10 Mrz

Europa – Meditation # 443

Die ganz große Truman-Show.

Überschaubar waren die historisch gewachsenen Gemeinschaften auf dem kleinen Kontinent Europa. Man kannte sich. Man war verwandt. Man pflegte Beziehungen, um Waren zu tauschen, um Bücher zu übersetzen, um Reisen zu machen. Um Schönheit zu erschaffen aus Stein oder mit Farben. So verschieden ihre Kunstwerke auch waren, immer schienen sie aufeinander zu zeigen: Schaut, wir kennen uns. Denn das Fremde blieb selbst an seinen Rändern vertraut. Die Legenden, Märchen, Epen und Erzählungen holten ferne Orte wie auf fliegenden Teppichen getragen in die Phantasie der Menschen. Dort wurden sie nicht nur aufbewahrt, nein, sie wurden auch weiter erzählt, variiert, neu beantwortet. Tausend Jahre und mehr. Selbst der Mythos von Europas Entführung ließ sich immer wieder neu erzählen. Die Männer in ihrer Deutung, die Frauen in der ihren. In Sitten und Gebräuchen, in Musik und Tanz, in Masken und Kostümen schwelgten sie in schöner Selbstgewissheit und vertrauten Räumen, und die natürlichen Grenzen in Europa – Gebirge, Flüsse und fruchtbare Ebenen – wurden geachtet und geschätzt. Sie waren alte Zeichen gewachsener Distanz, die aber Reisende und Kaufleute immer wieder gerne überwanden. Besonders ihre Sprachen hallten wider von gemeinsamen Wurzeln – im Osten wie im Westen.

Dann aber wuchsen erfundene Feindschaften – oft aus überhöhtem Nationalstolz – und führten zu schlimmen Kriegen: der Dreißigjährige, der Siebenjährige, Revolutionskriege, der Erste und der Zweite Weltkrieg – und schon kündeten Schutt und Asche und Millionen toter Soldaten (lauter Begabungen, die Europa für immer verloren waren) von völlig fehlgeleiteten Narrativen. Auch hatten sich die Europäer militärische Hilfe aus Übersee geholt, die sie seitdem nicht mehr los werden: Denn aus der Hilfe ist längst eine unselige Assimilation geworden, die dazu geführt hat, dass die Europäer leichtfertig ihre eigenen Traditionen über Bord warfen und nur noch auf Wachstum, Konsum und Neoliberalismus setzen. Die Folgen für Europa sind nicht nur überwältigend, sondern auch zunehmend nachhaltig: Als befände sich Europa in einer riesigen Truman-Show-Glasglocke, über der große überseeische Großunternehmen hocken und die Regie führen: Gezielt werden ganz bestimmte Bereiche besonders grell ausgeleuchtet, andere besonders gefördert, aber vor allem der europäische Konsument still gestellt, indem er wie benommen vom scheinbaren Zauberwerk des Algorithmus 0/1 in die Irre geleitet wird. Gerne stellt er seine heimlichen Vorlieben als Datensalat zur Verfügung, um sich dann innerhalb dieser riesigen Truman-Blase in kleineren Bläschen zu tummeln – Tag und Nacht – und sich dann völlig überrascht und selig zu wundern, wenn ihm passgenaue Angebote aus der großen Truman-Blase auf den Monitor purzeln. Das ist ja fast schon Schlaraffenland, denkt er trunken ob solch schöner Zufälle. Die Statussymbole, für die er sich „den Arsch aufreißt“, die Mobilität, die er für echte Freiheit hält und die Bringdienste, die er ununterbrochen und unerbittlich mithilft auszubeuten, all das hat ihn weit weg katapultiert von dem, was ihn einst als Europäer ausmachte. Das zunehmende Tempo, das er fleißig mit bedient, macht ihn zwar schlaflos und oft auch burn-out-affin, aber er erklärt er sich längst als den Gang der Dinge eben, dem man sich nicht in den Weg stellen sollte, denn sonst ist man weg vom Fenster!

04 Mrz

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 172

Der Rat der Alten will Fakten schaffen.

Diesmal ist es Collchades, der eine Sondersitzung des Rates verlangt. Und noch am gleichen Tag – das Schiff, das Europa zusammen mit ihren Söhnen nach Sidon bringen soll, müsste längst in Phönizien angelangt sein – treffen sich die Ratsherren im Ratssaal. Sie haben keine Ahnung, warum Collchades sie ruft. Nervös nehmen sie auf ihren Sitzen Platz, tuscheln miteinander. Dann rauscht Collchades herein, grinsend. Er fuchtelt mit seinen Armen in der Luft herum, sein Gewand weht um ihn herum wie ein sich blähendes Segel, noch im Gehen beginnt er zu reden:

„Hohe Ratsherren! Schlechte Nachrichten muss ich euch melden…!“

Und schon wird aus dem Raunen ein Durcheinanderreden, ein Gestikulieren. Einige der Ratsherren springen vor Aufregung auf, andere halten den Atem an.

„Collchades“, unterbricht ihn Pallnemvus verärgert, „woher hast du deine Informationen, hä?“

„Pallnemvus, lass ihn doch ausreden!“ fährt ihm Zygmontis dazwischen, „er wird uns schon noch alles offenbaren.“

Collchades nickt, holt Luft und schaut stolz in die Runde:

„Gerade ist ein schneller Segler aus Ägypten im Hafen vor Anker gegangen und die hatten Nachrichten dabei: Im Norden habe es vor Tagen ein Unwetter gegeben, ein Schiff aus Kreta sei untergegangen – mit Mann und Maus!“

Sofort wird es leichenstill im Saal. Aber nur für für einen Augenblick. Dann reden alle durcheinander. Die Augen der alten Männer leuchten, ihre Hände vollführen wahre Tänze in der Luft und ihre Stimmen purzeln durcheinander wie Kieselsteine bei einem Wellenschlag.

„Ruhe, Ruhe!“ Berberdus, der Vorsitzende, will seines Amtes walten, „Ruhe, ich eröffne hiermit die Sitzung. Einziger Tagungspunkt: Trauerzeit und Wahl des neuen Minos!“

Sofort kehrt tatsächlich wieder Ruhe ein. Denn jetzt ist es wichtig, dass man als Ratsherr keinen Fehler macht, kein falsches Wort sagt, nicht den falschen Mann unterstützt und sich selbst in Position bringt. Berberdus erteilt Gromdas das Wort:

„Ratsherr Gromdas, du hast das Wort, aber fasse dich kurz!“ Die anderen nicken in Lauerstellung. Gut, dass sie selbst nicht zu erst das Wort ergreifen müssen. Gromdas grinst, nickt, erhebt sich, räuspert sich und sagt dann kurz und bündig:

„Werte Ratsherren! Die Götter haben eingegriffen, nun ist es an uns, die Folgen planvoll zu gestalten. Als erstes müssen wir das Volk informieren, dass Europa, die Gattin des letzten Minos und Regentin zusammen mit ihren beiden jungen Söhnen, Sadamanthys und Parsephon, bei einem Schiffsunglück ums Leben gekommen ist.“

Ergriffenes Schweigen in der Runde, gut gespielt und scheinbar würdevoll inszeniert, obwohl das Volk gar nicht zuschauen kann. Gromdas holt tief Luft und fährt dann so fort:

„Zweitens setzen wir – aufgrund der Größe der Tragödie – ein zweiwöchige Trauerzeit an. Der Palast soll mit schwarzen Tüchern verdeckt werden. Und zwei Wochen lang soll vor dem Palast ein Gedenkfeuer brennen.“

Zustimmendes Nicken. Gromdas spürt, dass er sich gerade selber in Position bringen kann. Er macht ein sehr ernstes Gesicht, als wolle er sagen, dass ihm gar nichts an der Macht liegt, die da gerade ihre Hände nach ihm auszustrecken scheint.

„Und drittens: Danach muss der neue Minos inthronisiert werden, damit Kreta nach innen und außen handlungsfähig bleibt.“

Keltberias schielt hinüber zu Berberdus, Collchades nimmt Blickkontakt mit Zygmontis auf und Pallnemvus rechnet blitzschnell durch, was es ihn kosten wird, der Minos zu werden. Dabei pochen alle mit ihren Fingerknochen auf die Pulte. Wir sind einverstanden.

Dann geht alles sehr schnell. Die Ratsherren setzen einen kurzen Text auf, den der Herold heute noch vor dem Palast verlesen muss, damit das Volk gar nicht erst mit Gerüchten um sich werfen kann. Die langen, schwarzen Tücher müssen vom Dach des Palastes heruntergelassen werden, das große Feuer mus entfacht werden, im Tempel der großen Göttin soll die Hohepriesterin Chandaraissa eine Gedenkfeier für die Opfer des Schiffsunglücks vorbereiten. Am besten schon Morgen soll das über die Bühne gehen.

Die Ratsherren jubilieren innerlich. Endlich ist ihr ärgster Feind, diese Aufsteigerin Europa, an ihrem eigen Ehrgeiz zugrunde gegangen. Die Götter haben ihr streng zu verstehen gegeben: Nur wer so hoch steht, der kann auch so tief fallen.

02 Mrz

Europa – Meditation # 442

Die hohen Mauern der Patrix

Die chinesische Mauer ist nichts im Verhältnis zur der furchtbaren Mauer, die das Patriarchat immer noch mit Gewalt aufrechtzuerhalten versucht. Und das eben nicht nur im Zweistromland, wo Männer es erfunden haben oder eben in Europa, sondern weltweit. Meistens mit nachhaltiger Unter- stützung religiöser Institutionen und Männerbünden, sprich Priestern.

So wie in jedem Gefängnis strenge Regeln gelten – und zwar nicht nur die der Gefängnis-Aufsicht, sondern auch die der Häftlinge untereinander, die gnadenlos streng und unerbittlich jeden Abweichler so was von vorführen, so dass nur Angst und Schrecken und Starre vorherrschen – so ist es auch in der patriarchalischen Welt: Missbrauch, Femizide, Vergewaltigungen, häusliche Gewalt sind die Spitzen dieses Gewalteisberges, der nun seit fast 10000 Jahren den homo sapiens in ein Muster zwängt, das ihm inzwischen als natürlich scheint, obwohl es doch nur vor langer Zeit von frustrierten Jägern ausgedacht wurde, um die eigenen Bedeutungslosigkeit mit einem unschlagbaren Narrativ aufzupäppeln: Es gibt nur einen Gott, einen unsichtbaren, es gibt nur eine Ehe und einen Erben und als Priester wachen wir über diese ewigen Gesetze, damit uns kein Unheil von Seiten Gottes widerfahren möge. Angst wird so zum Motor des menschlichen Miteinanders und die Frauen müssen sich diesem Diktat unterwerfen, denn es ist ja ein göttliches.

Im Laufe der Jahrtausende wurde dann dieses Narrativ immer mehr verfeinert und überarbeitet, so dass gar nicht mehr klar war, dass es eine Erfindung aus Not war, die nun als natürliche Gegebenheit das Leben aller Menschen bestimmt. Diese Domestizierung der inneren Natur des Menschen soll allerdings nicht als Gefängnis verstanden werden, dem sich Frauen wie Männer zu unterwerfen haben. Dass darunter unkaputtbar die eigentlich Natur des Menschen weiter nach frischer Luft schnappen möchte, ist allerdings ein Ärgernis, dass täglich beinhart bekämpft werden muss. Und wie gesagt: wie in jedem Gefängnis sind die Strafen für Regelverletzungen knallhart, exekutiert von Männern, die sich als Wächter dieses großen Narrativs verstehen. In der häuslichen Gewalt, in Femiziden und in der generellen Benachteiligung der Frauen lebt sich diese Selbstjustiz weiter aus. Die Männer gehen derweil in den Bordellen Luft schnappen – das soll gewissermaßen die Regel nur bestätigen, denn der Wert dieser Frauen wird von den Männern eher gegen Null gehandelt. Letztes schlimmes Beispiel: in Wien, wo neulich vier Frauen von Männern ermordet wurden, weil sie dem Narrativ nicht entsprechen wollten.