25 Feb

Europa – Meditation # 10

E u r o p a die weitsichtige, die mit dem guten Blick

Jeder Name, jeder Ort und jedes Meer, sie alle haben bilderreiche Geschichten zu erzählen – von eigenem Wollen, von stolzem Beharren und mutigem Neubeginn auf diesem kleinen Erdteil. Die Menschen geben eben schon immer bewusst oder unbewusst den Dingen bedeutungsschwere Namen, um sie so zu beschwören oder zu beherrschen, zumindest im Namen eben. Schon der erste Name – E u r o p a – lässt sich vielfach übersetzen und deuten: „Die Frau mit der weiten Sicht/also eine weitsichtige Frau“ wäre wohl eine naheliegende Übersetzung dieses griechischen Namens; und schon kann das wilde Deuten beginnen: aha, eine weitsichtige Frau, klar, die ist klüger als andere, weil sie nicht blind ist für das, was da noch alles kommen könnte und bereits schon kommt, vor den eigenen Augen oder im übertragenen Sinn, die im Nachdenken eben weiter blickt als nur auf den Tag, den Augenblick, das Jetzt! Also eine vorbildliche Frau am Anfang der mythischen Erzählung des „Woher kommen wir?“ Und ein Mann, der sich ihr zu nähern versucht, mit listenreicher Vorsicht. Da stellt sich aber gleich die nächste Frage: Wie kann eine solche Frau auf den Verwandlungstrick eines geilen Gottes – warum nicht auch einmal als Stier anlanden? – hereinfallen, wenn sie so weitsichtig, so klug ist? Ist sie gar nicht. Denn dem unterlegenen Mann war es gelungen, die Geschichte anders erzählt weiter zu geben, damit er der vorbildliche, der starke, der erfolgreiche sein konnte. Wie ihm das gelungen ist? Das ist ein weites Feld, würde der alte Briest sagen, denn selbst noch in den klugen und sehnsüchtigen Augen seiner Tochter Effi lässt der Dichter Fontane einen zeitlosen Rest jener Weitsicht und Friedfertigkeit und unbändigen Lebensfreude aufblitzen, wenn man es beim Lesen des Romans zulassen will…Friedfertigkeit und Gewaltbereitschaft, das scheinen seit je die beiden Portalfiguren der europäischen Geschichte gewesen zu sein. Oder anders formuliert: Europa ist schon immer die Verkörperung des Friedens und der Lebensfreude gewesen und Zeus die Verkörperung von Machtanspruch und Gewaltbereitschaft. Die Brücke, über die beide aufeinander zu gehen werden, ist die Lust, die in dem pulsierenden Gebaren der menschlichen Sinne wohnt. So weit, so gut.

Aber warum hat fast durchweg in der Geschichte Europas die Gewaltbereitschaft die Oberhand gehabt und nicht die Friedfertigkeit?

Begünstigt durch das gemäßigte Klima, den fruchtbaren Boden, die vielen Flüsse, Gletscher, Berge und Täler – von wogenden Wäldern, weiten Feldern und fischreichen Küsten ganz zu schweigen – blühten vielfältige Sprachen und Kulturen, missgünstig an den Rändern beäugt von fremdländischen Scharen, die an solchem Blühen und Wachsen liebend gerne teilgenommen hätten. So war die Bereitschaft zur Verteidigung in all den Jahrhunderten selbstverständlich, richtete sich aber immer wieder auch gegen die eigenen Leute, die Veränderungen, Verbesserungen, Verschönerungen ihrer Welt wollten.

Die Gewaltbereitschaft musste sich nicht mehr rechtfertigen. Schmerzliche Erfahrungen in der Vergangenheit des eigenen Volkes gaben scheinbar denen recht, die sie nicht nur nach außen, sondern auch nach innen, ja bis in die großen Familien hinein anzuwenden bereit waren. Laut tönte und tönt ihr Credo: Sind wir nicht wehrhaft, nicht wachsam und gewaltbereit, befördern wir den eigenen Untergang. Dem müssen sich Lebensfreude, Friedfertigkeit und Sinnenlust demütig unterordnen.

Und die weitsichtige Frau? Oder noch besser übersetzt: Die Frau mit dem guten Blick?

Ihr Credo soll also widerlegt sein? Nein. Jetzt erst scheint ihre Epoche anzubrechen: Wieder bahnen sich an den Rändern Gefahren an, wächst herrschsüchtige Gewaltbereitschaft. Sie gestattet erstmals allen Völkern dieses Erdteils sich glückhaft klar zu machen, dass es lauter verwandte Gruppen sind – vielfältig in Sprache, Kultur und Geschichte, aber einig im friedfertigen Miteinander – , die sich nicht mehr gegenseitig belauern, bemisstrauen müssen, denn die Täler der Tränen in der gemeinsamen Geschichte seit jener Begegnung Europas mit dem listigen Zeus sind einfach zu sehr gefüllt mit Toten, Trauer, Unglück, Zerstörung und Vernichtung. Es reicht einfach. Wie ein befreiendes Aufatmen könnte diese neue Erkenntnis sein: Es ist eine lange und harte Lehre gewesen, nun ist sie um.

Und erstmals könnten ungetrübte Lebensfreude, Lust der Sinne im Spiel der Geschlechter wachsen, blühen, weil die Verschiedenheiten nun als beglückende Andersartigkeiten erlebt werden dürfen –  denn Denken und Fühlen sind durch ein langes Wechselbad der gemeinsamen Kulturgeschichte Europas gegangen – die Gewalt hat sich als nicht tauglich erwiesen. Um Europa herum ist es allzu offensichtlich, wie mörderisch sich solch ein gewaltbereites Konkurrieren der Völker gebärdet.

Und um die alte Geschichte von der scheinbar gewaltsamen Entführung Europas wieder unter dem Schutt und der Asche vergangener Jahrtausende freizulegen, wird in diesem blog ihre Geschichte neu nacherzählt, wie sie sich wirklich zugetragen haben könnnte…

08 Feb

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 9

Europa – wie sie den wüsten Streit ihrer Eltern belauscht

Während in dem hohen Raum, in dem immer noch der Schweißgeruch der beiden Panther in der Luft schwebt, Fleisch auf langen Spießen für die Gäste gebraten wird und die Becher überschwappen von anregenden Getränken und nach und nach auch wieder lärmendes Gerede und Gelächter an- und abschwillt, ist es in den Gängen des Palastes eher düster und bedrohlich still. Nur da, wo sich Flure kreuzen, hängen auch flackernde Fackeln in geflochtenen Weidenrohren an der Wand. Die Flammen zaubern Fratzen, zuckende, als lautloses Schattenspiel an Decke und Wände. Ein übles Treiben. Ja, und es soll ein Augenblick werden, den die Götter selbst befohlen haben müssen, so unwahrscheinlich müsste er jedem erscheinen, der ihn hätte miterleben können. Aber da ist niemand. Außer dem König, der Königin und Europa.

Agenor, der sich unbeobachtet fühlt an einer der vielen Flurgabelungen, redet gerade auf eine finstere Gestalt ein. Der König will gar nicht erst lange zaudern: Sein Plan soll sofort umgesetzt werden. Für ihn ist die Königin schon tot. Wo hatte er nur das Säckchen mit den Münzen her? Jetzt wandert es blitzschnell aus seiner in die Hand des Meuchelmörders. Kurzer Blick des Königs den Flur hinauf. Vom hohen Saal wehen weich wie Watte Stimmen, Lachen, Singen, Töne zu den beiden Gestalten hin. Sollen sie nur feiern. Niemand sieht und hört die heimliche Verabredung, denken gerade beide. Aber sie täuschen sich. Genau aus entgegengesetzter Richtung war eben die Königin gekommen – noch ganz in Gedanken bei Europa, der widerspenstigen Tochter. Dann hatte sie die beiden Gestalten im Dämmerlicht erspäht. Misstrauisch und neugierig zugleich hatte sie sich herangeschlichen. Jetzt steht sie nicht weit von den beiden Männern entfernt unter einem Türsturz und spitzt die Ohren, erkennt ihren Mann. Doch nicht nur die Königin ist wie eine Späherin unterwegs, nein, auch Europa hatte es nicht mehr in ihrem Raum gehalten. Die Nachricht vom Tod ihrer Amme hatte sie so aufgewühlt, dass sie einfach nicht liegen bleiben konnte. Hochfahrend aus ihrem Traum, in dem sie mit ihrem Vater gesprochen hatte, beschließt sie, erneut heimlich zum Strand zu laufen – so schwach sie auch noch auf den Beinen sein mag, es muss sein – und schleicht sich ebenfalls durch die menschenleeren Flure. Auch sie hört von weitem den Lärm vom Gelage der Gäste, auch sie glaubt, als einzige hier unterwegs zu sein, bis sie zwei Gestalten an einer Gabelung sieht. Sie hält an, lauscht. Ihr Herz, das sowieso schon schnell und heftig schlägt, schmerzt ihr in der Brust. Da verschwindet einer der beiden nach rechts. Der andere wendet nun den Kopf in ihre Richtung, und da meint sie ihren Vater zu erkennen. In dem Augenblick, als sie schon überrascht rufen will: „VATER!“, löst sich aus dem Dunkel der Wand vor ihr eine andere Gestalt, die zum Vater läuft und ihn zur Rede stellt. Ihre Mutter. Ihr Kopf völlig leer, plötzlich. Angst stürzt durch ihren Körper. Was geht hier vor? Da hört sie aber auch schon die Stimmen der Eltern: „Wer war das, Agenor? Sag mir sofort, mit wem du da gesprochen hast!“ „Schweig, Weib, geh in deine Gemächer, ich habe zu tun!“ Europa will dazwischen gehen, da ist aber schon wieder die schrille Stimme der Mutter: „So lasse ich nicht mehr mit mir reden. Stärke zeigst du wohl nur noch im Dunkeln mit zwielichtigen Gestalten, nein…!“ Da sieht Europa, wie ihr Vater auf die Mutter losstürmt, sie würgt, schüttelt und anzischt: „Ich könnte dich jetzt töten, Frau! Wenn ich wollte, aber ich will nicht!“ Die Königin röchelt und wehrt sich nach Leibeskräften. „Lass los, Du Vieh!“ kommt es heiser aus ihrem Hals heraus. Wie gelähmt hört und sieht Europa zu, wie ihre Eltern sich behandeln. Sie will nicht mehr dazwischen gehen. Nein. Sie ist froh in ihrem Entsetzen, dass sie diesen Streit miterlebt hat. Sie war sich schon vorher sicher, dass sie fliehen muss. Die Gewalt, die die beiden sich vor ihren Augen und Ohren antun, ist ihr so zuwider. Und da ihr unversehens in diesem Moment auch wieder der Fremde in den Sinn kommt – wie kann das sein? Die Göttin selbst muss mir dieses rettende Bild geschickt haben, so geht es wie ein beglückendes Zucken durch ihr Hirn. Ja, es hat alles einen Sinn. Auch dieser Streit, denkt Europa. Sie ist auf einmal ganz ruhig. Ihr Atem tut ihr gut. Tief atmet sie ein und aus. Langsam und leise weicht sie zurück, will das Ende dieses Streites ihrer Eltern gar nicht mehr miterleben. Sie eilt davon.

Der König wuchtet da gerade mit aller Kraft die Königin gegen die Wand. Ihr schwinden kurz die Sinne, als sie entkräftet zu Boden sinkt. Agenor betrachtet sie angeekelt und verächtlich. Und immer noch außer Atem stößt er voller Hass hervor: „Weib, deine Stunden sind gezählt, fürwahr!“