20 Dez

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 6

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 6

„Wo bist du jetzt?“ fragt Europa im Halbschlaf den Fremden vom Strand. „Ich erwarte dich bei Neumond an derselben Stelle.“ Wer hat es gesagt? Er oder sie? Europa hat arge Bauchschmerzen. Der Geschmack im Mund ist bitter, die Zunge pelzig. Meine liebe Amme, du hast mir schon wieder das Leben gerettet. Wie kann ich das nur wieder gut machen? So geht es ihr durch den Kopf. Tränen der Dankbarkeit laufen aus den Augenwinkeln die Schläfen hinab. Aber schon wieder denkt sie an den Fremden. Sollte ich der Amme von ihm erzählen? Ja, Europa will es tun. Ihre Amme hat es verdient, es auch zu wissen. Sie wird sowieso schweigen wie ein Grab. Wie schon immer. Europa muss schmunzeln. Wie oft hatten sie schon die Königin und den König mit kleinen und größeren Notlügen hinters Licht geführt! Ihr kann ich alles erzählen, alles. Auch den Alptraum, den sie neulich hatte, muss sie ihr verraten: Da war dieser Riese plötzlich vor ihr gestanden, der einen Nacken hatte wie ein Stier. Er hatte sie entführt, gewaltsam. Sie hatte zu schreien versucht. Hatte aber keinen Ton herausbekommen. Er grunzte wie ein Tier, lief mit riesigen Schritten, und sie hatte er sich einfach über die Schulter geworfen. Kopf nach unten, Füßen nach oben. Sie hatte solche Angst gehabt. Schweiß gebadet war sie aufgewacht, schwer atmend.

Da öffnet sich die Tür. Ah, die Amme ist schon zurück, freut sich Europa und schließt zufrieden, aber auch erschöpft die Augen. Als sie sie wieder öffnet, atmet sie heftig und erschrocken ein: Ihr Vater, nicht die Amme steht an ihrem niedrigen Bett. Doch er lächelt, also keine neue Strafpredigt. Europa ist erleichtert. „Vater“, flüstert sie, „es geht mir gut, mach dir keine Sorgen.“ Agenor grinst gönnerisch. „Deine Mutter hat mir schon Bescheid gesagt. Du siehst so blass aus, mein Kind.“ „Ich weiß auch nicht, was es ist.“ Der König setzt sich auf den Bettrand, nimmt die Hand seiner Tochter und streichelt sie sanft. Dann will er es ihr endlich sagen. Die große Überraschung, die er sich ausgedacht hat. Sein besonderes Hochzeitsgeschenk für Europa und ihren königlichen Bräutigam. „Hör zu, meine Liebe, da du ja bald auch Königin sein wirst, muss ich als der Vater der Braut natürlich zeigen, dass du aus reichem Hause kommst.“ Europa hört gar nicht zu. Es geht sie ja auch nichts mehr an, denn sie wird nicht Königin werden, sie wird mit dem Fremden in die Fremde fliehen. „Hörst du mir überhaupt zu?“, so spricht ihr Vater weiter. Sie nickt kaum. „Also gut: Zwölf Stiere, eine ganze Ziegenherde und zwölf Esel und als Krönung ein Pantherpaar! Na, was sagst du dazu?“ fragt er mit Stolz geschwellter Brust. „Wie kommst du denn darauf?“ flüstert Europa schwach. Sie will sich lieber gebrechlicher stellen als sie wirklich ist. Das ist im Augenblick ihr einziger Schutz. „Nun, ich hatte neulich einen Traum. Da erschien mir ein junger, wirklich sehr gut aussehender Mann auf einem Efeu geschmückten Wagen, der von zwölf Stieren gezogen wurde, zu beiden Seiten ritten zwölf Paladine auf zwölf Eseln, drumherum zahllose Ziegen und neben ihm thronten mit finsterer Miene zwei Panther. Das muss dein Bräutigam gewesen sein, dachte ich im Aufwachen. Dem soll ich wohl diesen Prachtzug mit Tieren schenken, war demnach die Botschaft. Heute Abend – leider kannst du ja nicht dabei sein – werde ich meine Geschenke den Gästen vorführen. Die werden staunen!“ Europa versuchte ein kleines Lächeln. „Gut, ich muss los. Deine Mutter wird auch gleich erscheinen, um nach dir zu schauen.“ Und schon war er wieder weg. Die Mutter? Wieso die Mutter? Wo bleibt meine Amme, die gute? Wenn sie gewusst hätte, dass ihre Amme nie mehr kommen würde, vielleicht hätten dann das Entsetzen und die Schmerzen sie so überwältigt, dass ihre Träume von einem neuen Leben in einer ganz anderen Welt mit einem wunderbaren Menschen, dem Fremden, in nichts zerronnen wären. So aber blieb ihr noch etwas Zeit, wieder zu Kräften zu kommen, sich auf den Besuch der herrischen Mutter vorzubereiten.

20 Dez

Europa – Meditation 6

Europa – Meditation 6

War es nicht ein geiler Gott, der gewaltsam Europa entführte und aufs Kreuz legte? War es nicht ein großes Bild vom mythischen Ursprung eines ganzen Erdteils? Oder hatte etwa jemand die eigentliche Erzählung kassiert, um sie in pralleren Farben und grelleren Tönen eindrucksvoller erscheinen zu lassen?

Im Alten Testament ist der unsichtbare, eifersüchtige Gott ein strenger und oft strafender, sagen die Propheten. Die Feinde Israels oder auch die Israeliten selbst bekommen seinen Zorn oft zu spüren. Er ist mächtig kompromisslos. Gewaltig sind seine Antworten auf die Verfehlungen der sündigen Menschen, so jedenfalls steht es in den Büchern, die von alten Männern den Schreibern diktiert werden. Voller Angst unterwerfen sich die Menschen Gottes Geboten, flehen um Gnade. Sintflut, Feuer und Seuchen schickt er über die Erde. Er lässt sie viele Kriege führen, unterwirft sie zahllosen Prüfungen, vernichtet ihre Feinde oder schickt sie selbst in eine vernichtende Niederlage. Krieg, Gewalt, Angst und Schrecken immer wieder. So wie König Herodes, der alle erstgeborenen Söhne töten lässt, um den zu vernichten, der der Erlöser sein soll. Kleine Kinder werden den verzweifelten Müttern aus den Armen gerissen. Die Häscher aber kennen keine Gnade. In den Gassen das Geschrei der Eltern und Verwandten, tagelang. Eine blutige Spur führt durch das Land. So ist es im Buch der Bücher, dem Alten Testament zu lesen.

Im fernen Pakistan weinen jetzt auch sehr viele Familien um ihre gewaltsam getöteten Kinder. Groß sind Trauer, Zorn, Wut und das Geschrei nach blutiger Rache. Sie wird nicht lange auf sich warten lassen. Und wieder wird ein Gott bemüht, der keine Gnade kennt all denen gegenüber, die nicht rechtgläubig sein wollen. Dieser Gott habe seinen Gläubigen das Schwert gegeben, so sagen sie. Sie erfüllen nur seinen Auftrag. So stehe es geschrieben. Wieder ist es ein strenger und strafender Gott, der die Gotteskrieger antreibt, seinen Willen gewaltsam durchzusetzen. Sie tun nur, was er ihnen aufträgt. So steht es im heiligen Buch, dem Koran, und heftig streiten die Schriftenausleger um die Deutung.

Dann kommt dieser völlig andere Gott in die Welt, so jedenfalls steht es im Neuen Testament. Der schwört aller Gewalt ab und stellt eine neue Botschaft dagegen: die Liebe deines Nächsten. Seine Jünger schreiben es auf, es wird der zweite Teil des Buches der Bücher, das Neue Testament. Auch hier streiten unversöhnlich die Ausleger der Texte und Offenbarungen um die Wahrheit, wie sie sagen. Ist er nun Gott oder ist er nun Mensch oder ist er beides? Ein Konzil alter Männer entscheidet mehrheitlich, was geglaubt werden soll. Vor allem die Sklaven, Armen und einfachen Soldaten fühlen sich wie befreit durch diesen Glauben. Wenn nicht hier, dann auf jeden Fall im Jenseits würden sie reich belohnt werden, wenn sie dieser neuen Botschaft Folge leisten. Und sie tun es. Und wer weiter der falschen Auslegung folgt, wird gnadenlos verfolgt. Ach, wie die armen Falsch-Gläubigen damals hießen? Arianer, so hießen sie.

Aber Gewalt und Schrecken verschwinden nicht aus der Welt. Nein. Im Gegenteil. Bald schon fühlt sich wieder jemand berufen, das Sprachrohr dieses Gottes zu sein, der erneut bedingungslose Gefolgschaft seiner Gläubigen fordert und ihnen den Auftrag gibt, die Ungläubigen – notfalls mit Gewalt – zu bekehren. Auch er lässt alles aufschreiben, was ihm im Traum insgeheim offenbart worden war. Seine reiche Frau hatte ihn ermutigt, es aufzuschreiben. Wie eine mächtige Flutwelle wird dieser neue Glaube die Meere durchpflügen und an ihren Ufern alles wegspülen, was sich dieser Gewalt widersetzt. Heilige Kriege werden ausgerufen. Fanatisch kämpfen die Gläubigen des einen Gottes gegen die des anderen Gottes, man kennt keine Gnade. „Gott ist mit euch!“, so schallt es auf beiden Seiten. Später führen sie auch blutige Kriege gegen scheinbare Besserwisser, Abweichler, aber auch gegen die, die auf anderen Erdteilen leben und ganz anderen Göttern dienen und die sie nun bekehren wollen zu ihrem Gott. Wieder Gewalt gegen Frauen, Kinder, Alte, Fremde, wieder im Namen dieses Gottes, der doch aller Gewalt abgeschworen hatte, so jedenfalls soll es Gottessohn gepredigt haben. Die Treuhänder dieser Offenbarungen segnen die Schwerter, Äxte, Schiffe und Kanonen, damit sich die gewaltbereiten Menschen als Vollstrecker eben dieser Offenbarungen wähnen dürfen.

Das Kind in der Krippe soll daran erinnern. Ist das nicht unglaublich?

11 Dez

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 5

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 5

„Vielleicht habe ich ja Glück“, denkt die Amme, als sie sich keuschend unter der Last Europas durch die kleine Geheimpforte zwängt. Und sie hat Glück. Niemand bemerkt die alte Frau mit der Prinzessin über der Schulter, wie sie durch Gassen und Gänge huscht. Volk und Hof sind viel zu sehr von ihrer Neugierde abgelenkt: Wie sehen die Fremden aus, was für Geschenke haben sie mitgebracht, wie kräftig sind ihre Pferde, wer ist ihr Anführer, was sagt der König, was Europa dazu? So gelangt die Amme ungesehen in ihre große Kammer am Rande des königlichen Palastes. Sie weiß, es eilt. Den Saft, den Europa getrunken hat, darf sie nicht zu lange in sich lassen. Mit einer Hand hält sie Europas Kopf, mit der anderen träufelt sie eine bittere Flüssigkeit in ihren Mund. Einiges davon läuft an den Mundrändern wieder heraus, aber einiges davon wohl auch in ihren Hals. Behutsam lehnt sie Europas Kopf wieder zurück auf das Kissen, auf dem sie schon als ganz kleines Mädchen geschlafen hat. So oft und so gut. So gut, dass die Königin mitunter eifersüchtig wurde, weil Europa lieber zur Amme abends ging als bei ihr zu bleiben.

„Schickt nach der Amme!“, zischt die Königin leise ihrer Zofe ins Ohr. Sehr ungeduldig lässt sie sich das Haar kämmen. Bei Sonnenuntergang will Agenor, der König, seine Tochter Europa den Gesandten präsentieren, damit die ihre Geschenke los werden können. Und Europa muss doch vorher noch ein Bad nehmen, massiert und eingesalbt werden, die wertvollen Haarteile wollen noch eingeflochten sein. Und immer noch nicht ist die Amme mit Europa da.

Plötzlich beginnt Europa zu zucken, zu stöhnen. Ihre Amme stützt sie, hält ihr den hölzernen Trog unter den jetzt gurgelnden Mund, flüstert ihr aufmunternde Worte ins Ohr. Und dann bricht es aus ihr heraus und in den Trog. Europa krampft sich an ihrer Amme fest, ächzt, reißt die Augen auf und übergibt sich von neuem. „Gut so, gut so, meine Kleine, es muss alles wieder raus.“ Kaum hat sie das letzte Wort gesagt, wird heftig gegen die Tür gepocht. Wer kann das sein, doch wohl nicht die Königin? Europa schaut ängstlich zu ihrer Amme auf. Ihr Atem geht sehr stockend und schwach, aber sie ist wieder wach, sie ist gerettet. Schnell erhebt sich die Alte, schlurft zur Tür und ruft: „Wer da?“ „Mach auf, die Königin schickt mich, sie will ihre Tochter sofort sehen, sofort!“ „Schon gut, ich bringe sie gleich!“ Ratlos wendet sie sich wieder Europa zu. „So kannst du nicht vor deine Mutter treten. Bleib hier liegen, ich gehe schnell zu ihr und werde ihr erzählen, du seist ohnmächtig geworden, weil alles zu plötzlich jetzt über dich komme, du bräuchtest etwas Zeit, ich würde dich so schnell wie möglich wieder gesund pflegen.“ Europa nickt schwach. „Aber der König will doch sicher noch heute Abend der Gesandtschaft seine Tochter vorführen oder?“ Die Amme hebt ihre Arme hoch, verdreht die Augen, schüttelt den Kopf: „Mein Mädchen, du bist jetzt krank. Da muss dein Vater seinen Empfang verschieben. Sollen sie doch zuerst einfach einmal ordentlich essen und trinken.“

„Und, wo bleibt Europa?“ fragt die Königin unwirsch die Überbringerin der schlechten Nachricht. „Sie wird gleich da sein, Königin. Das jedenfalls hat mir die Amme versprochen.“ Da die Königin heftig mir dem Kopf wackelt, kratzt die Zofe mit dem großem Kamm die Königin sehr unsanft. „Pass doch auf!“ faucht die Königin die erschrockene Frau an, stößt sie verärgert von sich. Am liebsten würde sie die Dumme jetzt noch schlagen, aber da kommt endlich die Amme. Und Europa?

„Wo ist meine Tochter?“ Die Amme, völlig außer Atem, fällt vor der Königin auf die Knie und berichtet von dem argen Unwohlsein Europas. „Wachen!“ ruft die Königin, „führt sie ab, sie muss streng bestraft werden, sie ist an allem Ungemach schuld, der König wird toben vor Wut!“

Nicht viel später – der König hat kurzerhand zwischen Tür und Angel sein Urteil gesprochen – sieht sich die Amme auf einem Schemel im Innenhof der Kaserne der Wachsoldaten stehen. Um ihren Hals spürt sie das straff gespannte raue Seil. Als sie zu fliegen beginnt, glaubt sie ihr Mädchen lachen zu hören. Sie ist also glücklich, denkt sie. Dann schwarze Nacht. Kein Ton. Nichts mehr.