt, ein zu einfaches Bild), ein gewaltiges Echo in die Gegenwart zurück, das uns für einen Augenblick verstört, bevor sicher auf einem anderen Sender ein weniger unappetitliches Thema konsumiert werden kann, das gerne helfen wird, Nachdenken, Besinnen, Selbstkritisches Schlussfolgern nicht nahezulegen.