20 Okt

Europa – Mythos # 85

Die drei Brüder als notgedrungene Gewaltverhinderer.

Europa weiß nicht, ob sie sich freuen soll. Hätte sie den Verdacht für sich behalten sollen? Jetzt ist es zu spät. Archaikos springt auf. „Ich danke dir, Europa“, dabei umarmt er sie leidenschaftlich, „endlich kommen die Dinge in Bewegung: Sardonios ist mir schon lange ein Dorn im Auge.“ Europa atmet tief durch: „Aber vielleicht ist mein Verdacht zu Unrecht in meinem Kopf!“ Der Minos von Kreta lacht gut gelaunt. „Lass mich nur machen! Ich werde den Rat der Alten hinzuziehen, damit ich Rückendeckung habe. Niemand soll sagen können, ich hätte aus Willkür einen verdienten Mann zu Fall gebracht.“ Und dabei bedeckt er ihr Gesicht mit sanften Küssen. Dann gibt er sie frei. „Geh gleich zum Tempel der großen Göttin und bitte auch die Hohepriesterin Chandaraissa zum Verhör in die hohe Halle zu kommen. Ich möchte nicht allein dastehen. Verstehst du? So wird es auch in wichtiger Schritt zu unserer Vermählung.“ Europa läuft es heiß und kalt den Rücken herunter. Was für ein Mann! Was für ein Glück und was für eine Gefahr! Archaikos schaut sie fragend an: „Oder glaubst du, dass Chandaraissa nicht auf unserer Seite steht?“ Und bevor sie überhaupt nachdenkt, ob es klug es, was sie sagt, hat sie es auch schon ausgesprochen: „Sie ist meine Freundin.“ „Deine Freundin? Europa, wie machst du das? Nicht nur mich hast du verzaubert, nein, auch die strenge Priesterin ist dir erlegen?“ Sie nickt nur. Um ihre Unsicherheit zu verbergen, wendet sie sich jetzt schnell zum Gehen.

Und schon bald summt wie im Bienenhaus der Palast des Minos: Ein Verhör in der hohen Halle, die Hohepriesterin wird da sein, der Rat der Alten ist mit dabei, die Wachen werden verstärkt. Was hat der Minos vor? Wer soll verhört werden? Die Fremde! Europa? Die Aufregung ist groß. Geflüster in den langen, schattigen Gängen. Einige wollen Europa gesehen haben, wie sie vorhin erst weglief. Hat sie Angst?

Der blaue Himmel über der hohen Halle wolkenlos. Nur drei Raben landen gerade an der Regenrinne, flattern und flattern, laufen tippelnd hin und her und machen Lärm. Die sich sammelnden Räte schauen verwirrt nach oben. Waren die nicht erst neulich schon einmal da? Schicken die Götter sie als Beobachter? Langsam kriecht die Angst den alten Männern unter die Gewänder. Will der Minos vielleicht sogar ihnen ans Leben? Archaikos sitzt schon mit finsterer Miene auf seinem erhöhten Platz.

Da öffnet sich das Tor zur Halle und eingerahmt von vier Wachen betritt Sardonios mit aschfahlen Gesicht den Raum. Heftiges Raunen geht durch die Reihen der Alten. Der Minos starrt wie abwesend vor sich hin.

Zeus, Poseidon und Hades – oben rabenschwarz hin und her tippelnd – wissen natürlich Bescheid. Ihrem wichtigsten Mann soll es an den Kragen gehen. „Das müssen wir unbedingt verhindern.“ Poseidon und Hades nicken. Ihr Bruder ist wirklich anstrengend in seinem Zorn, aber sie haben ihm ja ihre Hilfe geschworen. Dieser Europa muss einfach Einhalt geboten werden!

20 Okt

Europa – Meditation # 163

Handke im wilden Kurdistan

Was wären die Medien ohne ihre medialen Feindbilder?

Was wären die hungrigen Leser ohne ihre vertrauten Paladine?

Was wären die Kenner ohne ihre muffige Arroganz und Häme?

Was das mit Kurdistan zu tun hat?

Ganz einfach: Spätestens seit dem sogenannten ersten Weltkrieg, der 1914 in Europa begonnen haben soll, sind die Kurden zum Spielball nationaler und internationaler Mächte geworden. Und warum? Weil sie ähnlich wie die Semiten und die Slawen auf einer eigenen Geschichte, Kultur, Sprache und Tradition beharren, auf eigener Identität also, die ihnen ihr langer Atem sicherte. Das schafft Neid, das schafft Angst, das schafft Feindbilder, noch und noch.

Vom Selbstbestimmungsrecht der Völker zu sprechen, entscheiden wie immer natürlich die Sieger. Die Besiegten sollen bitte schön bei ihren Leisten bleiben.

Das letzte Theaterstück der Pharisäer aus dem Lande der Neuen Welt ist nun staunend zu besichtigen: Es geht wie immer um viel – um Wasser und andere Bodenschätze, um Ansprüche, die selbstverständlich aus alten Rechten herrühren müssen und um Härte, die man denen gegenüber walten lassen muss, die das in Frage stellen wollen. Verbündete können da schnell mal fallen gelassen werden.

Selbstverständlich sind die vielen Opfer, die die Kurden in dieser unseligen Geschichte schon so lange bringen mussten, längst vergessen.

Da kommt es wie gerufen, dass einer den Literaturnobelpreis bekommt, der nicht nur Bücher geschrieben hat, die sehr kontrovers von den Medien kommentiert wurden, sondern der auch Landschaften und Völker besuchte, die aus den Nachwehen des Kalten Krieges unsanft herauspurzelten und dabei ebenfalls viele Opfer zu beklagen hatten. Denen Arges angetan wurde und die nicht zögerten, mit gleicher Münze zurückzuzahlen. So lenken uns die Serben dankenswerterweise einen Augenblick von den Kurden ab.

Selbstverständlich hat der Konsument des medialen Strafgerichts, das sich nun über diesen geehrten Schreiber ergießt, keine Erinnerung mehr daran, was damals die NATO vor Ort kriegerisch sich leistete – von Kigali wollen wir in diesem Zusammenhang gar nicht erst wieder anfangen – wir Europäer waschen unsere Hände gerne in sauberer Nachkriegsunschuld, und da ist es doch naheliegend, einen solchen Literaten eher als Nestbeschmutzer zu kommentieren, denn als Sätzeschmieder, der auf seinem Wörteramboss so manches heiße Eisen platt schlägt, das viele doch lieber schön zieseliert hätten.

Denn im Grunde geht es doch darum, Handke auf einem Nebenschauplatz zu erlegen, um seine Zivilisationskritik nicht schon wieder thematisieren zu müssen. Wie praktisch auch! Schicken wir den Handke doch einfach ins wilde Kurdistan, da fällt ihm bestimmt wieder ein Text ein, über den wir dann genüsslich herfallen können – unsere Hände in Unschuld waschend.

11 Okt

Europa – Meditation # 162

Im blinden Spiegel der Zeit

Einstürzende Gewissheiten – europaweit, weltweit.

Wo sollen wir Halt finden, wenn das Anhäufen von Sachen keinen gibt?

Wo sollen wir hingehen, wenn einer nach dem anderen dicht macht?

Verlust, nicht Gewinn ist das bleibende Gefühl beim Konsumenten.

Verlust von Nähe, Verlust von Freunden, Verlust von Gewissheiten, Verlust von Perspektiven – besonders für Jugendliche.

Verlust von Sinn.

Wo können wir uns zuhause fühlen, wenn mehr und mehr Nachbarn lieber in der Wolke zum Stelldichein abdriften, als mit mir Skat zu spielen?

Warum ist (oder tut) man so überrascht?

Fast alle europäischen Hauptstädte können sich mit solchen Katastrophen wie in Halle problemlos messen, ja, sie bieten so gar mehr, viel mehr.

Und in der Wolke werden die Charts fleißig überarbeitet und neu justiert:

Wo waren es mehr, wo war wer schneller, besser, erfolgreicher?

So viele Klicks, so viele Freunde – endlich.

Hier werde ich sogar zum Helden, hier steige ich auf der Leiter der Anerkennung weiter und weiter nach oben. Und wenn es nicht so klappt, wie geplant, dann helfen die Netz-Mitdenker mir über die Krise: Du brauchst eben einen langen Atem.Hier bei uns kannst du spielen und gleichzeitig das Böse vernichten lernen.

Die da unten sind doch einfach zu blöd zu kapieren, wie der Hase läuft!

Und es gibt Applaus, Unterstützung, praktische Anleitungen, noch und noch.

Da ist wenigstens etwas los, da kann ich Tag und Nacht hin, da ist immer jemand für mich da. Cool oder?

Längst ist die Trennlinie zwischen analog und digitaler Wirklichkeit obsolet.

Das Digitale begeistert doch viel mehr, Tag und Nacht, weltweit, wow!

Nur in der analogen Welt der Behörden sind die Sachbearbeiter sowas von hinten dran – die notwendigen Fortbildungen müssten stündlich Tausende und Abertausende erfassen, damit sie nicht nur die Geräte besser und schneller handhaben können, sondern damit sie auch den Vorsprung der Jugendlichen verringern lernen.

Deshalb auch die Ratlosigkeit der Politiker und Beamten: Sie stecken noch viel zu sehr im alten Leben, das längst ausgehebelt ist von der internet-community, die sich eins ins Fäustchen lachen kann, weil die einfach noch nicht den Schuss gehört haben.

In den Interviews, den Statements wabert es ja nur so von Betroffenheit und wilder Entschlossenheit, endlich den Feind der Demokratie erkannt zu haben – aber es bleiben Lippenbekenntnisse, so lange nicht wirklich die fähigen Nerds und Könner flächendeckend eingebunden werden in das tägliche Recherchieren und Beobachten. Nur von denen können sie etwas lernen, nicht von Parteipolitikern, Industriellen, Wissenschaftlern.