23 Mrz

Europa – Mythos # 31

Das Gastmahl als Probe

Noch glänzt fahles Mondlicht auf dem schwarzen Meer, zieht immer noch einen silbrigen Streifen darüber. Aber die Fackel des Sonnengottes steht schon bereit. Archaikos hört nicht die Vogelstimmen, sieht nicht den Silberstreif. Er schaut ins Leere. Die angenehme Morgenkühle lässt ihn nur frösteln. Er will nicht, dass es tagt. Er will nicht glauben, was er hören musste. Und das Schlimmste ist, er weiß nicht, ob es wahr ist. Sperlinge, diese Frühaufsteher, sie fliegen bereits von Ast zu Ast, unbekümmert. Er beneidet sie. Wenn Sardonius ein übles Spiel spielt, was dann? Wie soll er herausbekommen, was stimmt? Archaikos, der Minos von Kreta, steht gekränkt am Fenster. Tränenschwer die Augen. Kaum haben ihm die guten Geister diese fremde Frau als großes Geschenk geschickt, da soll er es auch schon zerstören. Er will es nicht einmal denken. Aber er will sich selbst ein Bild von den beiden Frauen machen. Er will sie ihren Giftanschlag in Szene setzen lassen, er will sie auf frischer Tat ertappen. Sardonius hatte energisch abgeraten. Das macht ihn nur noch misstrauischer. Ist es doch alles gelogen? Da ist niemand, den er um Rat fragen kann. Dass die große Göttin ihre wohlwollende Hand über ihn hält, weiß er natürlich nicht. Sie wird nicht zulassen, dass die beiden Frauen gewaltsam sterben müssen.

Europa träumt gerade glückliche Szenen aus einer Zukunft, die sie nicht kennt. Das Gespräch mit der Hohenpriesterin hat ihr gut getan. Sie sind nun Schwestern. Ihr wird sie alles erzählen können, auch dass sie schwanger ist. Sie hat guten Rat bitter nötig. Und auch Chandaraissa liegt in tiefem Schlaf in diesem Augenblick. Traumlos. Aber der Schlaf wird ihr Kraft geben, die sie bald sehr nötig haben wird. Denn was der gerade sich ankündigende Tag für sie bereit hält, geht eigentlich über die Kräfte eines Sterblichen; doch sie ahnt nichts von alledem. Sie schläft einfach nur.

Sardonius hatte den Minos von Kreta mit sehr gemischten Gefühlen verlassen. Einerseits hatte es ihm gut getan zu sehen, wie Angstblitze durch Archaikos‘ Augen zuckten, andererseits findet er den Gedanken, die beiden Frauen auf die Probe zu stellen, gar nicht gut. Was, wenn seine beiden Spione doch gelogen haben, wenn die Frauen ihre Unschuld beweisen können? Aber bisher haben alle seine Intrigen geholfen, seinen Aufstieg voranzubringen. Warum sollte das nun auf einmal nicht mehr so sein? Schnell verscheucht er seine Zweifel und befiehlt einem seiner Leute, die Hohepriesterin für heute zum Essen in den Palast zu laden. Der Minos von Kreta möchte sie mit Europa bekannt machen. Einen anderen Boten schickt er gleichzeitig zu Europa, sie solle heute am Tisch des Minos sitzen – er habe die Hohepriesterin zu Gast.

Die lange Tafel ist wie immer blank geputzt – Holzteller liegen darauf, Wasserkrüge stehen bereit. Ein Hammel wurde geschlachtet. Als die beiden Gästen – immer noch völlig verstört, weil sie sich nicht erklären können, warum der Minos von Kreta sie einlädt – die weite Halle betreten, wird sogar ihnen zur Ehre Musik gemacht. Trommeln, Flöten und ein einsaitiges Streichinstrument füllen mit ihren Klängen den kahlen Saal. Ein alter Sänger raunt dazu schwer verständliche Liedtexte. In jeder Ecke steht ein Wächter, mit einem kurzen Schwert am Gürtel und einer langen Lanze in einer Hand. Dann öffnet sich die Flügeltür zu den Gemächern des Minos. Chandaraissa und Europa werfen sich fragende Blicke zu. Was geht hier vor? Sie werden zu zwei vorbereiteten Plätzen an der Tafel geführt. Die Plätze sind so gewählt, dass man die beiden gut vom Sitz des Minos aus möglichst unauffällig beobachten kann. Die Musik bricht ab. Alle verneigen sich tief. Archaikos kommt mit schnellen Schritten herein. Ein breites Lächeln im Gesicht. Er will die beiden völlig irreführen. Alles soll so aussehen, als ginge es nur um ein kleines und heiteres Mahl in kleinem Kreis.

„Oh, wie freue ich mich, dass ihr, Chandaraissa, meiner Einladung gefolgt seid. Europa, meine am meisten begünstigte Frau in meinem Palast, weiß es sicher auch sehr zu schätzen. Nicht wahr, Europa?“

Die beiden Frauen wundern sich insgeheim. Sie sind klug genug, um zu wissen, dass natürlich hinter dieser Einladung eine Absicht steckt. Nur ist ihnen noch nicht klar, welche. Chandaraissa antwortet leise und langsam:

„Hoher Herr, Minos von Kreta, als Hohepriesterin der großen Göttin stehe ich mit meinem Gebeten und meinen guten Wünschen immer an eurer Seite, das wisst ihr. So bin ich auch gerne eurer Einladung gefolgt.“

Mit keinem Wort geht sie auf Europa ein. Sie wirft nur kurz einen freundlichen Blick zu ihr. Sie verstehen sich und werden alles tun, kein Misstrauen zu erregen. Mit gnädiger Geste nimmt Archaikos Platz, die Musikanten setzen ihr Spiel fort, Früchte werden gebracht, das Wasser wird ihnen in hölzerne Pokale gegossen. Wie ein Luchs beobachtet Archaikos diese scheinbar unwichtigen Handreichungen der Dienerschaft. Wenn Sardonius Recht haben sollte, müssten sie ja irgendwie versuchen, ihr Gift ins Wasser seines Pokals zu mischen, wenn sie das wirklich vorhaben sollten. Man hebt die Becher, man lächelt sich zu, man trinkt. Nichts ist passiert. So weit.

„Europa, was hältst du von unserer Hohenpriesterin? Ist sie nicht wunderbar?“

Europa denkt nach. Was will er von ihr hören? Ist es eine Prüfung? Weiß er, dass sie gestern im Tempel bei Chandaraissa war? Er wirkt so weit weg heute, findet sie. Sein Lächeln scheint ihr nicht echt. Was führt er im Schilde?

„Hoher Herr, ihr könnt euch glücklich schätzen, so jemanden an eurer Seite zu haben. Sie und ihre Priesterinnen beten täglich für euch, habe ich gehört, und für das Wohl aller auf der Insel.“

Das Hammelfleisch wird hereingetragen. Beflissen verteilt die Dienerschaft auf die bereit stehenden Teller, Chandaraissa lässt sich erneut Wasser nachschenken, Archaikos beobachtet sie dabei genau. Nichts deutet darauf hin, dass sie ihn vergiften wollen. Nichts. Wie auch? Sie müssten sich ja erheben, zu seinem Platz kommen, seinen Pokal füllen. Was für eine dumme Idee, denkt er jetzt. So finde ich es bestimmt nicht heraus. Ich muss mich zu ihnen setzen, dabei nehme ich meinen Pokal mit, dann werden wir weiter sehen. Sie müssen sich ganz sicher fühlen. Der Geruch des gebratenen Fleischs weht durch den Saal, Schwalben fliegen unter der Decke hin und her, die Mittagssonne lässt die kleinen Fenster oben in der Wand hell erstrahlen. Die Musikanten werfen hungrige Blicke auf die nun reich gedeckte Tafel. Aber sie müssen weiter spielen. Da erhebt sich der Minos von Kreta. Für einen Augenblick fürchtet die Dienerschaft, er wolle das Essen abbrechen, etwas habe ihm vielleicht nicht gefallen; dann sehen sie aus den Augenwinkeln, dass er sich gar nicht zum Gehen wendet, sondern im Gegenteil nur näher an die beiden Gäste heranrückt. Er nimmt sich einen Hocker und stellt ihn zwischen die beiden erstaunten Frauen.

„Da wir heute zum Glück ohne die steifen Ratsherren zusammensitzen können, werden wir in kleinem Kreis essen und reden. Wenn es euch recht ist.“

Chandaraissa und Europa wittern, dass der Minos ein Spiel mit ihnen spielt. Nur ihre Rolle darin ist ihnen überhaupt nicht klar.

„Wir wissen solche Gunst durchaus sehr zu schätzen, werter Herr!“

So, denkt Archaikos, jetzt könnt ihr es ja mal versuchen. Ich stelle – ganz zufällig – meinen Pokal direkt vor euch hin, schaue interessiert oben zur Decke, als verfolgte ich den Flug der Schwalben und Sperlinge, behalte aber gleichzeitig alles aus den Augenwinkeln fest im Blick.

„Die Sperlinge sind die Lieblinge der Göttin, sagt das Volk, sie sind immer froh, laut und ausgelassen. Das gefällt der Göttin wohl sehr.“

Chandaraissa zwinkert Europa kurz zu, wendet dann den Blick wieder von den Sperlingen zum Minos von Kreta und fährt sogleich fort:

„Gibt es in eurem Land auch so viele Sperlinge, Europa?“

Europa ist erleichtert, dass ihre neue Schwester ein so unverfängliches Thema geschickt eingefädelt hat, zumal Archaikos sich wirklich für diese lustigen Vögel zu interessieren scheint. Lachend antwortet sie Chandaraissa:

„Und wie, ganze Schwärme davon. Manchmal ist der Lärm, den sie machen, so groß, dass man sie verscheuchen muss; aber auch dort meint man, dass sie der großen Göttin gefallen und sie die Vögel manchmal sogar als Boten nutzt.“

Archaikos kann einfach nichts Verdächtiges an den beiden bemerken. Von Gift mischen kann gar keine Rede sein. Harmlos. Also hat Sardonius gelogen? Oder zumindest seine Spione? Jedenfalls hat ihm seine Idee, die beiden auf die Probe zu stellen, nicht weiter geholfen. Er muss ihnen aber dennoch den Prozess machen, denn Sardonius besteht ja weiter auf seiner Anschuldigung. Arme Europa! Er würde es ihr gerne ersparen, aber dem Herrn der Hofhaltung gegenüber darf er einfach keine Schwäche zeigen. Morgen soll das öffentliche Verhör stattfinden, gleich morgen. Völlig abrupt verlässt er die Tafel.

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