30 Nov

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 4

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 4

„Warum antwortest du mir nicht?“

Wie flehen ihre Augen dem Bild der Göttin entgegen! Aber Europa erhält keine Antwort von ihr. Stumm und starr steht sie da auf ihrem marmornen Podest. Jeden Tag erlebt sie die gleiche Enttäuschung. Kalt glänzender Stein, sonst nichts. Sie antwortet ihr nicht.

Ihr Wille, dem Heiratsplan der Eltern nicht zu folgen, wird trotzdem stärker, von Tag zu Tag. Und je mehr die Göttin schweigt, umso trotziger besteht sie auf ihrem Plan – mit dem Fremden zu fliehen, wenn er am kommenden Neumond wiederkommen wird.

Schließlich ist sie sich ganz sicher. Ihre Entscheidung steht fest, jede Angst wie weggeblasen. Und als sie wieder im Tempel zur Göttin um Beistand betet und wieder keine Antwort erhält, fällt es ihr wie Schuppen von den Augen: Das ist die Antwort, dass sie stark und entschlossen zu ihrem Plan stehen muss, wenn er gelingen soll. Das Schweigen der Göttin war die Hilfe, die sie jetzt so sicher macht. Zurück im Palast lächelt sie jeden an, der ihr entgegenkommt.

„Europa, warum so fröhlich heute?“ fragt die alte Amme.

„Ich freue mich so auf das, was die Göttin für mich bereit hält.“

Die Amme schüttelt nur den Kopf. Da soll einer schlau draus werden. Dieses Mädchen ist ihr ein einziges Rätsel. Gestern noch mürrisch und verdrossen, heute auf einmal froh und gut gelaunt.

Und dann kommt der Tag, an dem sich mit großem Tuba-Geblase und bunt wehenden Fahnen die Gesandtschaft ankündigt. Europa hört es in ihrem Gemach. Und bevor jemand es ihr melden kann, läuft sie schnell in den Garten und von dort zur kleinen Pforte in der hohen Mauer, um auf dem kürzesten Weg zum Meer zu gelangen. Vielleicht kommt er ja früher als vereinbart, denkt sie.

Währenddessen ist die Aufregung im Palast groß: Endlich ist sie da, die so sehnsüchtig von den Eltern erwartete Gesandtschaft. Aber wo ist Europa? Der König tobt, die aufgebrachte Königin will von der Amme wissen, wo Europa steckt. Die aber weiß keine Antwort.

„Was, du weißt nicht, wo sie ist?“ Schnaubend läuft sie vor der zitternden Alten hin und her.

„Geh, such sie! Und wehe, du kommst ohne sie zurück!“ Unwirsch entlässt sie die Amme. Jetzt muss sich die Königin um die Unterbringung der sicher müden und erschöpften Gäste kümmern.

Europa sieht es gleich: Da ist niemand am Strand. Und schon gar nicht ihr Fremder. Also muss sie tun, was sie sich ausgedacht hat. Sie schaut sich um, ob ihr auch niemand gefolgt ist. Dann nimmt sie die kleine Phiole, öffnet sie und trinkt den trüben Trunk. Bitter schmeckt es, sehr bitter. Aber es muss sein. Dann setzt sie sich langsam hin. Der weiche Sand wärmt sie freundlich. Das tut gut. Dann kommt der erste Stich. Obwohl sie es wusste, ist es eine böse Überraschung. Weil der Schmerz gleich so heftig und mächtig in sie fährt. Dann kommt auch schon der nächste und der übernächste. Eigentlich geht ihr das zu schnell, aber ihr bleibt nicht die Zeit zu rechten. Es ist ja ihr Plan gewesen. Mehr bleibt ihr nicht zu denken.

Die Amme hatte gleich den Gedanken gehabt, Europa am Strand zu suchen. Warum, weiß sie selber nicht. Und als sie ihr Mädchen dann sieht, ist sie erleichtert. Legt sich einfach so in den Sand und schläft, während im Palast alle ganz aufgeregt nach ihr suchen, denkt sie. Europa, was bist du nur für ein eigensinniges Kind! Dann sieht sie aber beim Näherkommen, dass eine Schlafende so nicht daliegen würde, so verkrampft, so fremd.

„Europa!“ ruft sie entsetzt, als sie bei ihr ist. Den Gedanken an Tod lässt sie gar nicht erst zu. Mit einem Arm hebt sie ihr Mädchen vorsichtig hoch, mit der anderen Hand streicht sie ihr das bronzefarbene Haar aus dem Gesicht. Da fällt die Phiole zu Boden. Europa hatte sie nicht mehr in ihrem Gewand verstecken können. Nun ist die Amme aber doch zu Tode erschrocken. Warum hat sie das getan? Sie kennt das kleine Fläschchen, sie kennt den bitteren Saft. Und sofort weiß sie auch, was zu tun ist. Niemand darf es erfahren. Sie lässt die Phiole in ihrem weiten Rock verschwinden, hebt Europa hoch und wankt mit ihrer schweren Last den Weg zurück zum Palast. Bis dahin muss sich die Amme etwas ausdenken, wenn sie ihren eigenen Tod noch abwenden will.

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