20 Feb

Europa – Verraten und verkauft? (Meditation # 59)

Die kopernikanische Wende Teil II

Wir spätgeborenen Europäer sprechen gerne beim Blick zurück in die eigene Geschichte von der sogenannten Kopernikanischen Wende als der Zäsur, die den schier unaufhaltsamen Aufstieg Europas für die nächsten 500 Jahre zur Welt bestimmenden Macht einläutete. Doch war es wirklich eine Wende und ein unaufhaltsamer Aufstieg? Oder war es nicht bloß die Fortsetzung bekannter Muster und Mächte in neuem Gewand? Angesichts der völlig unüberschaubaren Gemengelage an Krisen und Katastrophen, mit denen die Medien derzeit ihre Auflagen wieder nach oben ausrichten können, geraten selbst die blauäugigsten Europäer in Erklärungsnot: Religionskriege, Flüchtlingsströme, Armut, Hungersnöte, Epidemien überall da, wo europäische Mächte ihre Spuren und Nachahmer hinterlassen. Das Wissen der Neuzeit nutzte nur den fremden Europäern, nicht den bevormundeten Welten, die sie erobert und ausgebeutet hatten. Seit 500 Jahren nun schon.

Jetzt wäre ein günstiger Zeitpunkt gekommen, nicht nur diese Sicht der Dinge zuzugeben, sondern auch erstmals denkbare positive Folgerungen daraus einzuläuten:

  1. Warum sollte es nicht möglich sein – bei diesem hohen Grad an globaler Vernetzung – dass die Europäer diese unheilvolle Geschichte zu einem Neuanfang in das totale Gegenteil bisheriger Muster wenden : Nicht mehr zu bevormunden, auszubeuten, notfalls sogar zu bekriegen, sondern den entstandenen Krisenlandschaften erstmals ohne Maske zu begegnen und erstmals wirklich zu helfen statt auf europäische Standards einzunorden?

  2. Warum sollte es nicht möglich sein – bei der nicht mehr weg zu redenden Gefahr für den gesamten Planeten in Sachen Trinkwasser, Regenwälder und Überbevölkerung – statt Mauerprojekte als der Weisheit letztem Schluss anzupreisen (Jerusalem, Mexiko, Ceuta und Melilla), lieber echte Teilhabe und Bildung global zu befördern?

  3. Warum sollte es nicht möglich sein – bei dieser offensichtlichen Offenbarungseid-Situation weltweit – dass die Alte und die Neue Welt die bisher einseitig genutzten Potentiale mit all ihren negativen Auswirkungen für die anderen erstmals in einer gemeinsamen Anstrengung mobilisierten, um eine kopernikanische Wende für alle zu ermöglichen?

  4. Warum sollte es nicht möglich sein – nach so vielen falschen Versprechungen und Enttäuschungen – dass die europäischen Staaten endlich die Hymne der Vielfalt anstimmen und diese Botschaft in die Welt hinaus tragen, um so etwas wie Wiedergutmachung zu beginnen für Jahrhunderte lange anmaßende Bevormundung, gewaltsame Vereinnahmung und unerbittliche Ausbeutung wertvollster Resourcen und kultureller Entfremdung?

  5. Warum sollte es nicht möglich sein – nach so einseitiger und habgieriger und rassistischer Verblendung und Bereicherung – dass die europäischen Staaten sich erstmals zum Anwalt all derer machen, die die nachhaltig Geschädigten und Betrogenen sind; also großen Konzernen und Kartellen die Stirn bieten und die Verteilung des lokalen Reichtums fair und transparent für die nachwachsenden Generationen organisieren und beschützen?

Die EU und die USA stehen unübersehbar vor einem Scherbenhaufen ihrer vollmundigen Versprechungen des Fortschrittsgedanken. Der pure Eigennutz hat sich endgültig erwiesen als das, was er eigentlich ist: Ein mit humanen Vokabeln verkleidetes Konzept, das nicht mehr nur die anderen verzweifeln lässt, sondern nun auch die eigenen Leute in Angst versetzt, weil so viele Notleidende unangemeldet anklopfen und Zutritt wünschen.

13 Feb

Europa – Verraten und verkauft? (Meditation # 58)

Kassandra meldet sich mal wieder vergeblich zu Wort

Es ist fast so wie früher – nur eben etwas prosaischer: Der König ist tot, es lebe der König, so klang das früher. Heute folgt auf den alten Präsidenten ein neuer. Gewählt natürlich, nicht von Gottes Gnaden, klar. Aber welche Wahl hatten denn die Wähler? Das Volk soll weise davon verschont bleiben, den Volkswillen zu benennen. Bonn ist nicht Weimar. Klar. Präsidiale Muster hatten sich nicht bewährt. Der Parlamentarische Rat wollte die Legislative stärken. Und dass einmal das Parteiensystem diese Legislative einschläfern würde, konnte man damals ja noch nicht ahnen. So fällt diese Aufgabe hierzulande der Bundesversammlung zu: Mehr als Tausend an der Zahl. Und wen haben sie gewählt? Überraschung! Nein, keine Überraschung. Im Vorfeld war alles besprochen und abgesegnet worden. Die beiden großen Parteien hatten bei der Güterabwägung einen gemeinsamen Kandidaten aus dem Hut gezaubert. Über die Medien durfte sich das Volk klug machen: Es wird der, der ins Bild passt. Wer denn sonst? Butterwegge? Na also, wirklich!

Vor ein paar Wochen in der sogenannten Neuen Welt das gleiche Spiel. Sanders? Na also, wirklich!

Die entscheidende Truppe waren die Wahlmänner, nicht das Volk. So kam eine Mehrheit zustande, die nicht der Mehrheit des Volkes entsprach, aber völlig verfassungskonform war: Trump hieß der Joker. Der hatte hoch gepokert, mit Tarnen und Täuschen, und hatte gewonnen. Jetzt reibt man sich verdutzt die Augen und macht einen in Schadensbegrenzung.

Da scheinen wir in Europa doch viel klüger zu sein. Überall in Europa wachsen die Parteien, die die Segnungen der Globalisierung und der EU für übles Strohfeuer brandmarken und bei den erschöpften Demokraten an Boden gewinnen, weil die es einfach satt sind, gebetsmühlenartig immer wieder über den Tisch gezogen zu werden, während Arbeitsplätze wegrationalisiert, Banken mit Steuergelder gerettet und Boni nach wie vor automatenhaft weiter prächtig ausgeschüttet werden – was für Fehler die Verantwortlichen auch immer zu verantworten hätten.

Steinmeier wird keinen Schaden anrichten, für ihn gibt es kein Tarnen und Täuschen, er bleibt sich treu. Agenda 2010 – er, der Mitarchitekt. Und die selbstkritischen Texte nach Brexit und Trumpwahl – wir müssen auch die ins Boot holen, die sich abgehängt fühlen – scheinen Schnee vom letzten Jahr zu sein. Leute, die vor vier Jahren Obama gewählt hatten, wählten diesmal Trump. Wäre es nicht gut daraus eine kleine Lehre zu ziehen? Allein schon der Hype um den neuen Kanzlerkandidaten der SPD sollte doch nur zu deutlich machen, dass der Wähler des Wahljahres 2017 keine Parteien wählen wird, sondern enttäuscht oder zornig oder aus reinem Mutwillen demjenigen seine Stimme geben wird, der nicht mit den alten Rezepten zur EU hausieren geht, sondern mit Vorschlägen kommt, die die Ängste, die Wut und die Resignation so vieler Europäer bedient.

Die Harmonie-Orgie im Bundestag bei der Wahl der neuen Bundespräsidenten mit glücklichen Menschen und schönen Blumensträußen könnten vielen Zuschauern übel aufstoßen – als gäbe es keine Schere im Land, die immer weiter auseinander geht; der Jubel der Linken über das Ergebnis ihres Kandidaten Butterwegge wurde höflichst weg gelächelt, gehen wir doch schnell wieder zur Tagesordnung über: Ach ja, Griechenland. Stimmt. Denen geht es ja noch viel schlechter. Die Bundesrepublik als großer Gläubiger der EU ( so um die 750 Milliarden Euro…!) besteht nach wie vor darauf, dass Griechenland (mit Schulden so um die 350 Milliarden Euro…!) mal endlich Wirkung zeigt. Irgendwann ist die Geduld eben zu Ende. Oder? Die peinliche Frage allerdings, wie man einem Land wie Griechenland Kredite in solcher Höhe gestattete, darf nicht gestellt werden, sie fiele nämlich auf die Geldgeber zurück und die waschen natürlich mit ernster Miene ihre Hände in Unschuld.

Wenn am Wahlabend in den kommenden Wahlmonaten die Analysten die Wählerwanderungen auf bunten Grafiken dem europäischen Bürger ins Wohnzimmer schicken werden, werden die sich wahrscheinlich gar nicht wundern, was da sichtbar werden wird. Die etablierten Parteien werden aber die Welt nicht mehr verstehen vor Staunen und Gruseln. Solch eine pessimistische Prognose möchte man wohl gerne widerlegt sehen. Aber das Wünschen bleibt auch in sogenannten postfaktischen Zeiten den Märchen überlassen.

10 Feb

Europa – Mythos # 48

Die Mutter Europas kehrt aus der Unterwelt zurück

Nebelschwaden zerstäuben lautlos in früh wehenden Lüften. Schroffe Felswände glänzen matt von kaltem Morgentau. Es liegt ein müdes Raunen in der Luft wie Klagelaute von tief herauf. Aus Klüften melden sich fahle Schatten so zu Wort:

„Telephassa, Telephassa, komm, lass das Weinen, weg mit dem Zorn! Wir führen dich zu lichteren Gegenden. Dorthin, wo deine Tochter Europa hingelangte, als sie vor der Gewalt ihres Vaters floh. Erinner‘ dich an deine alte Kraft und Würde – du hattest einen lichten Auftrag von uns allen und du hattest so gut begonnen. Schau doch, wie deine Tochter rätselt, was sie denken, was sie tun soll!“

Wie in einer kleinen Einsiedelei wacht sie nun auf. Die Wunden sind wunderbar geheilt. Der Mörderbande Tat zum Glück umsonst gewesen. Die wohlbekannte Königin war ja längst mit ihren drei Söhnen Kadmos, Phoinix und Kilix heimlich geflohen und so den Häschern entgangen. Zusammen wollten sie die entführte Tochter und Schwester Europa finden und befreien. Telephassa erinnert sich jetzt daran und lauscht dem wispernden Flüstern, das an ihr luftig vorbei huscht. Langsam gewöhnen sich die immer noch müden Augen ans junge Morgenlicht. Es tut gut erwacht zu sein, wenn auch die Albträume schwer an ihr zerrten.

Agenor, ihr blindwütiger Gatte, tobt da wie ein Tier. Fleht Poseidon, seinen Vater, um Hilfe an. Vergeblich. Denn der feiert gerade mit seinen Brüdern Zeus und Hades den Beginn der neuen Männermacht. Wie sie zumindest hoffen. Zuviel haben sie getrunken, zu laut gegrölt, zu schwer gegessen. Europa verfluchen, die Frauen unter die Knute der Männer zwingen, das ist nach ihrem Geschmack. Und auf dem Tanzfest, das mit dem Beginn des Frühlings auf Kreta erstmals gefeiert werden soll, wollen sie der Hohenpriesterin und Europa einen unvergesslichen Denkzettel abliefern. Einen demütigenden, einen hämischen. Zeus muss eben einfach dieser phönizischen Prinzessin zeigen, dass ihr Hochmut dem Obergott gegenüber gnadenlos geahndet werden muss. Gnadenlos. Und bald. Wie unselige Geister der Unterwelt, so tanzten sie durch ihren Traum. Gräulich lachend und geifernd. Sie wurde an eine kalte Wand gedrängt. Die drei schienen sie erdrücken zu wollen. Lüstern und todbringend. Aber es war nur ein Traum. Erwacht durfte sie – geleitet von den guten Geistern der großen Göttin – aus der Unterwelt entweichen. Zu dumm aber auch, dass Hades gerade unterwegs ist und seinen Kater auskuriert. So war es eine leichte Flucht. Sie sollte sich nur nicht umdrehen, rieten ihr die einflüsternden Stimmen. Wozu auch, dachte sie, wozu?

Auf welches Meer schaut sie da jetzt? Wo sind ihre drei Söhne geblieben? Was soll ich tun? Telephassa lehnt sich erschöpft an die kalte Felswand. Die Stimmen werden immer leiser, als wollten sie sich von ihr verabschieden. Aber sie hat doch noch so viele Fragen! Flehend schließt sie die Augen. Wartet. Hofft. Dann kommen aber wie von selbst die rettenden Gedanken. Ich habe einen Auftrag, die Göttin steht mir bei. Ich werde zurück zu den Menschen gehen, werde Fragen stellen, werde Hilfe bekommen. Tief atmet sie ein, genießt die frische Morgenluft und die wohltuende Stille. Und wie eine Einladung klingt ihr das ferne Rauschen der Brandung. Komm, Telephassa, komm und lass dich nicht aufhalten! Der große, Leben spendende Äther trägt dich, verbindet dich mit allem, auch mit deiner Tochter Europa, auch mit deinen Söhnen. Also, mach dich auf den Weg, hilf ihr mit all deiner Weisheit, Liebe und Gelassenheit! Was wohl die Möwen meinen, die gerade so laut unter ihr am Strand zu streiten scheinen? Oder ist es Lebensfreude, Ausgelassenheit, die sie so schreien lässt?

Und ist der Mut ihrer Tochter Europa nicht staunenswert? Ganz alleine hat sie sich aufgemacht.

Telephassa will sie finden, will ihr helfen. Es fühlt sich gut an. Sie will auf jedes Zeichen, das sich in ihr – wenn auch noch so leise – rühren sollte, lauschen, damit sie nicht in die Irre geht. Ohne auch nur eine Ahnung zu haben, was die nächsten Tage bringen werden, macht sie sich weiter tief ein- und ausatmend auf den Weg. Sie will am Meer entlang gehen, bis sie auf Menschen stößt, die ihr weiterhelfen werden. Dieser Vorsatz, den sie da gerade in sich wachsen lässt, ist wie ein erfrischendes Getränk, das sie belebt, stärkt und sicher macht. Es ist gut, was ich vorhabe. Auch der Albtraum hatte seinen Sinn darin. Er liegt hinter mir wie eine wichtige Warnung: Sei auf der Hut, die fast schon vergessene Botschaft vom Glück will weitererzählt werden. Jeden Tag muss sie neu gelebt werden, erneut verteidigt werden. Nur so wird sie in den Herzen der Menschen wachsen können, nur so kann sie den Menschen Glück bringen, Lebensfreude. Tu es!

Telephassa hüpft fast vor Freude den Hang hinab zum Meer. Ihr Übermut verleiht ihr geradezu Flügel. Alles um sie herum scheint sie wie in einer Sänfte zu tragen. Leicht, heiter, mühelos. Der Seevögel Tanz am Himmel, der schäumende Glanz der Wellen, das wärmende Licht des Morgens – all das tut ihr so gut und gibt ihr das Gefühl zuhause zu sein. Beschenkt, beglückt, begeistert.