08 Dez

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte (Mythos # 21)

Wie dem Mythos „Europa“ seine falsche Farbe verpasst wird.

Was treibst du hier, Bruder?

Hey, hast du mich aber erschreckt!

Der Obergott war nämlich eingenickt auf seinem Floß. Doch selbst in seinen Träumen hatte er sie nicht los bekommen. Keuschend hielt er sie umarmt. Lust hielt ihn gefangen. Ihr Leib – sie spüren, sehen, riechen – überwältigte ihn maßlos. Die Traumbilder mit ihr hatten ihn schwindlig getanzt. Selbst sein Floß beginnt zu schwanken. Nun sieht er plötzlich die triefenden Augen seines Bruders auf sich gerichtet. Mit Gepolter fällt der Dreizack auf das glatte Zedernholz. Dann legt der Gott des Meeres seine Arme auf das Floß, so dass es in Schieflage gerät.

He, pass auf, ich habe keine Lust, ins Salzwasser zu plumpsen.

Der Meeresgott grinst zufrieden. Sein Bruder in Not. Das bekommt er nicht oft zu sehen. Trotzdem möchte er wissen, weshalb er hier allein auf einem Floß unterwegs ist.

Nun sag schon, was führst du im Schilde?

Soll ich ihm sagen, was mir passiert ist? Wir Brüder müssen zusammenhalten. Unbedingt. Unsere Frauen sind beileibe mächtig genug – das darf bei den Menschen auf keinen Fall Schule machen.

Kann ich auf deine Verschwiegenheit rechnen?

Hör mal, Bruder, ist doch klar. Also erzähl!

Und dann erzählt er die Geschichte mit Europa. Hätte Sie zuhören können, hätte sie sich sicher gewundert, wie schlecht er sie vor seinem Bruder machte. Und als er zu Ende erzählt hat – beim Erfinden seiner Entführungsgeschichte hatte er sich immer weiter in Rage geredet – ist er sehr zufrieden mit seiner Erfindung – sie klingt so, als wäre sie wahr.

„Also, das dürfen wir der aber nicht durchgehen lassen, Bruder!“

Der Meeresgott spielt den Empörten gut. Der wütende Obergott knetet knurrend seine Lippen. So allein auf seinem Floß – nur um ein Alibi vor seiner misstrauischen Familie zu haben – wettert er auf Rache sinnend vor sich hin. Ein Glück, dass jetzt wenigstens sein Bruder zufällig vorbeikam. Und so tönt es dann in ihm:

Das wirst du mir büßen, du falsche Prinzessin! Und nicht nur du. Nein, alle Frauen sollen deinetwegen mit einem niemals endenden Fluch beladen sein!

Während die beiden Brüder sich weiter nach Westen treiben lassen, tobt am anderen Ende des Meeres Agenor, Europas Vater, ebenfalls voller Wut. Mit blutunterlaufenen Augen sitzt er auf einem Thron, den seine Leute vor die Stadt tragen mussten. Seine Tochter hat sich heimlich aus dem Staub gemacht. Keiner weiß, wo sie ist. Da passt es ihm gut, dass die Königin vor Gram gestorben sein soll. So wird niemand je erfahren, wer ihr Mörder ist. Gut so. Aber es kühlt kaum sein Zorn. Denn er ist blamiert. Die Abgesandten des Bräutigams haben ohne Braut den Libanon verlassen müssen. Das Pantherpaar, die große Ziegenherde und die jungen Stiere ist er los für nichts und wieder nichts! Alles wegen seiner ungehorsamen Tochter Europa. Jetzt wird er ein Strafgericht abhalten, hier vor der Stadt: Alle ihre Sachen, die sie noch – Gehorsam heuchelnd – in Kisten verpacken ließ, sollen stellvertretend vernichtet werden. Alle. Kleider. Schmuck. Tagebücher, Möbel, alles. Jetzt ist das Zeug zu einem großen Haufen vor ihm aufgerichtet. Das Volk steht schweigend und entsetzt drum herum. Agenor, der König, gibt das Zeichen. Feuer! Drei Sklaven halten Fackeln in den Berg all der Kostbarkeiten der Prinzessin Europa. Zufrieden schließt Agenor die Augen. Der wachsende Schimmer der gierigen Flammen scheint hell selbst durch die geschlossenen Augenlider. Rauch steigt auf. Ein Raunen geht durch die Menge, als sich nun der König erhebt und losschreit:

Europa! Verflucht sollst du sein für immer. Du und alle Deine Nachkommen! Mögen die Götter mir beistehen, dass dieser Fluch dich verfolgt durch Zeit und Welt! Immerzu und überall!“

Die Seher, die verängstigt hinter des Königs Thron mit gebeugten Häuptern stehen, wissen, dass sie günstige Sprüche der Götter von nun an dem König werden aufsagen müssen. Ungünstige wären ihr Todesurteil. Das spüren sie genau. So nah dem Wutausbruch fühlen sie die Gefahr überdeutlich. Verstört zerstreut sich die gaffende Menge. Sie mochten die Prinzessin. Sie war so lebensfroh, so eigensinnig, so sinnlich schön. Sie werden sie einfach heimlich in guter Erinnerung behalten, mag der König auch noch so toben. Sie vermissen sie schon. Europa.

06 Dez

Europa – Vier Geburtswehen (Meditation # 21)

Vier Geburtswehen der europäischen Staatenbildung auf dem Weg zu einem friedlichen Nebeneinander.

Wie vergesslich wir doch sind und wie blutleer Namen und Zahlen von Ereignissen in der europäischen Geschichte sein können!

1. Wehe.

Sicher lesen viele jungen Leute in ihrem Geschichtsbuch etwas über die großen Religionskriege im 17. Jh. mitten in Europa. Der sogenannte dreißig-jährige Krieg. Was sollen sich die Schüler darunter vorstellen? 30 Jahre Krieg! Ganz Mitteleuropa soll Schauplatz dieser Kämpfe gewesen sein. Am Ende gab es nur noch halb so viele Menschen in diesen Gegenden wie vorher. Was für abstrakte Hauptwörter und Sätze! Aber es waren keine Sunniten, die gegen Schiiten und andere Ungläubige kämpften, sondern Katholiken gegen Lutheraner. Bald gab es Länder, die ihre Katholiken zwingen wollten, dem neuen Glauben zu gehorchen oder die Verweigerer des Landes verwiesen. Viele, viele Flüchtlinge gab es da auf einmal, die durch ganz Europa flohen, um Asyl anderenorts zu finden. Mächtige Fürsten nutzten die Gunst der Stunde, um ihren Machtbereich auszuweiten oder Konkurrenten kalt zu stellen. Alles natürlich im Namen des christlichen Gottes. So oder so. Das ist gerade mal so dreihundert Jahre her.

2. Wehe.

Oder im Geschichtsbuch wurde ausführlich über die Französische Revolution, La Grande Terreur und die späteren napoleonischen Eroberungsfeldzüge in Europa bilderreich berichtet, die Zahlen der gewaltsam getöteten Europäer ist nur schwer zu benennen, so viele waren. Und wieder waren es mächtige christliche Feldherrn und Politiker, die eine bessere Zukunft und mehr Macht versprachen; am Ende blieb vieles so, wie es war – trotz der vielen, vielen zu beklagenden toten Soldaten und der toten Bürger in den von Christen bewohnten Städten und Dörfern Europas. Das Schlachten begann 1789 und endete erst 1815 – also mehr als 25 Jahre kriegerische und gewalttätige Zeiten in Europa.

3. Wehe.

Und dann erst im 20. Jh.! Da brauchten die Europäer nicht einmal fünf Jahre, um in einem mörderischen Krieg Millionen von Menschen zu töten: Die einen an der Front oder im Schützengraben, die anderen im Giftgas oder in zerbombten Häusern in Russland oder Flandern, um nur zwei Gegenden Europas zu nennen, die unter dem menschenverachtenden Materialschlachten zu leiden hatten. Und warum? Weil die einen Europäer meinten, sie seien die besseren christlichen Europäer mit größerem Anspruch auf Macht und Einfluss als die anderen.

4. Wehe.

Und nur 25 Jahre später – die Europäer wollten wohl nicht aus dem Elend lernen, das der Krieg und der Hass über sie gebracht hatte – wurde Europa noch einmal und noch viel nachhaltiger verwüstet und noch viele Millionen mehr Menschen gewaltsam umgebracht als im letzten Gemetzel!

Immer wollten die einen über die anderen Europäer herrschen – sei es aus nationalistischen oder gar rassistischen Gründen – obwohl sie alle aus der gleichen Geschichte hervorgegangen waren und alle an der gleichen Gott glaubten, mehr oder weniger. Wunderbar verschieden in Sprachen, Kultur und Traditionen, wie sie doch nun einmal sind!

Am Ende hatte dann der Freiheitswille und die Formel „Nie wieder Krieg!“, der die vielen verschiedenen Völker Europas auf friedliche Koexistenz einstimmte, gesiegt.

Vielleicht dämmert nun dem einen oder anderen doch der Gedanke, dass der scheinbar unversöhnliche Krieg der Sunniten gegen die Schiiten nicht nur nicht morgen zu Ende gehen könnte, sondern vielmehr noch viele weitere Jahre oder gar Jahrzehnte dauern wird, weil so viele mächtige Gruppen daran beteiligt sind, die den einen oder den anderen „helfen“ wollen, um dabei selber eigene Machtzonen auszuweiten oder neu aufzubauen! Und natürlich erzeugen solche kriegerichen Auseinandersetzungen Flüchtlinge noch und noch, die alle darauf hoffen, irgendwo Asyl zu erhalten, um zumindest das nackte Leben zu retten. Und noch etwas: Am Krieg verdient immer nur der Krieg! Diese Lektion sollten die christlichen Europäer doch wohl gelernt haben?