30 Dez

Europa – Meditation # 77

Ein Pamphlet der miesen Art oder:

Erinnern, Denken – ein unablässiger Fluss von scheinbar immer gleichen Bildern

Europa – jedem fällt dazu etwas ein. Klar doch. Aber wie auch das Zählen von Jahren ein ziemlich willkürliches Unterfangen ist – in welcher Tradition auch immer – so ist auch das Erzählen einer „großen“ Geschichte nichts anderes als das wiederholte Aneinanderreihen vieler kleiner Geschichten. Wie Perlen an einer Kette, deren anfänglicher Träger längst in Vergessenheit geraten scheint. Gut so. ?

Asien – jedem fällt etwas dazu ein. Bestimmt. Das Reich der Mitte, das Tadsch Mahal, die Samurai. Die Opiumkriege. Die was? Schon gut. Auch nur eine weitere oft erzählte Geschichte, die wir Europäer längst vergessen haben.

Die Amerikas – ach die, ja die sind doch so etwas wie der Appendix (der Blinddarm) von uns Europäern. Alles, was uns lieb und teuer war, haben wir dabei mit über den großen Teich genommen, um drüben alles viel besser, freier, glücklicher zu gestalten. Stimmt’s? Und ist ja sowas von gelungen, echt!

Afrika – na ja, dazu fällt uns Europäern doch sowieso nichts besonderes mehr ein. Immer nur die gleiche Geschichte: Armut, Krankheit, Tyrannen, Woodoo-Kram. Dazu müssen wir Europäer nun wirklich nichts mehr sagen. Die sollen sehen, wie sie klar kommen. Oder?

Australien – also das muss jetzt aber wirklich nicht auch noch sein. Wirklich. Waren da nicht die Sträflinge der Engländer untergebracht worden? Wir Europäer hatten eben immer unser Päkchen dabei, das uns entlarvte als das, was wir schon immer waren: Selbstgefällig, unerbittlich und voller christlichem Sendungsbewusstsein. Also auch wieder nur ein misslicher Ableger von uns Europäern?

Wir Europäer erinnern uns gerne an all die Großtaten, die wir der Welt vermachten. Sie sollen hier nicht wieder alle aufgezählt werden. Leicht könnten wir damit ein abendfüllendes Programm gestalten – langweilig inzwischen. Zumal es zu einer allzu einseitigen und arg fehlerhaften Erzählung verkommen ist. Genug davon. Genug.

Längst haben die Staffel andere übernommen. Nicht mitbekommen? Dumm gelaufen. Da werden sich nun nicht nur der Blickwinkel, die Zählung der Jahre und die Wertschätzung der Europäer drastisch ändern, sondern auch die Rolle, die wir Europäer dabei spielen werden. Wovon redet der denn da? HÄ?

Der Mythos von Europa – eine Erzählung von der gewaltsamen Entführung und Vergewaltigung einer phönizischen Prinzessin nach Kreta mit Hilfe einer plumpen List eines geilen Gottes – könnte von Anfang an falsch erzählt worden sein. Aber mit voller Absicht und mit vollem „Erfolg“.

Eine neue Erzählung der alten Geschichte könnte nun beginnen, nachdem sich die alte als überholt, verbraucht, verlogen und überfällig erwiesen hat. Die neue müsste dann endlich gekennzeichnet sein von Bescheidenheit, von Überschaubarkeit und von Glaubwürdigkeit und Respekt vor dem Erdball, der uns unser mieses „Spiel“ überhaupt ermöglicht hat.  Wir winzigen Erdlinge, die wir sind.

21 Dez

Europa – die Fortsetzung der alten Geschichte # 57

Europa gelingt mit einer List das Unfassbare

Europa! Wie schön, dass du kommst – ich wusste es, ich wusste es!“ flüstert Archaikos ihr ins Ohr, als er sie lustvoll begrüßt und umarmt. Dann nimmt er sie an der Hand und führt sie wortlos und fast im Laufschritt zu seinem kuppelförmigen Schlafgemach. Seine Leibwache hatte er bereits in die Vorräume verbannt. Europa lässt sich einfach mitziehen. Der Raum empfängt die beiden mit verführerischen Angeboten für die aufgeregten Sinne: drei kleine Feuer brennen in metallig glänzenden dreibeinigen Behältern, dazwischen jeweils drei Duftschalen, die sie gleich mit schwerem Mandelholzgeruch verwöhnen, und an den hohen Wänden flackern drei Fackeln und senden buntes Lichtgetanze ins umarmende Rundgemäuer und zu dem ungleichen Paar, das sich gerade auf der weiten Liege, schaffellbedeckt, niederlässt. Er will sich Zeit lassen, hat sich Archaikos in seinem Tagtraum vorgenommen, langsam will er die schöne, immer noch fremde Frau, für sich und seine sinnlichsten Phantasien gewinnen. Und sie spürt es sofort und lässt ihn gewähren. Er soll sich ganz als der Starke fühlen. Dann wird sie ihn umso leichter überraschen können mit ihrem Wunsch. Später. Sie genießt es jetzt. Seine Liebkosungen wollen keine Stelle ihrer Haut auslassen, so scheint es. Und so anders als neulich in der Höhle mit IHM…Sie spürt Archaikos hinterher und stöhnt ihn leise in immer mutigere Zärtlichkeiten. Halb entkleidet sie sich selbst, halb hilft er ihr und sich. Aber auch dann nimmt er sich Zeit. Europa staunt, wie sehr er ihr huldigt mit seinen Berührungen, die die feuchten Lippen vorantreiben. Bis sie schließlich eins werden. Wollüstig stöhnend geben sie sich dem anderen hin und vergessen dabei die Gerüche und Lichtspiele um sie herum. Umsomehr saugen sie die Düfte ihrer Körper ein und gleiten voller Lust über die immer feuchter werdende Haut. Schweratmend und mit geschlossenen Lidern, durch die immer noch ein schwacher Schimmer warmen Fackellichts sickert, lassen sie schließlich voneinander ab. Wie zwei erschöpfte Tiere liegen sie da, schwer atmend auf dem Rücken nebeneinander. Jetzt ist der Augenblick gekommen, auf den Europa gewartet hat. Sie beginnt leise zu summen. Archaikos legt sanft seine Hand auf ihre schwitzende und glänzende Haut:

„Was ist das für eine Melodie, die du da summst, Europa?“

Flüsternd hatte er diese ersten Worte nach ihrem Sinnenrauschfest ausgesprochen. Europa lässt sich lange Zeit mit Antworten. Sie dreht sich langsam zu ihm hin, stützt sich mit einem Arm ab, um ihn besser betrachten zu können. Ihn, den furchtlosen und mächtigen Minos von Kreta.

„Es ist die Melodie, zu der wir beim nächsten Vollmond vor dir tanzen werden.“

Archaikos muss lachen. Die Priesterinnen hatten ihn ja tatsächlich überredet zu diesem neuen Festtanz. Er hatte zugestimmt. Die Melodie gefällt ihm. Und er ist jetzt völlig entspannt und angenehm erschöpft.

„Stimmt. Ich bin sehr neugierig, was wir da zu sehen bekommen werden.“

Auf diesen Satz hat sie gewartet. Jetzt will sie scheinbar völlig aus dem Augenblick geboren ihm ein Versprechen entlocken, das so aussehen soll, als wäre es nur ein Spaß, ein bloßer Einfall.

„Da kommt mir ein Gedanke. Wenn er dir gefallen sollte, unser neuer Tanz (und Europa ist sich sicher, dass er es wird), dann könntest du doch einfach so – aus einer guten Laune heraus – meine Hand ergreifen und sagen: Du sollst die neue Königin an meiner Seite sein, denn so etwas Schöner habe ich noch nie gesehen.“

Jetzt richtet sich auch Archaikos auf, schaut sie völlig verblüfft an, schüttelt den Kopf, so dass Europa schon denkt, dass es schief gegangen ist, und sagt dann aber:

„Klar, warum nicht? Das verspreche ich dir.“

18 Dez

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 56

Europa will es wissen: Archaikos soll es sein

Europa – gut gelaunt und begeistert von den jungen Priesterinnen – lässt sich im Palast bei Archaikos anmelden. Die Wachen, misstrauisch wie immer, verschwinden knurrend im langen kühlen Gang, in dem Licht wie bunte Fäden zu schaukeln und zu flimmern scheint. Ist es ein gutes Zeichen, Göttin, fragt sich Europa und wartet auf deren Antwort beim Warten auf die Rückkehr der Wächter. Die Stille tut ihr gut, sie lehnt sich genüsslich an die kühle Wand und meint die göttliche Stimme zu hören. Zwar nur flüsternd leise, aber doch vernehmbar: Sei stark, die altvertrauten Lieder werden weiter helfen. Was soll das nun wieder heißen, denkt sie unzufrieden. Sie könnte jetzt deutlichere Botschaften viel besser gebrauchen. Tief durchatmend schließt sie die Augen, genießt dabei den weichen Luftstrom, den sie durch die Nase kräftig einsaugt, und geht in Gedanken noch einmal zurück in den Tempel: Die drei Fremden haben sich nur schlecht verstellt. Ich habe sie erkannt. ER und zwei Helfer. Der arme, er braucht also Hilfe, um mir beizukommen. Das gibt ihr noch mehr Kraft für die kommenden Stunden. Ich muss nur an mich glauben und an die Zukunft meiner Botschaft vom Glück. Da kommen die zwei auch schon wieder. Erst schattenhaft, gespenstisch, dann geschmeidig und groß.

„Der Minos von Kreta will dich jetzt sehen. Folge uns!“ sagt verächtlich der jüngere der beiden. Der ältere nickt nur fast unmerklich, dreht sich dann gleich wieder um. Die Speerspitze seiner Waffe blitzt dabei wie ein großer Stern, der am Abendhimmel zitternd strahlt. So geht es schnellen Schrittes durch die Gänge und Zwischensäle. Europa kennt sich schon etwas besser aus inzwischen. Trotzdem staunt sie über die herrlichen Tiergestalten an den Wänden, fast lebendig scheinen sie die drei laufend zu begleiten. Europa wundert sich, wie wenig fremd die Bilderwelt auf sie wirkt. Kennt sie diesen Anblick von früher her? Bei ihr zuhause, im Palast der Eltern, gab es solche eleganten Wandgemälde gar nicht. Schwarze Linien, gelbe Striche, rote Kreise. Nein, daran will sie jetzt aber gar nicht denken. Ihr herrischer Vater und die besserwisserische Mutter möchte sie lieber draußen lassen, wenn sie Archaikos trifft. Sie will leicht, heiter, reizvoll scheinen. Dann könnte es ihr gelingen.

Mit solchen Gedanken beschäftigt durcheilen sie einen Gang nach dem anderen. Schließlich machen die beiden Wächter, die sie keines Blickes gewürdigt hatten auf diesem eiligen Gang, vor der schweren Holztür der Gemächer des Minos von Kreta halt.

Dreimal klopfen sie mit ihren Speeren auf die glatten Steinplatten – dröhnend drücken die tiefen Töne gegen die Flügeltür. Europa spürt eine wohltuende Aufregung in ihrem Innern. Und schon öffnen sich die Flügel, die Wächter treten zur Seite und lassen Europa durch. Gleich hinter ihr schließen sich die hölzernen Flügel wieder, lautlos werden sie von den beiden Wächtern innen verschlossen. Sie spürt, wie deren Blicke sie zu durchbohren scheinen. Aber da kommt ihr schon Archaikos mit weit ausgebreiteten Armen entgegen. Er lacht. Also keine Gefahr? Europa wird sehen. Sie muss ihn heute Nacht für sich gewinnen, nicht nur als Liebhaber, das ist ihr ja schon längst gelungen. Nein, als Ehemann.