25 Okt

Europa – Und seine „wahren“ Verteidiger (Meditation # 18)

Zuhauf standen monatelang die europäischen Pharisäer ganz vorne, um lautstark den ungezogenen Burschen zur Ordnung zu rufen: Wir lassen uns nicht auf der Nase herum tanzen, wir lassen uns nicht über den Tisch ziehen, und vor allem lassen wir uns Europäer – die fleißigen und sparsamen – nicht ins Bockshorn jagen. Jawohl. Wer Schulden macht, soll sie gefälligst auch wieder zurück zahlen – auf Heller und Pfennig. Dann können wir auch über weitere Hilfen sprechen; aber nicht immer wieder neue Hilfspakete fordern, ohne dass sich vor Ort etwas ändert.

Ging es nicht so oder so ähnlich oder noch deutlicher? Ja, selbst das Unwort vom Exit – als Grexit – wurde auf einmal gesellschaftsfähig. Denn der EURO, die heilige Kuh (oder sollte man besser, um im Bild zu bleiben, vom heiligen Stier sprechen?) galt es tapfer zu verteidigen. Die Kanzlerin und ihr erster Minister ein starkes Team in jenen Tagen. Da wollte man Einigkeit zeigen. Aber sie zeigte sich nicht so recht. Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Denn schon bald ist das Thema vom Tisch – hockt jetzt zumindest am Katzentisch – ein viel ergiebigeres wird da über Nacht (?) den aufgeregten Europäern auf den Tisch des großen Hauses geknallt: Der schier endlose Strom an Flüchtlingen.

Damit hatte nun wirklich niemand gerechnet. Anfangs sah es doch auch eher so aus, als gehe es um charakterlose Schlepper, die verängstigte Nichtschwimmer einfach auf hoher See alleine lassen in ihrem Schlauchboot. Kein Europäer denkt da an verfehlte Politik Europas im 20. Jahrhundert oder an fatale Kriege vor und nach der Jahrtausendwende, die als latente Ursachen in Frage kämen für die Wellen an Flüchtlingen, die nun Tag und Nacht an unseren Gestaden anlanden.

Jetzt ist guter Rat teuer, denn ureigenste Ängste melden sich unangemeldet dreist zu Wort: Was soll das denn werden, wenn das so weiter geht? Wo soll das enden? Was wird das uns nicht alles kosten?

Was sind das überhaupt für Menschen? Was wollen die denn wirklich? Die werden doch wohl kaum hier im tiefsten Winter bei uns herumstehen und warten, dass man ihnen warme Decken bringt und die Kinder ordentlich versorgt oder? Wir verstehen ihre Sprachen nicht, halten ihren Glauben für – um es einmal ganz moderat zu formulieren – der Gewalt gegenüber nicht ganz unaufgeschlossen. Und wie die ihre Frauen behandeln?

Wie gerne würde man sich doch viel lieber jetzt wieder mit dem Griechenland-Problem beschäftigen! Deren Sprache verstehen die Westeuropäer zwar auch nicht, aber mit denen kann man zumindest gut Englisch reden und Europäer sind sie ja nun wirklich auch (stammt der Mythos der Europa nicht sogar aus dieser Gegend?) und Christen sind sie ebenfalls. Außerdem ist Kreta immer noch eine Reise wert.

Aber all diese anderen Fremden!?

Das ist die Stunde der „wahren“ Verteidiger des Abendlandes, was auch immer damit gemeint sein mag. Die Stunde derer, die die Sorgen und Ängste des gemeinen Europäers wirklich ernst nehmen. Das geht in einfachen Formeln und großen Gesten und kostet rein gar nichts – höchstens eine gut platzierte Präsenz in den Medien. Tja, und da endlich macht sie fatale Fehler, die sonst so zurückhaltende, abwartende Kanzlerin. Und darauf haben die grauen Männer der zweiten Reihe nur gewartet. Es gab einfach keine Angriffspunkte. Jetzt liefert sie einen mit ihrem großen Verständnis für die Flüchtlinge und ihrer Strenge den eigenen Leuten gegenüber. Da lässt sich endlich gut punkten. Jetzt schön langsam aus den Deckung kommen, immer eine besorgte Miene machen und sich bereit halten, wenn sich der Wind dreht. Endlich Morgenröte. Endlich. Und keiner kann dann sagen, man habe da eine neue Dolchstoßlegende aus der Taufe gehoben. Nein. Man nimmt einfach nur die Sorgen und Ängste der Leute ernst. Es geht um Europa, klar. Aber da fangen wir doch am besten mal bei uns zu Hause an. Eine Frau an der Spitze des Landes ist da vielleicht nicht mehr die wirklich griffige Antwort auf die anstehenden Sorgen und Nöte und Ängste der Leute. Dass man uns nicht missversteht: Ihre Verdienste sind unbestritten, aber jetzt scheint eine Epoche in Europa loszubrechen, die wir nur mit aller Kraft und vereintem Wollen zu meistern verstehen. Vielleicht ist sie ja auch einfach amtsmüde. Wäre ihr gutes Recht.

Also gut aufpassen jetzt in den nächsten Wochen und Monaten! Notfalls Farbe bekennen, die Reihen dicht schließen, und sich einfach nur bereit halten. Wie eine reife Frucht fällt uns dann der Machtwechsel an der Spitze in den Schoß. Loyal solange wie nötig, aber dann…

21 Okt

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte (Mythos # 18)

Sie gehen vor ihr her. Die beiden fremden Kinder. Am breiten Fluss entlang, der gemächlich das weite flache Tal in zwei fast gleiche Teile teilt. Das dauert, denn die Ziegen, die sie vor sich her treiben, laufen immer wieder zum flachen Ufer, um zu trinken und sich vielleicht im Wasser heimlich zu betrachten: Die wippenden Bärtchen, die kleinen Hörner, die glotzenden Augen. Warum jetzt schon wieder nach Hause, denken sie vielleicht störrig. Das ist nicht unser normales Fressmuster…

Sacht ansteigende Hügel zu beiden Seiten, sie sehen aus, denkt Europa lächelnd, als wären es die fleischigen Schenkel eines noch schlafenden Riesen, dessen Körper am Horizont im Dunst des jungen Morgens zu verschwimmen scheint. Bilder der letzten Nacht huschen dabei durch ihren Kopf. Gieriges Verschmelzen der Körper, wohliges Stöhnen. Der Schein der nieder brennenden Fackel umschmeichelt die von glänzenden Schweißperlen übersäte Haut, lässt das pulsierende Blut darin mäandernd einen erhabenen Weg suchen…Was war das für ein sinnliches Fest!

Und während sie jetzt in eine ungewisse Zukunft wankt und dabei wollüstig in Erinnerungen schwelgt, ist der getäuschte Gott schon mit seinem Floß – im Segel kuschelt sich zufrieden ein leichter Ostwind – zu den Hesperiden unterwegs. Der kleine Abstecher zu seinem Bruder in die Unterwelt taugt eben wunderbar als unverfängliches Alibi. Jetzt, wo die Weite des Meeres ihm Schutz bietet vor unzeitiger Entlarvung, toben sich erneut die Wellen seiner Wut ungebremst aus; dass ihm dabei die Bilder der gemeinsamen Nacht immer wieder dazwischen fahren, weil sie so war wie noch keine vor ihr, macht ihn nur noch wütender.

Manchmal drehen sich die Kinder um, als wollten sie sich vergewissern, dass die fremde Frau auch wirklich hinter ihnen her trottet. Das gefällt Europa. Dabei denkt sie sich die Geschichte aus, die sie den Eltern der Kinder erzählen will. Jetzt dreht sie sich selbst um, denn ein Schreck war ihr plötzlich in die Glieder gefahren: Was, wenn der wunderbare Fremde sie verfolgt? Aber da ist niemand zu sehen. Erleichtert schließt sie zu den Kindern auf, die wieder mal ihre Ziegen antreiben müssen. Die wollen einfach nicht in diese Richtung um diese Zeit. Denn von da waren sie doch eben erst hergetrieben worden. Die Macht der Gewohnheit macht sie jetzt nur noch störrischer. Europa hört, wie die ältere Schwester gerade zum jüngeren Bruder sagt:

Lauf voraus, ich komme mit der Fremden und den Tieren hinterher! Sag Du den Eltern schon einmal Bescheid!“

Ungern lässt sich der Bruder von der Schwester etwas sagen – gerade vor der fremden Frau jetzt. Aber andererseits will er auch der erste sein, der den Eltern die Neuigkeit bringt. Also nickt er unwirsch und läuft los.

Kaum ist er weg, beginnen die Tiere loszutraben. Das Mädchen schüttelt lachend den Kopf. So kommen sie aber gut voran und stehen auch bald vor der Hütte, in der die Familie lebt. Erwartungsvoll stehen Vater und Mutter da, misstrauisch lassen sie die Blicke an Europa hinauf und hinunter gleiten. Europa bleibt stehen, während das Mädchen freudig zum Vater läuft, der ihr aber mit einer strengen Handbewegung zu verstehen gibt, dass er ganz und gar nicht erfreut ist, dass seine Kinder mit der Herde zurückgekommen sind und auch noch eine Wildfremde mitbringen. Enttäuscht verschwindet die junge Tochter in der Hütte, wirft dabei noch einen kurzen ratlosen Blick zurück auf den wohl gar nicht willkommenen Gast.

Du bist nicht von der Insel oder?“

Eine ziemlich unfreundliche Eröffnung, findet Europa. Aber sie versteht es. So antwortet sie auch nur mit einem kurzen Kopfschütteln. Der Frager schweigt. Die Frau neben ihm blickt beschämt zu Boden. Sie würde wohl weniger unfreundlich sein, wenn sie dürfte. Dann entschließt sich Europa einfach ihre kleine Geschichte zu erzählen:

Unser Schiff – wir sind Handelsleute aus dem Land der blauen Zedern – ist auf ein Riff gelaufen. Es ging alles ganz schnell. Zufällig bekam ich ein leeres Fass zu fassen, das rettete mir das Leben und eine günstige Strömung spülte mich hier an Land.“

Und deine Leute?“

So, wie er die Frage stellt, wird ihr klar, dass er ihr kein Wort glaubt von dem, was sie gerade erzählt hat. Ich muss mir etwas anderes ausdenken. Aber was? Während sie hektisch nachzudenken versucht, hören sie Pferdegetrappel, das schnell näher kommt. Da ist der Reiter aber auch schon da. Neugierig kommen auch die beiden Kinder aus der Hütte gestürmt. Vater und Mutter nehmen sie schützend in ihre Mitte. Es geht alles ganz schnell. Während der Reiter von seinem Pferd springt, dabei seinen wehenden Umhang festhält und ein kurzes Schwert, geht die Familie in die Knie, verneigt sich tief. Europa sprachlos und verunsichert. Was wird der Mann wollen, was wird er mit ihr anstellen?

Weshalb sind die Kinder und die Herde noch hier? Es ist bereits Vormittag. Kennt ihr eure Pflichten nicht? Und wer ist diese Frau?“

Auf dieser Insel scheinen die Menschen meist drei Fragen auf einmal zu stellen, spricht sich Europa lautlos ein wenig Mut zu. Aber sie wird schweigen müssen. Auch verrät der Tonfall und die Mimik des Fragers nichts Gutes.

Die Kinder haben sie heute früh gefunden, als sie die Tiere zur Weide führten. Die Fremde wollte zu uns gebracht werden. Deshalb sind sie wieder hier und auch die Tiere.“

Das unzufriedene Gesicht des Reiters verzieht sich nur noch mehr.

Mh!“

brummt er vor sich hin. Dann dreht er sich von den armen Leute weg, geht breitbeinig in Positur und fixiert verächtlich die Fremde:

Sprichst du unsere Sprache? Hast du einen Namen? Weißt du, wer ich bin?“

Fast hätte sie gelacht: Wieder drei Fragen, aber sie reißt sich zusammen, denn der Tonfall des Fragers droht ohne jede Rücksichtnahme nur Schlimmes.

Europa verneigt sich leicht und spricht dann so:

Eure Sprache ist mir nicht ganz fremd. Ich kann euch verstehen.“

Dann macht sie eine kleine Pause und fährt dann fort:

Ich heiße Europa.“

Der Frager verzieht keine Miene, wartet einfach auf die dritte Antwort.

Ich kenne euch nicht, denn ich komme von weither – als Schiffbrüchige.“

Da zieht er die Augenbrauen hoch, holt tief Luft, reißt die Augen weit auf und schnarrt dann in krächzendem Befehlston:

„Du bist jetzt Gefangene meines Gebieters, König Archaikos, des herrschenden Minos von Kreta, ich bringe dich sofort vor seinen Thron.“

Und bevor Europa überhaupt Zeit hat, etwas zu erwidern oder sich zu wehren, hat er ihr einen Strick um den Hals geworfen – den hatte er wohl unter seinem langen Umhang gehabt – zieht sie unsanft zurück zu seinem Pferd, schwingt sich in den Sattel und reitet los. Europa fällt fast hin, so schnell geht das alles. Den Kindern entfährt ein Entsetzensschrei, die eingeschüchterten Eltern zerren sie zurück ins Haus, das ganze Geschehen ist fast in einem Augenblick vorüber. Nur nicht stolpern, nur nicht hinfallen, denkt Europa voller Panik. Hätte sie vielleicht doch besser bei dem wunderbaren Fremden in der Höhle bleiben sollen? Nein. Vielleicht kann sie ja König Minos mit einer besseren Geschichte für sich gewinnen. Aber wie müsste die gehen?