08 Sep

Europa – Meditation # 16

Ein Wink mit dem Zaunpfahl?

Schreiben wir doch einfach mal im WIR-MODUS! Also wir Deutschen, was sollen wir denn davon halten? Das Ausland redet sich den Mund fusselig, dass wir Deutschen nun mal bitte schön – wenn wir schon einen auf wohlwollenden Hegemon machen wollen – nicht so zimperlich sein sollen, wegen der paar Flüchtlinge. Schließlich seien die Deutschen in Europa das Volk (wenn wir jetzt mal die Russen draußen vor lassen, da sagen wir dann später auch noch was zu!) mit den meisten Menschen, mit der stärksten Wirtschaft und dem größten Staatshaushalt. Und hat nicht die Kanzlerin erst neulich gesagt: Wir haben schon so viel geschafft, da schaffen wir das auch noch!? Was meint sie eigentlich mit „das“, wenn wir mal fragen dürfen?

Nun gut, fangen wir am besten mit dem Anfang dieser Republik an. Zugegeben, da hatten wir – wenigstens das, was man damals noch Trizonesien nannte – richtig Glück gehabt. Mit den Rosinen-Bombern, den Care-Paketen und natürlich langfristig mit dem Marshall-Plan. Nach dem ersten Slogan der Sieger „no fraternisation!“ – die waren wirklich echt böse auf uns, was man ja auch gut verstehen kann – wenigstens aus späterer Sicht. Wir taten gut daran, zuerst einmal nicht zurück, sondern nach vorne zu schauen, anzupacken und kleine Brötchen zu backen. Gut, dass wir dabei dann so taten, als litten wir an einer krassen Amnesie, war zwar keine Lösung, aber psychologisch nachvollziehbar. Die außerparlamentarische Opposition – die jungen Wilden – halfen uns da zum Glück wieder etwas auf die Sprünge. Wenn wir auch erst wieder in den Kindergarten des Erinnerns gehen mussten. Heute sagen wir es sogar laut und entsprechend zerknirscht: Da waren noch ein paar Leichen im Keller, das sollte nun wirklich nicht länger verschwiegen werden. Tun wir ja auch nicht. Wir waren zu Wiedergutmachung bereit. Und das wurde auch staunend anerkannt. Aber wir haben auch echt was draus gemacht. Wir beiden feindlichen Brüder schenkten uns nichts, sondern schauten brav nach Westen, beziehungsweise nach Osten und strengten uns an (dass der kleinere Bruder dabei beileibe weniger Glück gehabt hatte mit seinem Vorbild, soll keinesfalls verschwiegen werden). Unsere großen Beschützer, die aus ihren jeweiligen egoistischen Zielen wirklich keinen Hehl machten, waren sehr zufrieden mit uns. Und das hat sich dann doch auch gelohnt, denn schon nach weniger als einem halben Jahrhundert hatten die beiden großen Brüder und ihre Freunde uns wieder so aufgebaut, dass sie uns sogar Einheit, Unabhängigkeit und Freundschaft schenkten. Dass wir dabei ein gutes Stück Identität über Bord warfen, weil wir alles, was über den großen Teich zu uns herüber schwabbte unbesehen als uneingeschränkt nachahmenswert ansahen, ist einer der großen Irrtümer, die wir jetzt zum Glück endlich offen legen könnten. Damals aber hatten wir – so stand es in allen Geschichtsbüchern – so richtig Glück gehabt. Hätte ja auch ganz anders laufen können. Oder? Gut, auch da haben wir vor lauter Begeisterung gar nicht so richtig gemerkt, dass wir den kleineren Bruder ganz schön einfach über den Tisch gezogen haben, obwohl der doch recht deutlich gebrüllt hatte: „Wir sind das Volk!“. Und was haben wir geantwortet? „Gut gebrüllt, kleiner Löwe!“ und gingen zur Tagesordnung über. (Dass wir dabei die im Grundgesetz (GG) vorgegebene Formel für die Wiedervereinigung in einer sehr einseitigen und letztlich unangemessenen Weise zu deuten wussten, bleibt dem tabuisierten westlichen Wohlstandsdenken geschuldet und wirkt als ungetilgte Schulden hinter den Kulissen fort und fort).

Und jetzt machen wir uns große Sorgen um unser Lande und seine Kultur. Einige ganz besonders. Was passiert denn da in diesen Tagen hierzulande? Könnte es nicht sein, dass Fortuna es mal wieder gut mit uns meint und wir es wieder nicht merken (sondern wieder erst ein halbes Jahrhundert später?)? Inwiefern? Sie winkt mit dem Zaunpfahl. Wie bitte? Mit was für einem Zaunpfahl denn? Da kommen Hunderttausende aus allen Herrenländer auf lebensgefährlichen Routen mit Kind und Kegel und einer Plastiktüte angereist, weil für die unser Land(!) der Garten Eden auf Erden zu sein scheint. Da muss doch was dran sein oder? Und jetzt noch einmal zu dem Zaunpfahl. Könnte es nicht sein, dass die Glücksgöttin ihrem Liebling augenzwinkernd zu verstehen geben will, mal für einen Moment mit Arbeiten, Leistung und Bilanzen aufzuhören, um Atem zu holen und sich zu fragen, was ist denn eigentlich so erstrebenswert an uns und unserem Land? Und wäre es jetzt nicht der glückliche Augenblick, über die zu tilgenden Schulden mit unserem unzufriedenen Bruder zu reden? Und wer sind wir denn eigentlich, die dieses Land stolz das ihre nennen? Wenn wir die vielen Flüchtlinge aus den vielen fernen Ländern, in denen Krieg oder Hunger oder Korruption oder Unfreiheit oder alles das zusammen herrscht, betrachten, so sind die zwar verzweifelt und bitten um Asyl, aber sie glauben an sich, an die Solidarität ihrer Familien, an die Schätze ihrer Kultur, Sprache und Religion. Von dort holen sie die Kraft zu diesem tollkühnen Unternehmen, alles hinter sich zu lassen und in eine völlig fremde Kultur zu fliehen. Und was hat das mit dem Zaunpfahl zu tun? Langsam, langsam. Wir wollen ja jetzt in aller Ruhe mal nachdenken und uns fragen, wer wir denn eigentlich sind. Könnte es nicht sein, dass wir allzu vorauseilend die Vorbilder unserer ehemaligen Beschützer verinnerlicht haben, ohne genügend das wertvolle Eigene dagegen zu setzen? Mehrwert, Wachstum, mehr zu konsumieren, als wir eigentlich zum Leben brauchen und weltmeisterlich zu exportieren. Da ist auch die Pose des großzügigen Almosenspenders keine Lösung, sondern nur eine Übersprungshandlung, die schon wieder die Ersatzhandlung für das eigentlich anstehende Gespräch mit sich selbst und dem völlig frustrierten Bruder (sein Name? Die neuen Bundesländer.) vermeiden hilft. Warum gibt es denn neben der wohlmeinenden Almosenpose diesen wütenden anderen Deutschen, der das Gefühl hat, dass Berlin die Asylanten besser behandelt als sie? Dass die Fremden uns nur noch uns selbst fremder machen würden, weil sie unsere Sprache, unsere Spielregeln, unsere Werte nicht nur nicht verstehen, sondern auch gar nicht ernst nehmen wollen?

So gesehen könnten die Fremden wirklich ein Glücksfall für uns alle sein. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, den Dünkel hinter sich zu lassen und Tacheles zu reden – unter Verwandten, in der Familie Deutschland: Was wollen wir denn eigentlich, was denken wir denn eigentlich über unsere verwandten neuen Bundesländer, was ist denn da damals falsch gelaufen, wie könnte man es jetzt – in einer Situation, wo andere dieses Land so sehr zu schätzen scheinen – offen ansprechen, jetzt endlich einmal dem anderen zuzuhören, ohne gleich die Antwort parat zu haben, im Spiegelkabinett der deutschen Wiedervereinigungssprache endlich einmal auch den anderen zu sehen, ohne ihn schlecht zu machen, herabzusetzen, zu bevormunden. Und ihn schon gar nicht scheinbar generös mit dem eigenen Konzept zu beglücken. Vielleicht würde dann sogar klar, wie fremd wir uns unter dem Dach der gleichen Sprache geblieben sind – oder wie fremd wir wurden, weil wir dem anderen immer schon zu sagen wussten, was richtig sei. So wie in den fünfziger und sechziger Jahren das Verschweigen scheinbar normal war, bis die APO das Aufrüttel-Programm begann, so könnte nun das Schweigen der neunziger und nuller Jahre endlich beendet werden, weil wir von außen – durch die Asylanten – gefordert werden, Farbe zu bekennen. Weder als Wutbürger noch als Gutmenschen, sondern als verblüffte Zeitgenossen, denen unversehens durch die neue Situation die Gelegenheit geschenkt wird, g e m e i n s a m ein neues gemeinsames Kapitel der deutschen Geschichte zu beginnen, in dem jeder sich wertgeschätzt fühlen kann, weil wir beginnen zu verstehen – im Spiegelbild der Fremden, die jetzt massenweise zu uns fliehen – dass wir gerade im gemeinsamen Tun auch uns selber endlich lernen wertzuschätzen. Und zwar nicht durch das, was jeder hat oder eben nicht hat, sondern durch das, was jeder ist – mit all seinen Begabungen, Ideen, seinem Anderssein. Jugendarbeitslosigkeit und Langzeitarbeitslose kämen endlich in den Blick als ungenutzte Ressource und nicht als „selber schuld Retourkutsche!“ Eine Vielzahl an neuen Arbeitsplätzen würde das Asylanten-Thema generieren! (Betreuen, unterrichten, anlernen).

Dann hätten wir Deutsche erstmals in der Geschichte das Heft selbst und gemeinsam in die Hand genommen und könnten dann unseren Enkelkinder erzählen, dass wir alte Voreingenommenheit endlich zum Altkleidersack gegeben hätten und damit Kräfte freisetzen konnten, über die wir selbst seitdem nur noch staunen können – und nebenbei hätten wir so auch noch die Integration der Asylanten in unsere Gesellschaft geschafft!

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