20 Jan

Europa – Meditation # 7

Sommermärchen war gestern, Wintermärchen ist heute.

So könnte man es sehen. Vielleicht. Was hat man sich damals gefreut, abends 2006 mit wildfremden Menschen zusammenzustehen, zu lachen, zu fachsimpeln, zu trinken, ja sogar zu tanzen und zu singen. Das hatte man sich davor überhaupt nicht vorstellen können, dass der sogenannte Durchschnittsdeutsche bei einer solchen Herzensangelegenheit mit Fremden gemeinsame Sache macht. Das nun wirklich nicht. Und dann ist es doch passiert. Und nicht nur einmal, nein, es wurde glatt eine kleine Gewohnheit daraus, man sah sich wieder, grüßte sich, jetzt schon richtig freundlich, Sprachprobleme waren plötzlich überhaupt kein Problem mehr. Man verständigte sich mehr über die Gefühlsschiene, und die ist ja sowieso nie eindeutig in Worte zu fassen. Man war sogar ein bisschen traurig, als es vorbei war – nein, nicht nur wegen der Niederlage, nein, sondern auch – oder vielleicht sogar deswegen besonders – wegen der guten Abendstimmung, da hätte man sich glatt dran gewöhnen können. Und rückblickend wird daraus sowieso noch ein viel rosigeres Bild, ist doch klar. War einfach klasse, die gemeinsame Sache.

Gut, es ging nur um Fußball, aber immerhin, das war ein vielversprechender Anfang. 2010 und 2014 wurde einfach weiter geübt und weiter gelacht und getrunken und getanzt. Nicht nur die Mannschaft war völlig inhomogen, nein, auch jedes Treffen draußen auf dem Marktplatz oder wo auch immer war so bunt gemischt, dass es eine reine Freude war. Tja, jetzt aber geht es ums Eingemachte, jetzt mitten im lauen Winter 2015 im alten Europa. Und es ist ja beinahe nicht zu fassen, da entsteht wieder so etwas wie ein Märchen, ein Wintermärchen sozusagen. Zum Thema Märchen später noch ein paar Anmerkungen. Jetzt aber erst mal zu den derzeitigen Winterspaziergängen in verschiedenen europäischen Städten, meistens abends, manchmal aber auch am helllichten Wintertag. Was ist da nur in die Leute gefahren? Es ist kalt, es regnet, es stürmt, jedenfalls alles andere als gemütlich. Warum bleiben die Leute, diese sehr verschieden bunt gemischten Gruppen denn nicht einfach zu Hause, vor dem Fernseher oder vor ihrer sonstigen elektronischen Ausstattung? Da wäre es zumindest wärmer, trockener und auch stiller. Was sind das denn für Europäer? Könnte es sein, dass sie keine Lust mehr haben auf das vereinzelte Konkurrenzleben zu Hause, an der Tankstelle, in der Einkaufsmeile oder in ähnlichen kalten Menschenansammlungen, wo man mit seinem Poker-face zeigen muss, was man so drauf hat, finanziell und als Power-Individuum, das sowas von unverwechselbar einmalig daherzukommen hat, dass den neidisch mit schnellem Blick daran vorbeiwitschenden Restmenschen der Atem stockt? Sprachlos natürlich – die Sachen, die man anhat oder die man bei sich hat oder mit denen man sich lässigst fortbewegt, sagen doch alles. Warum noch kommentieren? Die hoffentlich neidischen Blicke der anderen sind Siegkommentar genug, oder? Könnte es sein, dass in denen die große Angst umging, ob man nicht auf dem völlig falschen Dampfer angeheuert habe? Könnte es nicht sein, dass sich in denen die große Sehnsucht nach wirklichem Leben mit wirklichen Menschen

ungestüm zu Wort meldet, weil man mal wieder darüber reden sollte, was eigentlich Sache ist. Was ein sinnvolles Leben sein könnte, was angesichts der nicht zu übersehenden Sterblichkeit aller in der verbleibenden Zeit denn nun lohnend sein könnte zu leben! Und da liegt es sicher nahe, zuerst einmal darüber zu reden, wo man denn eigentlich herkommt. Aus welcher Familiengeschichte, aus welcher Landesgeschichte, aus welcher großen Geschichte. Da ist Europa nun in aller Munde. In vielen Sprachen, in prallen Bildern und strahlenden Begriffen. Klar. Da kommen wir her. Nun wird heftig durcheinander geredet, jeder weiß es besser, manche wollen gar nicht mit sich reden lassen, manche reden überhaupt zum ersten Mal bewusst darüber. Ist doch gut so. Besserwisser werden schnell langweilig, werden bald übertönt von hartnäckigen Fragern, von sehnsüchtigen Freiheitsliebhabern und Rechtsstaatsfans. Gut so. Das wird sicher dauern, bis aus diesem chorischen Durcheinander ein für alle tragfähiger basso continuo, ein wohltuender Ohrwurm werden kann. Aber so ist es doch mit allen Dingen, die einem wichtig sind: Die fallen eben nicht einfach mal so vom Himmel, die sind eben nicht schnell einfach dahingesagt, das braucht einfach Zeit. Aber es ist ein toller Anfang. Voll mit Gefühl und voll mit Elan und zusammen mit den anderen. Wäre doch gelacht, Europa!

04 Jan

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 7

Schwelgen in falschen Hoffnungen

Stimmen, aufgeregte, schwirren durch hohe Gänge. Schattenspiele huschen über glatte Wände. Der König wird gleich die Abgesandten empfangen und ihnen stolz seine Geschenke vorführen. Die Königin aber auf dem Weg zu ihrer Tochter Europa. Sie muss ihr die Nachricht von der Hinrichtung ihrer Amme bringen. Sehr gemischt die Gefühle der Mutter dabei. Wie wird sie es aufnehmen? Das fragt sich gerade auch der König, als er den Gästen einen Wink gibt, sich wieder zu erheben. Sie hatten sich alle gemeinsam vor seinem Thron flach auf den Boden gelegt. So erweisen sie ihm die gebührende Ehre. „Die Götter haben euch eine glückliche Reise gewährt. Das ist ein gutes Zeichen. Ihr seid erschöpft,das sehe ich wohl. Gleich gibt es reichlich zu essen und zu trinken. Vorher aber“, hier macht Agenor gezielt eine kleine Pause; gleich wittern die Fremden Verrat, Unheil. Er sieht es mit heimlicher Schadenfreude an ihren großen Augen. „Vorher aber“, fährt er langsam, sehr langsam fort, „ muss ich euch überraschen.“ Schade, dass ich nicht sehen kann, was sie jetzt denken, denkt Agenor und macht erneut eine Pause. Diesmal sogar etwas länger. Gut vernehmlich atmet er kräftig durch die Nase ein, zieht dabei die Mundwinkel grinsend nach unten, wölbt die Lippen, gibt mit der Rechten ein Zeichen. „Bringt sie herein!“ ruft er den Dienern an der dicken Doppeltür zu. Erschrocken drehen sich die eingeschüchterten Männer zur Tür hin um.

Ich muss es tun, redet sich die Königin gut zu. Europa liegt auf dem Bett, atmet kaum merklich aus und ein. Genau wie eben der Vater, so setzt sich jetzt die Mutter an ihr Bett, berührt vorsichtig ihre Hand und wartet. Die Königin ist froh, dass ihre Tochter nicht gleich aufwacht. Das gibt ihr selbst noch etwas Zeit zum Überlegen. Europa kommt in diesem Augenblick aus ihrem Traum zurück. Sie hatte wieder mit dem Fremden am Meer gesprochen. Er war also erneut gekommen. Umso überraschter ist sie nun, die Stimme ihrer Mutter zu hören. „Europa“, flüstert die Königin, „du musst jetzt ganz stark sein.“

Durch die Flügeltür kommen nun vier Diener herein, zu zweit tragen sie – wie in einer geschlossenen Sänfte – zwei fauchende Panther herein. Raunendes Erstaunen geht durch den Saal. Der König ist sehr zufrieden mit seiner Überraschung. „Nun, das ist nur der kleinste Teil von unseren Geschenken, die wir unserer Tochter Europa mit auf die weite Rückreise geben werden. Passt gut auf sie auf, euer König soll sie wohlbehalten in Empfang nehmen können.“ Das Raunen wandelt sich sofort in einen tiefen Beifallston, schließlich stampfen alle mit den Füßen. Agenor fühlt sich geschmeichelt. „Leider kann unsere Tochter am Gastmahl heute Abend nicht teilnehmen. Ihr ist nicht wohl. Euch aber sollen trotzdem die Speisen und Getränke munden, lasst euch also zu euren Plätzen im Esssaal führen.“

„Mutter, was meinst du damit?“ fragt Europa matt. „Weil die alte Amme es versäumt hat, den Anschlag auf dich zu vereiteln…!“ „Mutter, was für ein Anschlag, wovon redest du?“ fällt ihr Europa entsetzt ins Wort. „Nun, du weißt schon, was ich meine. Sie muss jedenfalls dafür bestraft werden.“ „Bestraft? Bitte, Mutter, sag, dass ich träume, dass du das gerade gar nicht gesagt hast, bitte!“ „Nein, es ist kein Traum. Sie ist schon unter der Erde.“ Als würde jemand sie wütend würgen, so kam die Atemnot über Europa blitzschnell und erbarmungslos. Ihr schwinden die Sinne. Ihr Kopf fällt zurück. Die Mutter schreit auf: „Europa, reiß dich zusammen, wir wollen nur dein Bestes. Außerdem war sie doch schon so alt und gebrechlich. Es ist gut so für sie, glaub mir.“ Da sind aber längst die Sinne ihrer Tochter geschwunden. Eine tiefe Ohnmacht erlöst sie aus ihrem großen Schmerz um den liebsten Menschen, ihre Amme, die sie doch gerade erst vor dem Tod gerettet hatte. Aber in eben demselben Augenblick, als ihr die Sinne schwinden, der Schmerz sie übermannt, jagt noch ein wilder Gedanken durch ihren wüst tobenden Kopf: Ich hasse euch, ich werde euch diesen Schmerz heimzahlen. Ich hasse euch. Freundlich empfängt sie da weich tiefe tonlose Dunkelheit.