25 Nov

Europa – Mythos # 45

Das göttliche Dreigestirn ratlos und machtlos?

Als Hebe im Olymp die drei Langschläfer weckt, ist unten auf der Insel eben einiges geschehen, das den Brüdern da oben sicher nicht gefallen wird. Nur wissen sie noch nichts davon.  Hebe hebt sich wieder leise davon. Der Sonnengott ist schon längst unterwegs. Sein Licht bescheint auch gnädig die drei immer noch müden Götter. Hades gähnt lautstark und furchterregend, Poseidon räkelt sich unwillig weiter in seinem Daunenbett und Zeus hat schlimme Träume gehabt („Wer hat die mir hier oben eingeträufelt? Sicher eine von den eifersüchtigen Göttinnen. Wer sonst? Dieser unverschämten Europa würde ich so etwas allerdings auch zutrauen… Nur nicht wieder an  d i e  denken!“). Athena erscheint urplötzlich mit dem Frühstückstablett und stellt es klirrend auf das kleine Felsplateau, um das herum die drei weichen Ottomanen der drei Götter gruppiert sind. Und schon ist sie wieder weg. Den Anblick ihres Vaters morgens kann sie überhaupt nicht ertragen. Sie, die Kopfgeburt. „Athena? Bring was Ordentliches, Nektar und Ambrosia zum Frühstück finde ich nur langweilig und fad! Athena?“ Zeus öffnet seine kleinen Schweinsaugen und schon hat er schlechte Laune. Seine Tochter ist längst auf und davon. Mist. „Hades, können wir nicht bei dir frühstücken, mir…“ „Hä, meinst du, ich mache jetzt wegen dir erst mal Morgenlauf? Nee, kannst du vergessen, ehrlich.“ Zeus denkt, ich weiß, warum ich meinen Bruder nicht leiden kann. Poseidon grinst und spielt den Vermittler: „Leute, wir nehmen das hier einfach als erstes Frühstück, das zweite wird sich dann von selbst ergeben.“ „Schlaumeier!“ zischt Zeus unzufrieden zurück. Da schleicht sich Hermes heran, räuspert sich umständlich und legt dann aber auch gleich los: „Hallo! Schön, euch drei beim Frühstück zu treffen. Darf ich mich dazu setzen? Komme gerade von Kreta, kann einiges berichten, wenn ihr wollt!“ Die drei schauen sich immer noch reichlich verschlafen an, als hätte der Götterbote gerade Gift versprüht. Gespannt richten sie sich ächzend auf. Hermes langt zu, schmatzt, wischt sich genüsslich den Mund ab, langt wieder zu und schaut dabei ins Leere. Zeus kann nur den Kopf schütteln. „Hermes, worauf wartest du denn noch? Spann uns hier nicht so auf die Folter, leg los!“ Hermes klopft sich erst einmal den Staub aus seinem Gewand (dabei gibt er den dreien wichtigtuerisch zu verstehen, dass er eben eine ziemlich weite Reise hinter sich hat, viel Staub aufgewirbelt wurde und so.)  Schließlich hat er ein Einsehen und beginnt mit seinem Rapport: „Der Minos von Kreta hat heute Morgen einen neuen Feiertag auf der Insel bekannt gegeben.“ Die drei Brüder schauen sich missvergnügt an. „Hermes, das interessiert uns überhaupt nicht. Nichts von den Frauen, der Hohenpriesterin und Europa?“ fragt Zeus schließlich – es sollte so richtig nebensächlich klingen. Dahinter war er natürlich gespannt, ob ihr gemeinsamer Fluch gegen die Frauen von neulich schon erste Wirkung zeitigt. Poseidon und Hades nicken beifällig. „Genau!“ Hermes schaut erstaunt von einem zu anderen und fährt dann irritiert fort: „Ja, versteht ihr denn nicht? Diesen Feiertag werden die Frauen mit einem noch geheim gehaltenen neuen Tanz gestalten. Der soll ganz besonders sein.“ Zeus hält die Luft an: „Die Frauen? Was für ein Tanz? Welche Frauen?“ „Na, die, die du gerade genannt hast. Leukopa oder so…“ Hades verbessert ihn besserwisserisch: „Europa, Europa, heißt sie. Und die andere Chandaraissa.“ „Ist das wichtig?“ fragt Hermes etwas säuerlich zurück. Zeus rudert schnell zurück, Hermes soll auf keinen Fall mitbekommen, was eigentlich los ist. Der Göttervater weiß nur zu gut, was für eine Plaudertasche der Götterbote ist. Nachher erfährt Hera, seine strenge Gattin, noch von seinem misslichen Stierabenteuer mit dieser Europa. „Nein, nein, überhaupt nicht.“ „Gar nicht“, grummelt Poseidon noch hinterher. „Dann ist ja alles Ambrosia“, brabbelt beim Kauen Hermes dazu. Die drei Brüder wechseln Blicke und tun so, als wäre die Nachricht für sie überhaupt keine Überraschung. Hermes schaut noch einmal von einem zum anderen, springt auf, wischt sich ein paarmal zufrieden den Mund ab und weg ist er. Zeus kocht vor Wut. Wie kann sich dieser mickrige Minos erlauben so etwas zu gestatten? Die Frauen dürfen doch nicht auch noch eine Bühne für sich bekommen: „Das müssen wir umgehend verhindern“, zischt er los, „umgehend!“ Seine beiden Brüder nicken mitleidig. Poseidon hat plötzlich eine Idee: „Hör mal, Bruder, wäre es nicht viel wirkungsvoller, wir würden heimlich beim neuen Fest erscheinen und es voll danebengehen lassen? Sodass die Männer sich schlapp lachen, weil die Frauen wie lahme Enten und Nichtskönner aussehen?“ Zeus macht große Augen. Hades stellt sich schon mal die Szene vor und findet die Idee großartig. Er hält aber lieber den Mund. Vielleicht hält Zeus ja nichts von diesem Plan. Abwarten. „Ich kann es zwar kaum aushalten, aber ich muss zugeben, die Vorstellung, die Frauen so richtig ins Messer laufen zu lassen, wäre eine sehr angenehme Genugtuung für mich. Poseidon, so machen wir es. Tolle Idee.“ Der fühlt sich geschmeichelt und klopft seinem Bruder auf die Schulter. Hades meint nun, auch noch etwas dazu sagen zu müssen: „Wisst ihr was? Wir können von der Unterwelt durch einen Tunnel direkt zur Insel gelangen – den Ausgang dort in einer Höhle unter dem höchsten Berg kennt niemand, höchstens die eine oder andere Schlange – da machen wir dann unser eigenes Fest aus dem Tanz. Klingt gut oder? “ Hungrig greifen die drei zu. Lärmend schlürfen sie vom Nektar, schmatzen, rülpsen und zermahlen das mehlige Manna in ihren Mündern. Bevor das Schweigen peinlich wird, meldet sich Hades wieder zu Wort: „Jetzt müssen wir nur noch herausbekommen, wann dieses geheimnisvolle Tanzfest auf Kreta stattfinden soll.“ Nach einem kräftigen Schluck aus seinem Pokal antwortet ihm Zeus kurzerhand: „Das dürfte ja wohl kein Problem sein oder?“ Poseidon hat zwar keine Ahnung, wie sie das anstellen sollen, aber sein großer Bruder kommt sicher gleich wieder mit einem seiner tollen Vorschläge.

22 Nov

Europa – Mythos # 44

Die minoische Wende

Ein vielsagendes Raunen liegt in der Luft. Das heftige Gewitter, das in den Morgenstunden über die Insel gebraust war, hatte der Hitze des Tages unverhoffte, kühle Frische entgegengesetzt. Unsicher, neugierig und doch mit leichtem Atem stehen die so unvermittelt gerufenen Bewohner nun im weiten Innenhof des Palastes und warten auf den Minos von Kreta. Was will er von ihnen? Neue Abgaben? Mehr Arbeit im neu entstehenden Hafen? Will er wieder junge Töchter für den Dienst im Palast oder im Tempel der Hohenpriesterin? Oder geht es um die fremde Frau, die ihn betört haben soll? Oft, wenn die Boten des Minos durch die Stadt schreiten und ihre Hörner blasen, gab es nichts Gutes zu hören. War das Gewitter schon eine Vorwarnung gewesen? Zürnten vielleicht sogar die Götter? Dennoch ist hier und da in der Menge ein verhaltenes Lachen zu hören. Schließlich ruht die Arbeit, solange alle im Palast versammelt sind.

Dann erneut die Hörner. Es wird still, sehr still. Fast lautlos öffnen sich die Flügeltüren; alle blicken gebannt auf den Gang, über den nun der Minos zu ihnen heraustritt. Nur ein Flattern der Vögel ist zu hören. Sie machen sich davon. Ahnen sie Schlimmes? Oder wollen sie bloß zum Fischfang aufs Meer los? Aber was ist das? Hinter ihm – die Wächter, die ihm den Thron heraus bringen, hasten zu dem erhöhten Platz an der Kopfseite des großen Gevierts – erscheinen Frauengestalten. Viele sind es. Vorne weg Chandaraissa. Die Menge freut sich, denn die Hohepriesterin gilt als Wohltäterin. Und mit ihr treten ihre Priesterinnen hervor, alle in lange graue Tücher gehüllt, aus denen nur Hände und Gesichter herausragen. Was wird das werden? Ist jemand gestorben? Dann hätte man den langen dunklen Ton der Klagetuba längst hören müssen. Da war aber keiner gewesen. Und jetzt tritt noch jemand aus dem Halbdunkel des langen Ganges nach draußen. Die fremde Frau. Europa, so heißt sie wohl. Das hat sich längst herumgesprochen. Trotz der Stille ist die wachsende Neugier fast mit Händen zu greifen.  Die meisten machen lange Hälse, man will nichts verpassen. Auf den Stufen unterhalb des Throns stehen die grauen Frauen nun im Halbkreis alle da. Sagen keinen Ton, fast bewegungslos. Der Minos scheint die angespannte Stille zu genießen. Langsam schaut er sich um. Mal nach rechts, mal nach links. Er wartet. Alle können sehen, wie die ganz in Grau gekleideten Frauen atmen, wie sich die Brüste langsam heben, dann wieder sinken. Nur sie wissen, was jetzt geschehen wird.

Lange hatten sie mit ihrer Hohenpriesterin beraten, tagelang. Hatten nachgedacht, probiert, verworfen, neu entworfen. Hatten geübt. Europa hatte so viele Ideen für die Schrittfolge, die Tonfolge, die Stofffarben gehabt. Wie aufgeregt sie gewesen waren. Denn allmählich war ein Bild im großen Tempel der Göttin gewachsen, das sie so begeisterte. So etwas hatten sie noch nie versucht, noch nie gewagt. Ein Tanz, dazu Gänsehaut machende Töne, ein Aufeinander Zugehen, ein Sich Miteinander Verweben, wie in einem bunten Teppich, der wieder in einzelne Stränge zerfällt und wieder neu zusammen gewoben wird. Mal ein Sternenmuster, mal ein Viereck, das sich verkleinerte, dann wieder vergrößerte und mitten drin Europa, die wie ein roter Pfeil durch alle getanzten Formen hindurch flog, alle dann hinter sich her zog, bis eine neue Form wie aus dem Nichts heraus entstand. Bunt, geordnet, leicht und schnell zerfallend und in neue Bewegungen der Arme und Beine mündend. Hin und her und immer wieder und immer schneller und immer lauter, bis alles wieder abebbte, verklang, sich verlangsamte, sich beruhigte, um dann aufs Neue wieder anzuschwellen. Das Schönste aber waren die Gewänder. Denn unter dem grauen Mantel trugen sie fast völlig durchsichtige, leichte Tuchbahnen um sich gewickelt, die ihre Figur in den verschiedensten Farben verbargen und doch wieder nicht. Sie konnten sich zwar bei ihrem neuen Tanz nicht selber sehen, aber sie konnten es sich so gut vorstellen. Zumal Chandaraissa ihnen hinterher wortreich erzählte, wie wunderbar ihr Kunstwerk wirkte. Und Europa war die Vortänzerin. Die Schönste. Es musste dem Minos gefallen. Und nicht nur ihm. Da waren sie sich alle einig. Sie lachten, kicherten, schwärmten und sangen leise die Töne nach, die sie mit ihren Instrumenten geübt hatten. Drei besonders begabte junge Priesterinnen erwiesen sich als wahre Musikanten. So waren sie zu einer Zaubertruppe geworden, die sich selbst verzauberte und nur darauf wartete, auch die Zuschauer zu umgarnen.

Dann war es noch einmal spannend geworden. Chandaraissa und Europa hatten um eine Audienz beim Minos nachgesucht. Sie mussten ja  i h n  davon überzeugen, dass ein neues Fest gefeiert werden sollte, das seine Weisheit preisen sollte, das den Frieden zwischen den Männern und den Frauen besiegeln sollte, das alle begeistern sollte. Europa hatte sich zu diesem Anlass das Tanzgewand angezogen, hatte sich vor ihm aus dem grauen Mantel geschält und ihn staunen lassen. Ja, er war sprachlos gewesen. Zuerst. Chandaraissa und Europa konnten sehen, wie erregt er war, wie ein fast irrer Glanz in seinen Augen wuchs, wie sein Atem schwer und schwerer ging, er sich mit seinen Händen fest an den Thronlehnen halten musste. Dann hatte er sich wohl wieder unter Kontrolle. Spielte den unentschlossenen, zögerlichen, obwohl er am liebsten gesagt hätte, er wolle den Tanz sofort und zuerst nur für sich allein sehen und hören. Aber er durfte natürlich nicht als überwältigt dastehen. Also schwieg er lange, als wenn er sehr, sehr lange nachdenken müsste. Die beiden Frauen hatten das Spiel längst durchschaut, spielten aber ebenfalls mit und mimten die völlig verunsicherten und ängstlichen Antragstellerinnen, die befürchten mussten, dass ihre Bitte durchfallen würde. Schließlich hatte der Minos wohl das Gefühl gehabt, die Frauen lange genug auf die Folter gespannt zu haben, ließ ein Lächeln in seinem finsteren Gesicht wachsen und rang sich scheinbar zu einem Ja durch. Chandaraissa und Europa waren so erleichtert, dass sie fast weinend vor Freude in die Knie gingen, die Hände dankend falteten und ihn entwaffnend anstrahlten.

So war das gewesen und jetzt würde der Minos von Kreta es bekannt geben. Ein neues Fest. Für alle. Und als Geschenk der Priesterinnen und Europas ein Zaubertanz. Beim nächsten Vollmond soll es abends am Strand als Fest des Volkes – vom Minos gewährt – stattfinden. Es soll reichlich zu essen und zu trinken dazu geben. Alle sollen sich freuen können. Und hinterher würden alle mit Fackeln in einer langen Prozession zum Tempel der großen Göttin ziehen um gemeinsam zu danken.

Jetzt haben sich auch die vom Gewitterregen frisch gewaschenen Sonnenstrahlen bis in den Innenhof herunter gesenkt. Die Wärme tut allen gut. Sie schmeichelt den Sinnen, regt die Phantasie der ungeduldig Wartenden heimlich an. Das Raunen, das den Auftritt der Frauen angefacht hatte, verklingt sofort, denn der Minos erhebt sich bedächtig, lächelt freundlich auf sein Volk herab und verkündet dann umständlich seine Neuigkeit, die in der Geschichte der Insel alles verändern wird. Das aber weiß weder der stolze Verkünder noch die verblüfften und hoch erfreuten Zuhörer. Von den drei Götterbrüdern ganz zu schweigen. Sie haben dummerweise diese wichtige Ankündigung einfach oben im Olymp verschlafen.

22 Nov

Europäer – Verraten und verkauft? (Meditation # 54)

Das kurze Gedächtnis der Schnelldenker

Schon vergessen? Hilary hat gegen Trump ordentlich verloren. Auf ganzer Linie. Was waren da die Damen und Herren in den Medien und Parteien erschrocken, überrascht, entsetzt, befremdet, enttäuscht. Wie wortreich wurden da die Girlanden ernsthaften Nachdenkens geschwungen: Wie war es möglich, dass man sich so getäuscht hatte? Wie konnten die großen Umfrage-Institute so falsch gelegen haben? Warum hatte man die kostenlose Medienpräsenz von Trump – die etablierten Medien beschäftigten sich ja genüsslich mit seinen unprofessionellen Entgleisungen, als gäbe es sonst nichts zu berichten –  Tag und Nacht  so übersehen können? Wie konnte man nur den armen weißen Mann des Mittleren Westens und des Rostgürtels vergessen? Und warum hatte man nie darüber nachgedacht, wie diese selbstgerechte Dauer-Medienschelte auf die Arbeitslosen, die verschuldeten Hypothekenopfer und Illegalen wirken würde?  Und was könnten dieser Wahlkampf und sein Ergebnis für die Verhältnisse in Europa bedeuten? Wie würden die hiesige Populisten davon profitieren? Wie müsste man – gerade vor den hier anstehenden Wahlen und Referenden – einem ähnlichen Trend wie in den USA gegensteuern?   Wahrlich, wirklich gute Fragen – und zahllose Akademiker im löchrigen Büßerkleid sozusagen!

Ja, man ging verbal so richtig in sich – für einen Moment. Angesichts der unablässigen Nachrichten- und Bilderflut, die längst Tsunami-Charakter angenommen hat, scheinen das Establishment und die das politische Tauziehen kommentierende „Intelligentsia“  den Schock und die geäußerte Selbstkritik aber flugs wieder im Mottenschrank verstaut zu haben.  Als wäre es nichts weiter als Schnee vom letzten Jahr.

Neue Themen, die „natürlich“ alle Aufmerksamkeit für sich beanspruchen,  bewegen die Medien stattdessen: Der blasse Präsidentschaftskandidat der Großen Koalition, die sympathische Absichtserklärung der derzeitigen Langzeitkanzlerin und die neue Statistik der Arbeitslosenzahlen – wie jetzt schon länger: einfach umwerfend positiv. Ja, man war sogar bereit, den oft ironisch kommentierten Ausspruch der Kanzlerin von der Alternativlosigkeit, sich selbst zu eigen zu machen: Sie sei in der derzeitigen schwierigen Gemengelage wirklich alternativlos, ehrlich! Schwupp – und schon ist man wieder in der alten Spur der liberalen Denkhaltung, die ausgewogen argumentieren möchte, dabei aber die vielen Fragen, die eben noch ins Haus standen, unter den Tisch kehrt.

Ist das polemisch? Nein. Am Beispiel des Präsidentschaftskandidaten der Linken lässt es sich anschaulich verdeutlichen, diese professionelle Vergesslichkeit: Ähnlich wie in den USA, wo nur Bernie Sanders die wirklich brennenden Themen der von Armut bedrohten Weißen aufgegriffen hatte, ist es jetzt der Armutsforscher Butterwegge, der den Finger in die eigenen Wunden legt: Das eigentlich Problem unserer hysterischen Konsumgesellschaft sei die prekär  arbeitende alleinerziehende Frau, die vor Altersarmut sich ängstigenden älteren Arbeitnehmer, die in Zeitverträgen zappelnden Jungarbeiter – alles Teilnehmer am hiesigen Gesellschaftsspiel, das für sie einfach nur schlecht läuft, von denen da oben aber gnadenlos schön geredet wird. Die Schere zwischen arm und reich gehe eben nicht nur in den USA rapide auseinander, sondern auch hierzulande. Die Kanzlerin, deren Integrität nach wie vor unbenommen ist (was angesichts der schier uferlosen Korruption allerorten geradezu wunderbar anmutet), stellt redlich die neuen Zahlen in den Mittelpunkt ihrer Situationsanalyse: Noch nie waren so viele in Arbeit und Brot wie jetzt – in den letzten zwanzig Jahren! Dem könnte sie allerdings (oder besser für sie und für uns alle, denen doch eine unbenennbare Angst im Bauch grummelt, dem müsste sie) die unerträglichen Zahlen an der Steuerfront gegenüberstellen – etwa so ungefähr ( Genauigkeitsfetischisten sollen sich währenddessen ruhig oder furchtbar aufgeregt mit den Stellen hinter dem Komma befassen, uns lenkt es nur von den wirklich Problemen ab): 19% Mwst. für ein Paket Windeln, 7% für ein Pferd und 0% für das Aktienpaket…

Summa: Nur wer sich ernsthaft im Umfeld solcher Themen bewegt, wird im kommenden Jahr ein Ohr beim Wähler finden, der sonst wütend dahin gehen wird, wohin die „Verwandten im Geiste“ in den USA neulich scheinbar völlig unvorhersehbar abgewandert waren. Sehr zornig, verzweifelt, enttäuscht und gering geachtet. Wenn in diesen Tagen Butterwegge von den Medien süffisant lediglich als bedauernswerter Pappkamerad kommentiert wird, zeigt das nur, dass man nicht bereit ist, die eigentlichen Themen dieser zunehmend ungerechten Gesellschaft aufzugreifen: „Er hat keine Chance, will sie aber nutzen!“

Und das gilt nicht nur für Deutschland, sondern für alle Länder Europas. Die EU hat in der Vergangenheit ebenfalls keine brauchbaren Veränderungen in der Sozialen Frage bewirkt, denn die Jugendarbeitslosigkeit ist nach wie vor europaweit unerträglich hoch – also ist auch die EU für die Enttäuschten keine Alternative. Deshalb der wohlmeinende Ratschlag: Die anfangs gestellten Fragen neu stellen, auf die Länder Europas anwenden und die liberale Pseudo-Wundertüte für den Fasching aufbewahren, nicht aber dem frustrierten Zeitgenossen zumuten! Sonst könnte sich als bester Wahlslogan für 2017 in Europa folgender herausstellen: Europäer – verraten und verkauft!