10 Mai

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 14

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 14

So hat sich der selbstbewusste Mann noch nie erlebt: verlegen, linkisch, nervös und ja sogar irgendwie verunsichert. Irgendwie? Nein, nicht irgendwie, diese junge Frau ist die Ursache, die da mit einem strahlenden Lächeln auf ihn zukommt. Hat die denn gar keine Angst? Alleine am Strand mit einem wildfremden Mann? Das ist ihm noch nie passiert. Aber bevor er wohlgefällig all seine früheren Eroberungen Revue passieren lassen kann, um sich wieder an sein sonst überbordendes Selbstvertrauen zu erinnern – die Frau und der Mann sind nur noch wenige Schritte voneinander entfernt – fährt es ihm wie ein Blitz durch den Kopf: Wie stelle ich mich ihr denn vor? Und dann mein halbherziges Winken eben. Wie wird sie es gedeutet haben? Sein Kopf ist plötzlich völlig leer. Mir fehlen die Worte, denkt er erschrocken. Mir. Zeus. Da stimmt etwas nicht. Ob Hera hinter dieser Panne steckt? Hat sie mich in eine Falle gelockt? Es gelingt ihm so gerade noch ein vorsichtiges Lächeln. Ein wohlwollender Betrachter könnte es als anmutig auslegen, ein strenger dagegen eher als misslungen. Jetzt hör aber auf, schimpft er mit sich, wer ist sie denn schon? Eine kleine – gut, zugegeben, eine wirklich anziehende – Prinzessin aus gutem Hause. Weiter nichts. Also, was soll das zögerliche Gebaren, mein Lieber? Schluss und mach es einfach wie immer…

Europa ist wunderbar aufgeregt und spürt ihr Herz klopfen bis zum Hals. Was für ein Bild! Ja, er ist es, mein Fremder. Er hat Wort gehalten. Dafür werde ich ihn königlich belohnen, denkt sie überglücklich. Aber er soll nicht meinen, dass er einer völlig fremden Frau nur zu winken braucht, und schon schmilzt sie dahin. Nein, nein, nein. Ich will diese Augenblicke genießen, jeden einzelnen. Die fremde Stimme, den fremde Geruch, die Gesten, die Farbe der Augen…alles. Ich will nichts überstürzen. Also bleib stehen! Warte! Spiele ihm Geduld vor, obwohl du alles andere als geduldig bist, rät sie sich. So bleibt sie nicht weit von ihm entfernt stehen. Fliegt nicht in seine Arme, so sehr sie auch möchte. War das ein Rat ihrer Göttin oder ist sie selbst auf diese quälende Idee gekommen? Sie weiß es nicht. Aber sie hat sich entschieden. Sprachlos stehen sie nun voreinander. Atmen heftig aus und ein. Schließlich waren sie eben noch wie kleine Kinder aufeinander zu gelaufen. Dann stellt sie die erste Frage: „Warum kommst du mit einem Floß und nicht mit einem großen Segler?“ Kaum hat sie es gesagt, würde sie es gerne rückgängig machen. Zu spät. Der Fremde hebt langsam beide Arme, die Hände nach oben gewendet, und lässt es bei dieser stummen Geste. Europa könnte sich ohrfeigen für ihre dumme Frage. Was denkt er jetzt von mir? Schiff oder Floß, das ist doch völlig unwichtig. Wie er da so mit ausgebreiteten Armen vor ihr steht, sie anstarrt und nichts sagt, ist Europa vor Begeisterung einer Ohnmacht nahe. Für einen Augenblick spielt sie mit dem Gedanken eine Ohnmacht zu spielen. Dann würde er sie auffangen, sie läge in seinen Armen, die dumme Frage wäre wie nichts von der Vergangenheit verschluckt. Fast lautlos laufen die kleinen Schaumwellenberge hinter ihm im Sand aus, eine kaum merkliche Brise kühlt ihre heiße Haut, jetzt treffen auch die Sonnenstrahlen weit hinter ihm das Meer. Es kommt ihr vor wie in einem Traum. Die fast vollkommene Stille wirkt unwirklich. Der Blick in diesen jungen Tag mit dem fremden Mann direkt vor ihr ist wie lebendige Schönheit, wie zeitloses Glück, wie…Europa fällt nicht in Ohnmacht, sie spielt auch keine. Sie will ihm nichts vormachen, sie will nur behutsam sein, damit nichts in diesem wunderbaren Bild zerbricht.

Ich bin gerettet, sie gibt mir Gelegenheit, mich zu erklären, denkt der Fremde. Und ohne viel nachzudenken, kommen ihm die Wörter wie von selbst entgegen und helfen ihm beim Sprechen. Als er langsam die Arme wieder sinken lässt, weiß er, was er sagen will: „Schöne, es sind große Zedernstämme, die jedem Sturm widerstehen können. Dieses Floß wird uns jederzeit sicher dahin bringen, wohin wir wollen. Ein großes Zelt darauf – um den Mast in der Mitte herum gebaut – wird uns vor Regen oder Wind schützen. Proviant ist auch da. Es ist ein Geschenk.“ Der sonst so redegewandte mächtige Mann ist froh, dass ihm wenigstens diese wenigen Sätze eingefallen waren. Und sie tun ihre Wirkung, das sieht er. Auf ihrem freundlichen Gesicht breitet sich unbändige Freude aus. Sie seufzt. Als sie zu jauchzen beginnt, hält sie die Hände vor den lachenden Mund und wagt einen weiteren Schritt auf ihn zu. Und er wagt es auch.

04 Mai

Europa – Meditation # 13

E u r o p a – M e d i t a t i o n # 13

In diesen Tagen sieht man als Europäer in den Tageszeitungen und Journalen immer wieder auch Karikaturen von Schiffen mit Flüchtlingen, die an den Küsten Europas wortgewandt abgewiesen werden. Schiffe mit Flüchtlingen – es ließe sich geradezu eine Geschichte Europas erzählen entlang von Flüchtlingsschiffen; allerdings gefüllt mit Europäern, die an fremden Gestaden Zuflucht suchen. Auch diese europäischen Flüchtlinge hatten jahrelang all ihre Ersparnisse zusammengekratzt, um die lange und gefährliche Überfahrt bezahlen zu können. Schon vergessen? Nun, widmen wir uns kurz einer kleinen Rückblende! Immer sind es Schiffe, die europäische Häfen verlassen, immer sind sie voll beladen mit Frauen, Kindern, Männern, alten wie jungen, alle voller Hoffnung auf einen Neuanfang in einer neuen Welt, die weniger ungerecht, weniger chancenlos und weniger krank machend sein soll. Arbeit soll es da geben, Land und vor allem keine Ungleichheit zwischen den Menschen – alle frei geboren, alle gleichberechtigt und niemand wird dort wegen seines Glaubens verfolgt, niemand. Was für glückliche Aussichten!

Und so fahren seit dem 17. Jahrhundert von Irland, von England, vom europäischen Kontinent Schiffe voll mit Flüchtlingen in die sogenannte Neue Welt – Jahr für Jahr, Jahrzehnt für Jahrzehnt. Im 19. Jahrhundert werden es immer mehr, die aus Mitteleuropa, aus Italien, Griechenland, aber auch aus Polen und Russland die gefährliche Reise auf sich nehmen, weil ihr Leben daheim nicht mehr lebenswert ist.

Und so viele kommen gar nicht erst an in der Neuen Welt: Sie sterben unterwegs an Krankheiten und Auszehrung. Und manche Schiffe gehen unter mit Mann und Maus in schlimmem Wetter auf hoher See.

Aber die, die es schaffen, danken ihrem Gott für die glückliche Überfahrt, danken den Menschen, die sie hineinlassen in dieses fremde Land mit dieser fremden Sprache. Sie alle sind bereit, noch einmal ganz von vorne anzufangen, sich ganz hinten anzustellen; alle wollen arbeiten für ein besseres Leben als freie Menschen in einem freien Land.

So werden aus den vielen, vielen Flüchtlingen im Laufe der Zeit stolze Staatsbürger in ihrer neuen Heimat. Und stolz erzählen sie dann ihren Kindern und Enkeln, was sie gewagt haben, woher sie kamen und was nun aus ihnen geworden ist. Aber auch unter diesen Millionen Flüchtlingen wird es viele geben, deren Hoffnungen und Träume sich nicht verwirklichen werden. Dennoch reißt der Strom an neuen Flüchtlingen nicht ab – bis heute.

Eine ganz andere Geschichte wird dann die Flucht der Stämme sein, die vor den neu Angekommenen, die eben erst selbst Flüchtlinge waren, immer weiter nach Westen zurückweichen müssen, bis es sie gar nicht mehr gibt oder sie in sogenannten „Erhaltungsräumen“ zusammengepfercht überleben dürfen…Und von den zahllosen hingeschlachteten Büffeln wollen wir gar nicht erst reden; denn auch denen half die Flucht vor den ehemaligen Flüchtlingen aus Europa nicht mehr…

Man müsste einmal eine Namensliste all der Schiffe anlegen, die unter vollen Segeln diese mutigen Menschen von Europa übers Meer brachten – Jahrhunderte lang – von den Arbeitsplätzen im Schiffsbau und in den Wäldern im damaligen Europa ganz zu schweigen.

Vielleicht sollten die Europäer heutzutage ihren Kindern diese alten Geschichten ihrer geflohenen Verwandten neu erzählen, damit sie sich erinnern können und ahnen, was es hieß, als Flüchtling auf ein Schiff zu steigen in eine völlig ungewisse Zukunft. Das größte Gepäckstück, das sie mit sich nahmen, war aber stets die Hoffnung. Hoffnung auf Menschen in der Fremde, die ihnen helfen würden neu anzufangen. Was ließe sich nicht alles aus solchen Erzählung lernen? Welche Fehler könnte man da vermeiden erneut zu machen? Welche klugen Ideen für ein glückendes Hineinwachsen in die neue fremde Welt wären da voller Staunen zur Kenntnis zu nehmen?

Aber nicht nur ist zur Zeit die Rede von den Flüchtlingen in Schlauchbooten oder altersschwachen Kähnen im Mittelmeer, die ertrinken oder in Lagern gesammelt und bürokratisch erfasst werden. Nein, man kann auch von Flüchtlingen lesen und hören, die vor mehr als siebzig Jahren – mit nur wenig Habseligkeiten, wenn überhaupt – auf Schiffen glaubten, der alltäglichen Gewalt des Krieges und dem Hungertod entkommen zu können. Wie hoffnungsvoll werden sie die großen Passagierschiffe in höchster Not bestiegen haben, die Flüchtlinge, Deserteure, schwangeren Frauen, Verletzte und befreiten KZ-Häftlinge und wie sehr werden ihre Hoffnungen zunichte gemacht werden: die auf der Wilhelm Gustloff oder die auf der Cap Arkona, um nur zwei zu nennen, die an keinem rettenden Ufer mehr anlegten!

Aber kehren wir noch einmal zu der alten Geschichte zurück: Wir Europäer haben also selbst eine Geschichte als Flüchtlinge. Afrika und Vorderasien werden ihren Enkeln auch einmal die Geschichte ihrer nach Europa geflohenen Verwandten erzählen können. Was werden das für Geschichten sein?

Geschichten über geldgierige Schlepper, über unverwüstliche Hoffnungen junger Männer, die sich durch nichts abschrecken ließen. Sie wollten einfach nur der Not, der Gewalt, dem Hunger entfliehen, wollten ihre Begabungen in Europa anbieten. Bescheiden bei Null anzufangen, aber bereit zu lernen, zu arbeiten, geduldig zu sein. Denn sie glaubten, wie auch immer es sein würde, es würde besser sein als daheim. Glaubten sie. Aber viele werden gar nicht erst in Europa ankommen, sie werden erbärmlich im Mittelmeer ertrinken, Tausende…und falls sie es doch geschafft haben sollten, beginnt eine qualvolle und lange Phase des Eingesperrtseins, des Herumgereicht Werdens und das große Gepäck der Hoffnung wird dabei kleiner und kleiner werden. Denn es werden auch Geschichten sein über europäische Bürokraten, Politiker und Bürger, die in vielen Sprachen immer nur das gleiche sagten: „Das Boot ist voll. Wir helfen euch gerne in eurer Heimat bessere Verhältnisse zu schaffen, aber in Europa habt ihr keine Zukunft. Diese Hoffnung müsst ihr fahren lassen!“