28 Jan

Europa – Meditation # 9

Der Anfang der Wende zum Besseren?

…könnte es sein, dass die nicht ganz unrecht haben, die immer wieder sagen, es müsse wohl erst etwas Schlimmes geschehen, bevor sich die Menschen entschließen, innezuhalten, nachzudenken und dann einen neuen Versuch unter neuen Vorzeichen zu unternehmen?

Wenn das halbwegs zutrifft, dann ist das Schlimme, das Anfang Januar 2015 in Paris geschah, vielleicht auch so ein Moment im schnelllebigen Alltag der globalisierten Welt (von all dem Schlimmen, was gleichzeitig an anderen Orten der Welt geschah, kann gleichzeitig hier nicht die Rede sein. Dieser Ort jedenfalls hört auf den Namen Europa.). Als hätten sich die Bürger verabredet, so tauchen sie auf einmal auf den öffentlichen Plätzen auf – weder Parteien noch Gewerkschaften hatten sie dazu aufgerufen – und mischen scheinbar vertraute Themen völlig neu auf. So als wollten sie zuerst einmal ins Unreine reden und mit- und gegeneinander diskutieren. Jedenfalls erwischen sie dabei die etablierten Parteien und bekannten Medien fast durchweg auf dem falschen Fuß. Da entgleitet die Definition des sogenannten Main-Streams den „Verwaltern“ desselben aus der Feder, den täglichen Bulletins der demokratischen Repräsentanten des Volkes. Was für ein Schauspiel. Impro life!

Der öffentliche Raum wird als gemeinsames Zentrum der P o l i s wieder entdeckt! Als Marktplatz der Meinungsvielfalt, des Austausches, der Pointierung brisanter Themen. Der Bürger wartet nicht mehr auf die Veröffentlichungen, die am Morgen zu lesen sind; er kommt lieber abends gleich selbst zur Sache. Erlebt sich endlich mal wieder als Teil einer größeren Gruppe von Gleichgesinnten, die auch keine Lust mehr haben auf leerlaufendes Gemäkel, auf Genöhle innerhalb der eigenen vier Wände.

Neulich erst konnte man wieder lesen, dass sich die Gewohnheiten der Bürger sehr gewandelt hätten: Er gehe nicht mehr aus, abends seien die kleineren Städte wie leer gefegt, die Kneipen verödeten, keiner stehe mit anderen mehr am Tresen, diskutiere aktuelle Fragen…

Und nun das: Zu Tausenden gleich kreuzen sie einfach so in den Innenstädten auf, reden plötzlich wieder miteinander – und nicht in talk-shows oder politischen Tele-formaten – werden tatsächlich aus passiven Zuhörern zu aktiven Diskutanden, die wohl die Nase voll haben, immer von anderen gesagt zu bekommen – natürlich statistisch massivst belegt – was Sache ist mit Zuwanderung, Sprachkompetenz, Bildungsschieflage seit Jahrzehnten jetzt schon und mit der Rolle der Religion in einem demokratischen Gemeinwesen. Und kommen doch tatsächlich wieder. Gewöhnen sich gerne an das neue Ritual – die leider schon zu ferner Geschichte gefrorenen Sommermärchen scheinen das erfolgreich erprobte Format zu sein – einiges läuft da jetzt wie zu einem warmen Strom zusammen, das bisher in mickrigen Rinnsalen vor sich hin getröpfelt war: Wie aus heiterem Himmel geht es auch der Politik-Verdrossenheit an der Kragen, das Gemauschel hinter verschlossenen Türen der politischen Parteien reicht nun endgültig. Fast siebzig Jahre „Re- education“ in Sachen Demokratie mit Hilfe der Parteien (und nicht zu vergessen mit Hilfe unserer Freunde von jenseits des Atlantiks!) haben scheinbar unbemerkt den Bürger so selbstbewusst werden lassen und so unzufrieden mit den Machern des Demokratie-Spiels, dass er sich darauf besinnt, wie viel direkter das Interessen-Ausgleich-Spiel vom Bürger selbst gespielt werden könnte.

Deshalb zum Schluss die unbescheidene Frage an das Establishment: Wäre es nicht ratsamer, die Bewohner der Polis ihren Marktplatz gerne selber zum politischen Disput nutzen zu lassen, als sie wieder gleich in fertige Begriffspakete zu packen und nach Hause zurückzupfeifen? Was könnte da nicht alles an neuer Teilhabe und Zustimmung zur Demokratie wachsen und gedeihen?

26 Jan

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 8

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 8

Die Gäste stehen in der Halle und warten und warten. Wo ist der König? Da öffnet sich endlich die schwere Flügeltür. Ein Raunen geht durch die Reihen, einige weichen erschrocken zurück. Das Fackellicht glänzt und fließt über dunkle Haut. Die Muskeln darunter gespannt und gewölbt. Sie tragen Käfige aus dickem Bambus. Drinnen ein Pantherpaar, fauchend, knurrend. Da öffnet sich auf der anderen Seite der Halle die andere Flügeltür. Herein tritt der König. Er lacht, breitet die Arme aus und spricht mit lauter Stimme: „Das sind unsere Geschenke für den Bräutigam. Draußen lärmt eine große Ziegenherde, die gehört dazu und vor den Toren weiden noch zwölf junge Stiere. Auch die gehen mit euch fort, wenn ihr meine Tochter zur Hochzeit ihrem künftigen Herrn und König entgegen führt.“ Groß ist das Staunen, noch größer die Stille. Dann stampfen die Gäste mit ihren Füßen auf den glatten Lehmboden, sie kreuzen ihre Lanzenschäfte dabei. Laut klatschen die Holzstangen aneinander. In den Lärm brüllen die Panther hinein. Nun verbeugen sich alle vor dem König, der zu seinem Thron schreitet. Die schwarzen Sklaven liegen längst bäuchlings auf dem Boden. Ihnen ist es verboten, den König anzuschauen. Der ist zufrieden. Leise Trommelwirbel jetzt und Flötentöne. Agenor denkt: Europa wird mir fehlen. Das stolze Kind. Mit meinen jungen Nebenfrauen will ich neue Söhne und Töchter zeugen. Die Königin, meine Frau, werde ich nicht mehr anrühren. Sie ekelt mich an. Und sie ist allzu herrisch. Das gefällt mir nicht. Ich hätte die Amme verschont. Sie aber eiskalt das Todesurteil fordernd. Wenn Europa fort ist, soll die Königin sterben. An Kummer, werde ich sagen, an Kummer, weil ihre Tochter so weit weg von ihr ist. Ich kann nicht länger unter einem Dach mit ihr leben. Während er insgeheim diese Entscheidung trifft, lächelt er hinunter zu seinen staunenden Gästen, winkt mit gönnerhafter Geste, nickt dabei ab und an und lässt so alle meinen, er sei völlig zufrieden mit sich und seinem König Sein. Die Halle gefüllt mit dem strengen Geruch der wilden Tiere. Das gefällt Agenor nicht. Daran hatte er nicht gedacht. Plötzlich schlecht gelaunt gibt er seinem Zeremonienmeister ein Zeichen. Der zittert, verbeugt sich mehrmals und zischt die Sklaven an, sofort die Käfige hinaus zu bringen. Die springen lautlos auf, packen die dicken Bambusstangen und verlassen im Laufschritt die Halle. Warum tue ich mir das nur an, fragt sich der König, warum? Der Geruch der Panther und der Gedanke an seine Frau verstimmen ihn völlig. Der junge Mann in meinem Traum hat nichts gesagt von Gestank. Auch er hat mich also betrogen. Niemandem kann ich trauen. Agenor schnellt hoch von seinem Thron, die Gäste verbeugen sich hastig und verstört. Angst quillt in ihre Augen hinein. Was hat das zu bedeuten? Und schon hat der König die hohe Halle verlassen.

Die Königin betrachtet angewidert ihre Tochter. Sie ist so schwächlich. Von wem hat sie das nur? Ich lasse sie jetzt einfach ausschlafen. Die Königin spürt einen spitzen Schmerz unter ihrem Herzen. Europas Entsetzen behagt ihr gar nicht. Die Amme scheint ihr wichtiger zu sein als sie, die Mutter. Gut, dass ich mich durchgesetzt habe: Die Amme hat den Strang völlig zu Recht verdient. Agenor, der Zauderer, hätte sie sicher lieber begnadigt. Dieser Schwächling. Sie verlässt leise und zornig den Raum. Die Gäste dürfen auf keinen Fall etwas von Europas Schwächeanfall mitbekommen. Und Agenor auch nicht.

Europa wandelt währenddessen längst durch einen hellen, leichten Traum. Sie spricht dabei mit ihrem Vater. Das Gehen ist so leicht, das Lachen auch. Am Ufer kräuseln sich kleine Wellen, zahllos zart aneinander gekettet schieben sie zarte Schaumberge vor sich her. Europa hört ihre eigene Stimme. Aber sie ist ihr fremd. Ein Schauder läuft über ihre Haut. Ihre Füße aber genießen den weichen warmen Sand am Strand. „Vater, der Mann, der dir im Traum erschienen ist, der efeubekränzte, den kenne ich. Ja, wirklich, wir haben uns neulich am Strand getroffen. Er wollte sicher, dass du ihn kennenlernst. Oder war er versehentlich in den falschen Traum gerade.? Wie ein farbenprächtiger Falter, der sich bei der gelben Blume vertan hat? Denn eigentlich wollte er doch zu mir, zu Europa. Er will doch nur sagen, dass er – wie abgemacht – bei Neumond zurückkommt, um mich abzuholen. Doch völlig überrascht, dass er im falschen Traum gestrandet war, hat er sich schnell die Geschichte mit den Stieren, der Ziegenherde und dem Pantherpaar ausgedacht.“ Da lachen Vater und Tochter erleichtert. Ach so ist das. Mein Traum ist also ein falscher Traum, es sollte eigentlich deiner werden, Europa. Ein Bilderrätsel, natürlich! Europa, du hast es gelöst!

21 Jan

Europa – Meditation # 8

Sommermärchen war gestern, Wintermärchen ist heute. Teil zwei.

Selbst im Englischen gibt es einige Wörter aus dem Deutschen, die nicht übersetzt werden müssen, so deutsch sind sie eben…wie „Kindergarten“…oder „Götterdämmerung“ oder „Hausfrau“ oder „Hamburger“ oder „Autobahn“ oder „Gemütlichkeit“ oder „raus“…oder andere. Ähnlich könnte es mit dem Wort Märchen sein, das dem Deutschen beim Benutzen wie Marzipan auf der Zunge zergeht. Da ist Sommer-Märchen natürlich auch eine süße Kombo. Aber warum spricht man eigentlich seit 2006 von einem Sommermärchen und nicht von einem Sommertanz oder Sommerball oder Sommerglück oder Hammersommer? Gehört doch das Märchen schon immer in die Welt des Vorgestellten, des Fiktionalen. Zwar ist es in der Literatur eher eine kleine Gattung, scheint aber in der Wirkung dennoch bleibend übergroß zu sein – bei jung und alt. Und was 2006 geschah, war wohl eine echte Überraschung für die Zeitgenossen in Mitteleuropa, aber beileibe keine bloße Vorstellung, Einbildung. Nein. Dieses völlig neue Lebensgefühl wurde binnen einiger Wochen zu d e r überraschenden Alltagserfahrung. Da gab es zwar noch nicht den präsidialen Satz vom Islam, der zu Deutschland gehöre, aber bunt war die Welt an Rhein, Weser und Oder auch damals schon. Man hatte sich zwar immer brav auf Distanz wahrgenommen, schätzte sich jedoch eher nicht. Bis, ja bis eben 2006 auf einmal auf den Straßen – bisweilen sogar mit Glanz in den Augen – über „unsere Jungs“ gefachsimpelt wurde, in Hochdeutsch, Dialekt und auch fließend falsch. Plötzlich hatte man ein gemeinsames Thema, identifizierte sich mit den gleichen Leuten, dem gleichen Spiel, den gleichen Hoffnungen, dem gleichen Stolz und stellte wohl unausgesprochen fest: Eigentlich sind wir doch alle gar nicht so verschieden, wie wir immer tun – trotz aller Unterschiede. Und 2010 und erst recht 2014 wurde dieses frische Blümchen weiter ordentlich begossen, dass es blühe und gedeihe, was es auch überbordend tat. Es ist also gar kein Märchen, es sind wirkliche Gefühle, wirkliche Erfahrungen und wirkliche Erlebnisse. Vielleicht war und ist es einfach nur die alte Angst vor dem Fremden, die da nicht nachgeben will und wollte. Und dann kam auch noch der siebte Januar 2015 über Paris! Wasser auf die Mühlen dieser Ängste, klar. Und schon stecken wir plötzlich in einem Wintermärchen. Schon wieder Märchen? Nein, danke. Es ist kalt, die europäische Vielfalt muss sich kalte Fragen gefallen lassen. Wie aus einem schönen Traum scheint man aufgewacht zu sein und starrt auf eine Wirklichkeit, die alles andere als märchenhaft erscheint. Und viele neigen vielleicht dazu, unangenehme Erfahrungen und Wahrnehmungen so zu deuten, dass beim Gegenüber der Hase im Pfeffer liegt. Früher – also vor der Zeit der drei Sommer-Märchen – hatte man höchstens am Tresen oder vor dem eigenen Fernseher oder in der Mittagspause über Politik geschimpft oder gerechtet und zumeist waren fremde Faktoren ausschlaggebend für ein vernichtendes Urteil, das man solidarisch fällen wollte. Denn vor lauter Maloche blieb ja gar keine Zeit für Aufläufe. Bis, ja bis einige eben einfach anfingen auf die Straße zu gehen, um ganz öffentlich zu sagen, was man denkt – wie früher eben im Sommer auch. Gut, damals ging es um Sport, jetzt geht es um Politik. Aber wir müssen einfach öffentlich darüber reden, woher wir eigentlich kommen, wer wir sind und wohin wir gehen wollen. Was meinen wir eigentlich, wenn wir mit glänzenden Augen (auch nicht immer!) von Europa reden als unserem Kulturraum, als unserer Lebenswelt, die wir schätzen und zu kennen glauben? Diese historische Vielfalt macht einen ja eher ganz schwindlig. Da beschränkt man sich lieber auf die regionalen Gegebenheiten. Warum auch nicht? Denn sie sind alle vernetzt miteinander durch Zeit und Raum in der europäischen Geschichte, von den Anfängen bis heute. Das müssen wir uns nur wieder klar machen. Nach und nach sich besinnen auf das oft schmerzhafte Werden dieser kulturellen Buntheit, Gegensätzlichkeit und Andersartigkeit. Der kulturelle Stolz hat seine Fundamente stets im Besonderen, im Einzigartigen – in den Gemeinschaften wie in den einzelnen Individuen. Drum ein kleiner Rat zum Abschluss: Lassen wir doch gerne die Leute auf die Straße gehen und öffentlich sagen und zeigen, was sie fürchten, was sie mögen, was sie politisch eint! Wie könnte man sich das denn vorstellen? Achtundzwanzig breite Alleen führen sternförmig auf den riesigen europäischen Marktplatz der Meinungsbildung, wo diese verschiedenen Ängste und Hoffnungen zusammenfinden, sich zuhören, aufeinander eingehen und dann in fair ausgehandelten Kompromissen Grundpfeiler für eine friedliche, gemeinsame, europäische Zukunft zu bauen. Das wäre dann in der Tat märchenhaft schön. Der Anfang ist bereits gemacht. In aller Öffentlichkeit.