29 Mrz

Europa – Verraten und Verkauft? (Meditation # 35)

Warum der bequeme Weg Gedanken in Sachen Europa nur versperrt.

Als wären die Bilder, die wir uns zur Antike, dem Mittelalter und der Neuzeit gemalt, pardon, gemacht haben, das, was sie sein sollen: Abbilder von Wirklichkeiten, an denen alles stimmt, weil sie oft erzählt, wiederholt überholt und oft auch phantasievoll völlig „neu“ erkundet wurden. Streng wissenschaftlich seziert, dokumentiert und mit kritischem Apparat versehen. So scheinen demnach die Kriege, Krisen, Hungersnöte, Intrigen und Mächte und deren Untergang wie stimmige Stufen aus der Vergangenheit in unsere Gegenwart hineinzuwachsen, die wir vor dem Hintergrund dieses reichen Erfahrungsschatzes nun nur noch weiter entwickeln müssen. Schlüssig reihen wir Begriffe und Gegenbegriffe aneinander, verknüpfen sie zu logischen Konstrukten sinnvoller Deutungsmuster, die in ihrem wissenschaftlichen Wiederholungsgestus immer wahrer und wirklicher zu werden scheinen. Romane, Theaterstücke und Filme tragen das ihre dazu bei.

Europa ist solch ein Bild und solch eine Gewissheit, was damit zu meinen sei. Dabei changieren die Bilder von einem Land zum anderen so sehr, dass man meinen könnte, es handle sich um völlig verschiedene Erinnerungen und Geschichten. Und die jeweilige Sprache enthüllt oder verschleiert äußerst kreativ das zu Meinende geradezu fabelhaft.

Das Bild von Karl dem Großen zum Beispiel wird vor diesem Hintergrund zu einer Gründerfigur, die scheinbar beispielhaft Bildung, Identität und Selbstbewusstsein geschaffen habe – ohne zu bemerken, wie sehr – zum Beispiel im Medium Film – ein solcher Mann von heute her geformt und gedacht wird. Angefangen von einer prächtig gewellten Frisur über einen markanten Charakterkopf, schönsten Zähnen und gepflegter Kleidung und erlesenem Schmuck. So schreitet er bei Kerzenlicht am helllichten Tag durch seine Kaiserpfalz (ein winziges Detail nur, geschuldet dem romantischen Phantasiewunsch der Zuschauer, dass natürlich flackerndes Kerzenlicht einfach dazu gehört. Dass damals allerdings diese Lichtquelle sparsam und nur nach Einbruch der Dunkelheit benutzt wurde, spielt dabei aber keine Rolle.) Und das Reich der Franken unter Karl dem Großen, wie wir ihnen pathetisch nennen, sieht dann aus der Vogelperspektive mit Hilfe von üppigen Farbfeldern so zu einer Einheit gemalt aus, dass man gerne meinen möchte, es sei ein großes europäisches Reich gewesen, das es aber zu keiner Zeit je war – weder nördlich noch südlich der Alpen, wohl aber in unseren Köpfen und in der Sprache.

Päpste werden vor unser Auge geholt, als wären es Puppen, denen man das Sprechen beigebracht habe: Ihre Gestik und Mimik befeuert schön unsere eigenen Vorstellungen von Pomp und gespielter Demut; zufrieden gehen wir nach Haus, sehen wie aus der Sicht des derzeitigen Papstes Europa mächtig wachsen, weil mächtige Herren mächtig daher stolzieren. Und der junge adlige Mann aus Assisi scheint uns so vertraut wie der, der heute seinen Namen programmatisch trägt. Gefügig passen die Bilder alle zusammen (notfalls muss natürlich an der einen oder anderen Stelle noch etwas nachgebessert werden), geben unserem Nachdenken so etwas wie sicheren Boden und halten die eigene Staats- und Wirtschaftsform für fast so etwas wie der menschlichen Natur eingeboren, erwachsen aus all den vielen Vorformen, die wir in langer gedanklicher Arbeit über so viele Generationen nun schon alle sinnvoll hintereinander angeordnet haben. Die europäischen Nationen sind demnach an einen Punkt gelangt, wo sich – fast schon wie von selbst – ein föderatives Staatenbündnis als folgerichtige Selbstverständlichkeit ergibt. Nicht wahr?

Nicht wahr, sondern frei erfunden, sollte man unüberhörbar dagegen halten. Unbedingt. Denn nur dann könnten wir den Kopf frei bekommen, unbeschwert vom Bilderwald der eigenen Gewissheiten neue, andere, vergessene Formen zu finden, probeweise zu durchdenken, mit deren Hilfe wir aus dem festgefahrenen Durcheinander vielleicht wieder optimistischer den nächsten Schritt wagen könnten.

Die griechische Polis und die Zentrale in Brüssel: Was haben diese beiden Institutionen gemeinsam? Einen Begriff, bestehend aus zwei Hauptwörtern: Volk und Herrschaft. Es war eine kleines Völkchen, das sich in Athen zur Abstimmung per Hand – pro Teilnehmer auch nur ein Redebeitrag – zusammenfand, aber Frauen, Sklaven und die Zugezogenen waren davon gänzlich ausgeschlossen. Herrschaft des Volkes? Und in Brüssel: So viele Beamten, so viele Ressorts, so viel Papier, sie alle hantieren mit der Zauberformel, dass nur die viel Wissenden fähig seien, den behäbigen Tanker durch die Untiefen sozialer und wirtschaftlicher Schieflagen lotsen zu können. Und wer ist ausgeschlossen? Die 500 Millionen Bürger. Sie lassen sich vertreten von einem Parlament, das vor lauter Absprachen, Proporz-Schikanen und Fraktionen kaum das abzubilden scheint, was es soll: Den Willen der Bürger aus achtundzwanzig Nationen.

Und nun sollen diese Bürger noch weniger als eigentlicher Souverän in Erscheinung treten; das Gebilde sei zu komplex, die Probleme zu vielfältig und die Sachfragen nur noch von Sachverständigen zu durchschauen. Nur noch als Wähler zur Kenntnis genommen zu werden, reicht dem mündigen Bürger allerdings nicht mehr aus. Er wird unwillig, spielt mit seinem Wahlzettel ein mehr und mehr unberechenbares Spiel, um die etablierten Repräsentanten aus ihrem selbstgefälligen Habitus aufzuschrecken.

So scheinen die Polis und Brüssel nicht nur zeitlich sehr weit auseinander zu liegen, sondern auch inhaltlich; so bleibt nur noch der Name des Kontinents, auf dem sie in gemäßigten Zonen nun schon so lange leben dürfen, als etwas Gemeinsames: Europa. Das wiederum ist eine wirklich ungute Geschichte über Gewalt, Entführung und Vergewaltigung. Der Gründungsmythos, auf den sich zur Zeit alle berufen als einheitsstiftendes Moment, taugt nicht für mündige und friedliebende Zeitgenossen. Entweder müssten man den Mythos neu erzählen – als eine angstfreie und liebevolle Geschichte – oder es muss ein neuer Name mit einem neuen Inhalt gefunden werden, der sich als zukunftstauglich erweisen kann. Angesichts so vieler fremder Menschen, die als Flüchtlinge Zuflucht suchen bei dieser müden und übersättigten Union, ließe sich sicher Altes, Fremdes, Vertrautes und Verbrauchtes ganz neu und ganz anders gemeinsam gestalten – hinein in eine offene Zukunft, die nicht mehr gebetsmühlenartig die eigene Geschichte als Erfolgsmodell verkaufen will, sondern dem Alter und der Jugend eine Brücke baut, über die alle gemeinsam gehen können ohne Hegemon oder dergleichen…Und wie die Sterne am Himmel so sollten auch die Nationen Europas sich genügend Raum gönnen für eigenes Strahlen und Wirken. Die Verknüpfungen und Vernetzungen können dann ganz ohne Bürokraten mit Hilfe von neuester Technik mit einander kommunizieren, ganz dezentral und bürgernah, weil fußend auf den Beziehungen der Menschen in den vertrauten Regionen mit ihren eigenen Ritualen, Dialekten, Familiengeschichten, Gesängen und Mythen.

23 Mrz

Europa – Mythos # 31

Das Gastmahl als Probe

Noch glänzt fahles Mondlicht auf dem schwarzen Meer, zieht immer noch einen silbrigen Streifen darüber. Aber die Fackel des Sonnengottes steht schon bereit. Archaikos hört nicht die Vogelstimmen, sieht nicht den Silberstreif. Er schaut ins Leere. Die angenehme Morgenkühle lässt ihn nur frösteln. Er will nicht, dass es tagt. Er will nicht glauben, was er hören musste. Und das Schlimmste ist, er weiß nicht, ob es wahr ist. Sperlinge, diese Frühaufsteher, sie fliegen bereits von Ast zu Ast, unbekümmert. Er beneidet sie. Wenn Sardonius ein übles Spiel spielt, was dann? Wie soll er herausbekommen, was stimmt? Archaikos, der Minos von Kreta, steht gekränkt am Fenster. Tränenschwer die Augen. Kaum haben ihm die guten Geister diese fremde Frau als großes Geschenk geschickt, da soll er es auch schon zerstören. Er will es nicht einmal denken. Aber er will sich selbst ein Bild von den beiden Frauen machen. Er will sie ihren Giftanschlag in Szene setzen lassen, er will sie auf frischer Tat ertappen. Sardonius hatte energisch abgeraten. Das macht ihn nur noch misstrauischer. Ist es doch alles gelogen? Da ist niemand, den er um Rat fragen kann. Dass die große Göttin ihre wohlwollende Hand über ihn hält, weiß er natürlich nicht. Sie wird nicht zulassen, dass die beiden Frauen gewaltsam sterben müssen.

Europa träumt gerade glückliche Szenen aus einer Zukunft, die sie nicht kennt. Das Gespräch mit der Hohenpriesterin hat ihr gut getan. Sie sind nun Schwestern. Ihr wird sie alles erzählen können, auch dass sie schwanger ist. Sie hat guten Rat bitter nötig. Und auch Chandaraissa liegt in tiefem Schlaf in diesem Augenblick. Traumlos. Aber der Schlaf wird ihr Kraft geben, die sie bald sehr nötig haben wird. Denn was der gerade sich ankündigende Tag für sie bereit hält, geht eigentlich über die Kräfte eines Sterblichen; doch sie ahnt nichts von alledem. Sie schläft einfach nur.

Sardonius hatte den Minos von Kreta mit sehr gemischten Gefühlen verlassen. Einerseits hatte es ihm gut getan zu sehen, wie Angstblitze durch Archaikos‘ Augen zuckten, andererseits findet er den Gedanken, die beiden Frauen auf die Probe zu stellen, gar nicht gut. Was, wenn seine beiden Spione doch gelogen haben, wenn die Frauen ihre Unschuld beweisen können? Aber bisher haben alle seine Intrigen geholfen, seinen Aufstieg voranzubringen. Warum sollte das nun auf einmal nicht mehr so sein? Schnell verscheucht er seine Zweifel und befiehlt einem seiner Leute, die Hohepriesterin für heute zum Essen in den Palast zu laden. Der Minos von Kreta möchte sie mit Europa bekannt machen. Einen anderen Boten schickt er gleichzeitig zu Europa, sie solle heute am Tisch des Minos sitzen – er habe die Hohepriesterin zu Gast.

Die lange Tafel ist wie immer blank geputzt – Holzteller liegen darauf, Wasserkrüge stehen bereit. Ein Hammel wurde geschlachtet. Als die beiden Gästen – immer noch völlig verstört, weil sie sich nicht erklären können, warum der Minos von Kreta sie einlädt – die weite Halle betreten, wird sogar ihnen zur Ehre Musik gemacht. Trommeln, Flöten und ein einsaitiges Streichinstrument füllen mit ihren Klängen den kahlen Saal. Ein alter Sänger raunt dazu schwer verständliche Liedtexte. In jeder Ecke steht ein Wächter, mit einem kurzen Schwert am Gürtel und einer langen Lanze in einer Hand. Dann öffnet sich die Flügeltür zu den Gemächern des Minos. Chandaraissa und Europa werfen sich fragende Blicke zu. Was geht hier vor? Sie werden zu zwei vorbereiteten Plätzen an der Tafel geführt. Die Plätze sind so gewählt, dass man die beiden gut vom Sitz des Minos aus möglichst unauffällig beobachten kann. Die Musik bricht ab. Alle verneigen sich tief. Archaikos kommt mit schnellen Schritten herein. Ein breites Lächeln im Gesicht. Er will die beiden völlig irreführen. Alles soll so aussehen, als ginge es nur um ein kleines und heiteres Mahl in kleinem Kreis.

„Oh, wie freue ich mich, dass ihr, Chandaraissa, meiner Einladung gefolgt seid. Europa, meine am meisten begünstigte Frau in meinem Palast, weiß es sicher auch sehr zu schätzen. Nicht wahr, Europa?“

Die beiden Frauen wundern sich insgeheim. Sie sind klug genug, um zu wissen, dass natürlich hinter dieser Einladung eine Absicht steckt. Nur ist ihnen noch nicht klar, welche. Chandaraissa antwortet leise und langsam:

„Hoher Herr, Minos von Kreta, als Hohepriesterin der großen Göttin stehe ich mit meinem Gebeten und meinen guten Wünschen immer an eurer Seite, das wisst ihr. So bin ich auch gerne eurer Einladung gefolgt.“

Mit keinem Wort geht sie auf Europa ein. Sie wirft nur kurz einen freundlichen Blick zu ihr. Sie verstehen sich und werden alles tun, kein Misstrauen zu erregen. Mit gnädiger Geste nimmt Archaikos Platz, die Musikanten setzen ihr Spiel fort, Früchte werden gebracht, das Wasser wird ihnen in hölzerne Pokale gegossen. Wie ein Luchs beobachtet Archaikos diese scheinbar unwichtigen Handreichungen der Dienerschaft. Wenn Sardonius Recht haben sollte, müssten sie ja irgendwie versuchen, ihr Gift ins Wasser seines Pokals zu mischen, wenn sie das wirklich vorhaben sollten. Man hebt die Becher, man lächelt sich zu, man trinkt. Nichts ist passiert. So weit.

„Europa, was hältst du von unserer Hohenpriesterin? Ist sie nicht wunderbar?“

Europa denkt nach. Was will er von ihr hören? Ist es eine Prüfung? Weiß er, dass sie gestern im Tempel bei Chandaraissa war? Er wirkt so weit weg heute, findet sie. Sein Lächeln scheint ihr nicht echt. Was führt er im Schilde?

„Hoher Herr, ihr könnt euch glücklich schätzen, so jemanden an eurer Seite zu haben. Sie und ihre Priesterinnen beten täglich für euch, habe ich gehört, und für das Wohl aller auf der Insel.“

Das Hammelfleisch wird hereingetragen. Beflissen verteilt die Dienerschaft auf die bereit stehenden Teller, Chandaraissa lässt sich erneut Wasser nachschenken, Archaikos beobachtet sie dabei genau. Nichts deutet darauf hin, dass sie ihn vergiften wollen. Nichts. Wie auch? Sie müssten sich ja erheben, zu seinem Platz kommen, seinen Pokal füllen. Was für eine dumme Idee, denkt er jetzt. So finde ich es bestimmt nicht heraus. Ich muss mich zu ihnen setzen, dabei nehme ich meinen Pokal mit, dann werden wir weiter sehen. Sie müssen sich ganz sicher fühlen. Der Geruch des gebratenen Fleischs weht durch den Saal, Schwalben fliegen unter der Decke hin und her, die Mittagssonne lässt die kleinen Fenster oben in der Wand hell erstrahlen. Die Musikanten werfen hungrige Blicke auf die nun reich gedeckte Tafel. Aber sie müssen weiter spielen. Da erhebt sich der Minos von Kreta. Für einen Augenblick fürchtet die Dienerschaft, er wolle das Essen abbrechen, etwas habe ihm vielleicht nicht gefallen; dann sehen sie aus den Augenwinkeln, dass er sich gar nicht zum Gehen wendet, sondern im Gegenteil nur näher an die beiden Gäste heranrückt. Er nimmt sich einen Hocker und stellt ihn zwischen die beiden erstaunten Frauen.

„Da wir heute zum Glück ohne die steifen Ratsherren zusammensitzen können, werden wir in kleinem Kreis essen und reden. Wenn es euch recht ist.“

Chandaraissa und Europa wittern, dass der Minos ein Spiel mit ihnen spielt. Nur ihre Rolle darin ist ihnen überhaupt nicht klar.

„Wir wissen solche Gunst durchaus sehr zu schätzen, werter Herr!“

So, denkt Archaikos, jetzt könnt ihr es ja mal versuchen. Ich stelle – ganz zufällig – meinen Pokal direkt vor euch hin, schaue interessiert oben zur Decke, als verfolgte ich den Flug der Schwalben und Sperlinge, behalte aber gleichzeitig alles aus den Augenwinkeln fest im Blick.

„Die Sperlinge sind die Lieblinge der Göttin, sagt das Volk, sie sind immer froh, laut und ausgelassen. Das gefällt der Göttin wohl sehr.“

Chandaraissa zwinkert Europa kurz zu, wendet dann den Blick wieder von den Sperlingen zum Minos von Kreta und fährt sogleich fort:

„Gibt es in eurem Land auch so viele Sperlinge, Europa?“

Europa ist erleichtert, dass ihre neue Schwester ein so unverfängliches Thema geschickt eingefädelt hat, zumal Archaikos sich wirklich für diese lustigen Vögel zu interessieren scheint. Lachend antwortet sie Chandaraissa:

„Und wie, ganze Schwärme davon. Manchmal ist der Lärm, den sie machen, so groß, dass man sie verscheuchen muss; aber auch dort meint man, dass sie der großen Göttin gefallen und sie die Vögel manchmal sogar als Boten nutzt.“

Archaikos kann einfach nichts Verdächtiges an den beiden bemerken. Von Gift mischen kann gar keine Rede sein. Harmlos. Also hat Sardonius gelogen? Oder zumindest seine Spione? Jedenfalls hat ihm seine Idee, die beiden auf die Probe zu stellen, nicht weiter geholfen. Er muss ihnen aber dennoch den Prozess machen, denn Sardonius besteht ja weiter auf seiner Anschuldigung. Arme Europa! Er würde es ihr gerne ersparen, aber dem Herrn der Hofhaltung gegenüber darf er einfach keine Schwäche zeigen. Morgen soll das öffentliche Verhör stattfinden, gleich morgen. Völlig abrupt verlässt er die Tafel.

22 Mrz

Europa – Verraten und Verkauft? (Meditation # 34)

Europa – nur noch eine Zivilisation? Was ist aus der Kultur geworden?

Eine Zivilisation ist ein gut funktionierendes Räderwerk, um viele Menschen mit ähnlichen Interessen friedlich nebeneinander leben und arbeiten zu lassen. Die Frage nach der Entstehung dieser Lebensform stellt sich nicht mehr. Sie funktioniert. Das genügt scheinbar. Relativer Wohlstand macht die Menschen nach und nach träge – vor allem im Denken über sich, über das, was ein sinnvolles Leben sei. Die Frage wird nicht mehr gestellt. Das, was ist, scheint das zu sein, was auch genau so sein soll. Der schnelllebige Alltag ermüdet alle so sehr, dass sie glauben, keine Zeit mehr zu haben zum Nachdenken, ob das, was sie tun, auch das ist, was sie wirklich wollen. Es ist eben einfach so, wie es ist. Erst angesichts des Todes kommen dann wieder die Zweifel an die Oberfläche. Aber in der heutigen Zivilisation wird auch dieser Bereich im allgemeinen Getriebe mehr und mehr ausgeblendet, an den Rand gedrängt, als ärgerliches Übel kurz zur Kenntnis genommen. Dagegen helfen nur eine Medizin und Pharmazie, die mit den Mitteln der Werbung, die man ja längst als Drogeneinstieg und Stimulanz in seinen Alltag eingepflegt hat wie den Gang zur Toilette oder das Zähneputzen, Hoffnung machen. Um möglichst kostengünstig solch eine Zivilisation am Leben zu erhalten, hält man Vergrößerung, Ausweitung,Verstetigung für die Lösung. Diesem krebsartigen Gebilde gibt man den Namen einer zumindest ökonomischen Vereinigung: Europäische Union. Aber beide Begriffe leisten in dieser Kombination nicht das, was sie sollen:

Europäisch daran ist die vage Ansage, dass man ja alle aus der gleichen Kulturgeschichte komme. Was nicht zu verleugnen ist. Aber die Kulturgeschichte selbst und ihr Dasein in der Gegenwart spielt höchstens eine untergeordnete Rolle dabei, wenn überhaupt. Die Zahlen müssen stimmen, die Quantitäten, damit die Zivilisation, die sich Europäische Union nennt, auch weiter reibungslos Wohlstand erzeugt, festigt und vermehrt.

Union ist nicht einmal eine vage Ansage, denn außer dem vereinheitlichten Geldfluss, der rein optischen Grenzenlosigkeit und dem Fluss der Güter und Menschen, sind die achtundzwanzig Nationen nicht bereit, ihre Souveränität an einen SupraSouverän abzugeben. Wozu auch? Das macht aber nichts, denn die wesentlichen Entscheidungen für diese 500 Millionen-Zivilisation trifft das Geld und nicht der Mensch.

Doch bei all dem bequemen Wohlstandsleben scheinen die Menschen ihr Dasein gerade in der Abgrenzung zu den anderen definieren zu wollen. Sei es in Vereinen oder in Parallelgesellschaften. Die pflegen die Traditionen der Regionen, in denen man lebt, die feiern die Feste und singen die Lieder, die in dieser Gegend schon immer bekannt waren und sprechen eine Sprache, die prall gefüllt ist mit Lebensfreude, Unsinn, Humor, Satire, Sehnsüchten und großen Fragen nach dem Sinn des Lebens. Dass jenseits dieser überschaubaren Lebenswelten Menschen zusammensitzen und ein „WIR“ auf den Lippen führen, das in den verschiedenen Regionen verächtlich belächelt oder gar verhöhnt wird, scheint für diese Menschen aber kein Problem zu sein: Sie sind ja Vertreter einer Zivilisation, für die sie das Mandat bekommen haben. Dass sie allerdings bei ihren Geschäften dann an der Garderobe ihren kulturellen Hintergrund abgegeben haben, halten sie sogar für eine Wohltat. Sie spüren nicht, dass sie damit die Verbindung zu den Regionen leichtfertig gekappt haben.

So scheint in diesen Tagen etwas auseinander zu driften, das nie eine Union war, das aber nun – dank der digitalen Vernetzung – ohne den bürokratischen Moloch in Straßburg und Brüssel – in eine völlig neue Verwandtenbeziehung umgebaut werden kann, in der wieder die kulturellen Besonderheiten der Regionen kräftespendend und sinngebend ihr Eigenrecht ausleben können. Dass solche eine Veränderung auch noch unglaublich kostengünstig wäre, sei nur am Rande angemerkt. Denn der bürokratische Babelturm dieser Pseudo-Union hat sich selbst ad absurdum verbaut. Das wird den Menschen in Europa allmählich klar: Nur weil etwas jahrzehntelang als richtig und gut verkauft wurde, wird es darum nicht wahrer. Wäre da der 9. November 1989 nicht ein schönes Beispiel für die Überraschung, die sich Menschen selber schenken können, wenn sie es nur wollen?

Allerdings haben sie danach leider gleich wieder vergessen, was wie eigentlich wollten. Schade. Das müssen die Europäer ja nicht auch wieder nachmachen. Einfach aus Fehlern lernen.