14 Aug

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 65

Europa schöpft neuen Mut – trotz allem.

Chandaraissa und Europa sitzen sich schweigend gegenüber. Die Sache mit den vergifteten Fischen liegt ihnen schwer im Magen. Die armen Katzen! Europa ist übel. Ist es die Schwangerschaft oder ist es der Zorn auf den gehörnten Entführer, den sie schlafend in der Höhle zurückgelassen hatte?

Hör auf, dich zu grämen, Europa, wir müssen nach vorne schauen. Unsere jungen Tänzerinnen sind so voller Eifer und Zuversicht. Dieser Vorfall darf sie nicht verunsichern. Dich auch nicht.“

Du hast gut reden, Chandaraissa. Die Albträume kommen trotzdem jede Nacht.“

Schon. Aber wir sind zusammen doch so stark. Erinner dich an den Prozess. Der Minos war so beeindruckt von unserem Auftritt, dass er seinem eigenen Minister Sardonios – dem Herrn über alle Listen und Protokolle und der Hofhaltung – nicht nachgab, sondern unsere Erklärung für wahr hielt. Hast du das schon vergessen?“

Nein, Chandaraissa, nein. Archaikos ist ja sogar bereit, mich zu heiraten – gegen den Widerstand der greisen Räte.“

Na also! Spätestens nachdem alle den neuen Tanz gesehen haben werden, wird auch Sardonios` Zeit um sein. Glaub mir.“

Aber dieser heimtückische Anschlag! ER wird so leicht nicht aufgeben.“

ER wird nie aufgeben, klar. Aber wir werden stärker und stärker werden. Thortys und Nemetos sind so leicht zu überrumpeln gewesen.“

Beide müssen lachen, wenn sie an diese Geschichte denken.

Unsere Göttin glaubt an uns – sie wird uns stets beistehen, das weißt du doch, Europa!“

Sie nickt. Was für ein Glück, dass ich solch eine Freundin habe, denkt sie und drückt die Hand Chandaraissas. Was für ein Glück!

Wie weggeblasen scheinen Angst und Kleinmut.

Komm, wir rufen alle Priesterinnen zu einer Zusatzprobe. Tanzen wird ihnen gut tun. Da kommen sie gar nicht erst auf dumme Gedanken!“

Chandaraissa strahlt. So liebt sie ihre neue Gefährtin. So entschlossen, so freudvoll. Wie ein Blitz saust dabei ein Bild durch ihren Kopf: Archaikos, der Minos von Kreta, ertrinkt. Delfine tragen ihn zu Grabe in einer Unterwassergrotte der freundlichen Nymphen. Es wird alles gut werden, denkt sie und seufzt.

03 Aug

Europa – Meditation # 108 Heimat-Text Nr. 25

Heimat – die treue Begleiterin ein Leben lang

Im letzten Heimat-Text (Nr. 24) lautete die überschrift: „Auf der Suche nach der verlorenen Heimat“ – doch jeder weiß natürlich – wenigstens insgeheim – dass man Heimat gar nicht verlieren kann, weil sie der treueste Begleiter in unserem Leben ist.

Gut. Manchmal – bei der Dauerberieselung mit Bildern, Tönen und Geschichten – kann es schon passieren, dass man glatt vergisst, dass sie uns nie im Stich lässt. Aber eben nur manchmal.

Meistens können wir uns bei ihr Rat holen, bei ihr ausruhen oder so. In einem wärmenden Gefühl von wohltuenden Erinnerungen an Tage, als noch alles wie selbstverständlich einfach nur da war: Der Kiosk an der Ecke, der Bolz-Platz, der Geruch, der morgens aus der Bäckerei quoll, die kleinen Staudämme, die man mit Begeisterung gebaut hatte, am nahegelegenen Bach, die schlanken Pappeln mit den nervenden Krähen drin, die Bank an der Bushaltestelle, wo man…

Doch jetzt scheinen solche verlässlichen Gegebenheiten immer mehr zu verschwinden. Ganze Stadtviertel sind nicht wiederzuerkennen, das Schwimmbad wird still gelegt, der Job ist nur einer auf Basis von Zeitverträgen, die Freundin hat längst einen anderen. Und das Internet hält auch nicht, was es Tag und Nacht verspricht.

Und wer ist Schuld daran? Tja, wenn man das wüsste. Aber Sündenböcke lassen sich schnell finden. Und schon ist man erleichtert, weil man nicht die ganze Zeit mit diesem unguten Gefühl in der Magengegend herumlaufen muss, sondern so etwas wie Solidarität mit Gleichgesinnten zu erleben glaubt, wenn man gemeinsam auf den Lukas haut. Auf ihn mit Gebrüll! Mensch tut das gut – wenigstens für den Augenblick, so lang es dauert…

Wenn es dann aber wieder still wird, der Kater verflogen ist, meldet sich leise, aber sehr freundlich erneut dieser verlässliche Begleiter in unserem Leben, mit unverlierbaren Stimmen, Bildern, Gewissheiten aus jungen Jahren.

Und wenn man dann ehrlich mit sich ist, schämt man sich, dass man bei diesem Sündenbock-Spießruten-Lauf doch tatsächlich mitgemacht hat: Ein begnadeter Fußballspieler mit eigenen Heimatgefühlen mag etwas falsch gemacht haben (wer macht das eigentlich nicht?), aber er ist nun beleibe nicht verantwortlich für das grotten schlechte Spiel der Nationalmannschaft- im Gegenteil, er war noch einer der besseren (wenn man so ehrlich sein will!) und mit der Gentrifizierung hat er nun wirklich nichts am Hut. Und der unselige Diesel-Skandal, der einfach unter den Teppich gekehrt wird, geht auch nicht auf seine Kappe. Oder?

Im Gegenteil: Wir könnten diese peinliche Gelegenheit nutzen, endlich einmal gemeinsam mit Gleichgesinnten (denen es auch nicht so doll geht im Moment) Halt zu machen und zu bereden, wo denn der Wurm drin steckt dieser Tage. Vielleicht wird ja etwas daraus, das tragfähig und solide ist. Reden. Statt johlen oder prahlen. Die Parteien haben wohl ausgedient.  Der schrille Jahrmarkt der Krisen könnte so glatt zum Ausgangspunkt einer völlig neuen Gestaltung von Gemeinschaft werden. Und daraus könnte vielleicht sogar so etwas wie ein neues Heimatgefühl entstehen, weil selbst erlebt und gemacht. Jetzt.

02 Aug

Europa – Meditation # 107 Heimat-Text Nr. 24

Auf der Suche nach der verlorenen Heimat

Auf fast allen Kanälen der schier zahllosen Medien in unserer jungen Republik wabert zur Zeit die schwankende Hieroglyphe Heimat vor sich hin. Liegt es am Sommerloch? Oder an der unerbittlichen Hitze, die nun auch Nordeuropa brennend heimsucht? Oder an dem Moment der Stille, der um sich greift, wenn plötzlich der Alltag nicht mehr vom Rhythmus der Arbeit diktiert wird? Oder an der rasanten Zerfallszeit von Themen, Begriffen und politischem Leerlauf? Oder am Überdruss wegen der nervenden Bilderfluten, Tag und Nacht?

Von den mehr als achtzig Millionen Mitteleuropäern sind mehr als neunzehn Millionen solche, die ihre Wurzeln jenseits von Rhein, Mosel, Weser, Elbe, Oder, Donau oder Dreisam haben, um die geographischen Gegebenheiten schön im Ungenauen zu belassen.

Aber was auch immer an Herkünften beschworen werden kann, alle haben sie doch eines gemeinsam: ein schwer fassbares Gefühl nach ehemals vertrauten Gewissheiten, wo auch immer sie gleichsam mit der Muttermilch eingesogen wurden, jahraus jahrein…in all den verflossenen Jahren.

Da gab es eben keine Zerfallszeit, da schien die Zeit die Magd der träumenden Menschlein zu sein;

da gab es eben keine Bilderfluten, da schien jeder Schmetterling ein Wunderwesen, bei dem man gerne lang verweilte;

da gab es eben keine Kakophonie von allen Seiten, da schien der Amsel Stimme oder der Nachtigall Gesang oder – noch besser – die Stimme der Mutter wie Samt und Seide, schöne Begleiter auf atemberaubenden Tagträumen…

Auf jeden Fall spielt es dabei absolut keine Rolle, wo es war. Es war einfach nur wahr. Jetzt muss die Erinnerung zu Hilfe eilen. Da kommt es zu waghalsigen Ungenauigkeiten. Aber wir schwärmen dennoch gerne und immer wieder in solche ehemaligen Gefilde zurück. Wohl – weil sie etwas von Kraft und Sicherheit zu bieten hatten, was derzeit eher als Mangelware, als billiger Ausverkauf – um nicht zu sagen: Betrug – erlebt wird. Und die Ortlosigkeit dieser Billigangebote ekelt nur noch an.

So wird die Heimat zum unbedingten Sehnsuchtsort, der aus der Erinnerung sich speist, aber in die Gegenwart und Zukunft weisen soll, die mehr und mehr an Glaubwürdigkeit zu verlieren drohen.

Die schöne Nebenwirkung dieser Heimat-Tag-Träume ist dabei auch noch: Sie macht uns alle so was von verwandt – jenseits aller geographischen und sonstigen Besonderheiten und bedrohlichem Befremden – dass Streit, Hass oder gar Krieg eher lächerlich und überflüssig erscheinen müssten.

Warum aber tun sie es nicht?