25 Aug

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 16

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 16

Europa schaut sprachlos den beiden neugierigen Kindern in die Augen. Was soll sie antworten? Soll sie ihren Namen sagen? Oder soll sie sich einfach Sulamýth nennen? Doch noch im gleichen Augenblick, als sie darüber nachdenkt, hört sie sich auch schon sagen: „Europa.“

„Europa? Noch nie gehört…“

Das Mädchen stößt den Jungen unwirsch zur Seite.

„He, was fällt dir ein? Ich…“

Aber bevor der Junge fortfahren kann mit seiner kleinen Drohrede, ergreift das Mädchen das Wort:

„Wo kommst du her? Hast du dich verirrt, bist du nicht von hier?“

Europa schließt die kleine Fragerin sofort in ihr Herz. Gleich drei Fragen auf einmal, denkt sie. Ein kluges Mädchen. Gleichzeitig wird ihr klar, dass sie sich gar nicht überlegt hat, wie eine glaubwürdige Geschichte klingen müsste, jetzt als Antwort auf diese Fragen. Sie versucht es mit einem unsicheren Lächeln. Die Ziegen kommen schnuppernd heran, auch sie scheinen neugierig zu sein. Europa streichelt das struppige Haar der furchtlosen Tiere, lacht leise und sagt schließlich:

„Das waren drei Fragen auf einmal. Welche soll ich denn zuerst beantworten?“

Der Junge, der die Ziegen mit seinem Stock zur Seite stößt, schaut sie verdutzt an, das Mädchen runzelt unzufrieden die Stirn:

„Der Reihe nach, einfach der Reihe nach.“

Dabei schaut sie frech ihren Bruder an, der ihr mit offenem Mund zugehört hatte. Am liebsten würde Europa jetzt laut loslachen, so sehr gefällt ihr das, was sie da hört. So muss ich wohl auch früher geklungen haben, wenn man mir Fragen stellte, denkt sie sich. Doch die wenigen Augenblicke, die sie durch ihr Zögern gewonnen hat, reichen ihr aus, eine Antwort zu geben, die halbwegs glaubwürdig scheinen kann – auch für ein unerschrockenes junges Mädchen.

„Ich bin ein Flüchtling. Ich komme von weit her. Schiffbrüchig, gestrandet.“

Die beiden Kinder machen große Augen. Flüchtling? Gestrandet? Von weit her? Von den Großeltern kennen sie solche Geschichten. Viele haben sie ihnen schon abends vor dem Einschlafen erzählt, viele. Und so voller Geheimnisse, voller fremder Namen und Länder. Als wäre die Fremde vor ihren Augen aus einer solchen Geschichte heraus gefallen, direkt vor ihre Füße. Wunderbar, unheimlich, unwirklich. Dann nicken sie langsam, so als ob sie allmählich verstünden, was sie da hören. Sie werfen sich schnell kurze Blicke zu. Was könnten sie jetzt alles fragen? Dann ist es aber der Junge, der zuerst wieder Worte findet:

„Du hast sicher Hunger.“

Europa nickt heftig. Und bevor das Mädchen einstimmen kann in diese Vermutung, langt der Junge in den fettigen Lederbeutel, den er umhängen hat, holt ein kleines Fladenbrot heraus und reicht es Europa. Das Mädchen tut es ihm gleich und reicht ihr aus ihrem Vorrat ein Stück Käse. Europa, die immer noch am Boden hockt, nimmt die kostbaren Geschenke überglücklich an, beißt gierig in das Brot und schiebt gleich noch eine Ecke vom Käse hinterher und kaut und kaut. Die Kinder schauen ihr zufrieden zu. Entschlossen schieben sie die hungrigen Ziegen von der Fremden weg.

„Guter Käse, gutes Brot“, ist alles, was sie dabei zu sagen vermag. Die Kinder nicken und recken sich stolz. Das hören sie gerne. Die Fremde hat das, was die Eltern ihnen für den Tag mitgegeben hat, gerade gelobt.

„Die Mutter backt das Brot, den Käse haben wir zusammen mit dem Vater gemacht. Wir müssen bei allem helfen. Wir sind arme Landleute.“

„Aber ihr habt gesunde Ziegen und so viele“, sagt Europa zwischen dem genüsslichen Kauen von Brot und Käse beeindruckt. Die Kinder sind sprachlos vor Begeisterung. Sie finden nämlich die Ziegen eher zu dünn und zu schmutzig und auch zu ungehorsam. Die Tiere wollen einfach nicht die Fremde in Ruhe lassen.

„Könnt ihr mir sagen, wie ich zu euren Eltern finde, damit sie mir weiter helfen?“

Die beiden sind völlig überrascht. Denn eigentlich müssten sie mit den Tieren weiterziehen. Jetzt aber wollen sie lieber die Fremde selber zu ihrem Dorf bringen, um die neugierigen Blicke der anderen zu genießen, weil sie einen Flüchtling mitbringen, eine Frau, die gestrandet sei.

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