25 Mrz

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 173

Die Eile der alten Ratsherren lässt die Gerüchteküche heiß laufen.

Kaum hat der Herold die schlimme Botschaft allen kundgetan, kaum sind die schwarzen Tücher über die langen Wände des Palastes herunter gelassen worden und das große Feuer angefacht, da beginnt auch schon das Flüstern und Raunen:

„Was geht da hinter den Mauern vor sich? Kaum ist der alte Minos tot, schon ziehen die Ratsherren die Fäden.“

„Klar doch, dass die Fremde, diese Europa, tot sein soll, passt denen sicher wunderbar in den Kram.“

„Wieso? Die tun doch nur ihre Pflicht, oder?“

„Pflicht, Pflicht. Die wollen ihre eigene Macht sichern, die wollen die Gunst der Stunde nutzen und einen Mann zum Minos wählen, der ihnen passt. Die Zwillinge der Europa passen ihnen doch überhaupt nicht.“

„Vielleicht hat es dieses Unwetter ja gar nicht gegeben. Vielleicht…!“

„Vielleicht! Die würden doch nie so etwas machen, wenn die sich nicht sicher wären.“

Die Männer, die da gerade tratschend beieinander stehen, wechseln abrupt das Thema, als zwei Ratsherren mit wichtigen Mienen an ihnen vorbei eilen.

„Hast du gesehen, was die für Gesichter machen?“

„Schauspieler, nichts als Schauspieler.“

Man nickt, lacht und spielt selbst die Wissenden. Aber die Unsicherheit ist dennoch allen ins Gesicht geschrieben.

Einige eilen zum Tempel der großen Göttin. Vielleicht erfahren sie ja mehr von der Hohepriesterin Chandaraissa. Die einfachen Leute hier oben vertrauen ihr mehr als den Ratsherren, auch die unten im Hafen stehen in kleinen Gruppen herum und flüstern miteinander. Wer wird der nächste Minos werden? Diese Frage bewegt alle am meisten. Aber immer wieder kommt das eigentliche Thema dahinter nach vorne:

„Woher wissen die denn so genau, was passiert ist? Hat es diesen Sturm überhaupt gegeben? Und hat es keine Überlebenden gegeben?“

„Sollte man nicht besser abwarten, bevor man dieses Totenstück mit so großem Pomp aufführt?“

„Was, wenn die für tot erklärten, plötzlich zurückkehren?“

„Was, wenn man den Falschen zugestimmt hat?“

Jetzt tönen wieder von dem Podest hoch oben auf dem Palast die Totenhörner mit ihrer zu Herzen gehenden Melodie. Und das große Feuer vor dem Palast des Minos beleuchtet unheimlich das riesige Gebäude, das jetzt – völlig verdeckt mit schwarzen Tüchern – auf die verängstigten Bürger den Eindruck macht, als läge da ein monströses Ungeheuer aus der Unterwelt, das jeden Augenblick aufspringt und sie alle blutrünstig verschlingt.

Im großen Tempel – er hat sich inzwischen gefüllt mit verunsicherten Menschen – erhebt gerade die Hohepriesterin beschwichtigend ihre Arme, verneigt sich tief vor dem großen Abbild der Göttin, erhebt erneut die Arme und spricht dann so zu den Rat Suchenden:

„Wir sind nicht allein. Die Göttin hält schützend ihre Hände über uns. Seht nur, wie sie mild lächelnd auf uns herab schaut, wie sie uns Trost spendet.“

Dann schweigt Chandaraissa lange. Vier junge Priesterinnen füllen die großen Metall-Schalen erneut mit Weihrauch, werfen glimmendes Holz dazu und fachen die Glut mit großen Fächern an. Dahinter stehen die anderen Priesterinnen, wiegen ihre Körper hin und her und summen leise, aber sehr eindringlich, die alt bekannte Melodie zu Ehren der großen Göttin. Dann ergreift Chandaraissa erneut das Wort: „ Sie waren unterwegs zum Orakel von Sidon – Europa und ihre beiden Söhne, die kommenden Herren in Kreta – sie wollten Gewissheit holen. Sind sie gescheitert? Sollte es nicht sein? Oder werden sie doch – von unserer Göttin behütet – heil zurückkehren?“ Kaum hat sie diese Fragen ausgesprochen, da geht ein Schrei durch die hohe Halle des Tempels, erschrocken flattern oben die Vögel aus ihrem Dämmerschlaf: „Ja, ja – so soll es sein, so soll es sein!“

24 Mrz

Europa – Meditation # 444

Die Natur – das Auto-Diktat – die Kriege – die Patrix

Der unverwüstliche Zeitgeist hat das Wort:

Was schon Aristoteles meinte – der Mensch sei ein soziales Wesen – gilt auch heute noch: Im Mutterleib kommunizieren wir bereits mit der nächsten, der Mutter. Hören ihr zu, lieben den Klang ihrer Stimme, lassen uns wiegen, genießen das Lachen, die schwebende Ruhe und die warme Dunkelheit. Wenn das doch immer so bliebe. Herausgerissen schreie ich mir zuerst einmal die Seele aus dem Leib: „Nein!“ Aber es hilft nicht. Kalt, zu hell, und viel zu viel allein. Das ist kein guter Start. Und je länger es dauert, umso schlimmer wird es: Farben, Figuren, Stimmen – die Mutter verschwindet im Hintergrund, im Vordergrund ein Zauberkasten, der all meine Aufmerksamkeit bekommt und verbraucht. Immer für mich da, immer. Bald schon kann ich nicht mehr ohne ihn sein! Will ich auch gar nicht, denn die Leute um mich herum, haben eh keine Zeit für mich.

Der Roller ist der nächste Freund in meinem Leben, dann das Auto. Ich lebe auf den Führerschein hin, dann bin ich endlich frei. Kann hin, wohin ich will. Kann imponieren, erobern, überholen, der Schnellste will ich sein. Natürlich unterstütze ich nur die Partei, die dafür sorgt, dass breitere Schnellstraßen gebaut werden, ohne jede Tempobeschränkung, klar. Gegen Staus helfen eben nur breitere Straßen, möglichst kurvenfrei, damit ich möglichst schnell von A nach B komme. Während des Staus schaue ich mir Autorennen auf meinem Bildschirm an. Ich bin so frei wie noch nie. In meinem Auto unterliegt alles meiner Kontrolle und meinem Willen. Ich bin unabhängig.

Und in Kriegen feierte die Phantasie von Ingenieuren schon immer ungeahnte Feste: immer neue, bessere Techniken wurden erfunden, stärkere Motoren, schnellere Fortbewegungsmittel zu Lande, zu Wasser und in der Luft. Das war schon immer so.

Deshalb werden auch die Auseinandersetzungen in der Ukraine und in Palästina wieder zu Fortschritten für die Nachkriegszivilgesellschaft führen. Da bin ich mir ganz sicher. Unsere Kinder und Enkelkinder werden davon profitieren, genau wir unsere Großeltern und Eltern davon profitierten.

So wie jetzt auch unsere Alten bald in selbst fahrenden, bequemen Elektrokutschen losziehen können, mobil so lange sie wollen und können. So werden sie aus ihren einsamen Zimmerchen in muffigen Altersheimen heraus gelockt werden, können mit Gleichgesinnten losziehen und die Welt noch einmal bereisen. Weltweit wird der Tourismus noch einmal so richtig einen Schub erhalten. Auch die Infrastruktur zwischen Ländern und Erdteilen kann so weiter ausgebaut werden. Brücken von nie dagewesener Länge und Breite, Tunnel desgleichen. Dazu wird es neue Schulen geben, in denen speziell die Alten unterrichtet werden im Gebrauch digitaler Instrumenten und Fahrzeuge. All das wird natürlich auch zu einem neuen Wirtschaftswunder führen, denn all die Instrumente und Maschinen, die nötig werden zum Bau und Betreiben solcher immensen Veränderungen, werden von KI-gesteuerten Systemen am Laufen gehalten und mehr und mehr benötigt, so dass Zuwachsraten in noch nie dagewesenem Ausmaß angesagt sein werden.

Einsamkeit wird ein Gefühl sein, das sich selbst erübrigt, weil alle endlich genügend Zeit haben mit anderen zu kommunizieren, zu verreisen, Welten zu erleben und von ihnen zu erzählen.

Was früher einmal mit dem Cruising in der Neuen Welt als Lebensstil junger Männer begann, wird nun in unvorstellbarer Vervielfältigung weltweit als normaler Alltag inszeniert werden können. Die Alten sitzen bequem in ihren großen Fahrzeugen, spielen gegeneinander Schach, frühstücken gemeinsam und skizzieren die an ihnen vorbei gleitende Welt, die nebenbei auch noch von Kameras aufgenommen wird, damit später in einem zweiten Zugriff die angefertigten Skizzen noch überarbeitet werden – als Gemeinschafts-Kunstwerk – und dann über die social media mit der community ausgetauscht und gefeiert werden können.

Was für wunderbare Aussichten! Den Pessimisten schwimmen längst die Felle weg!

Wer diesen Text für eine bitterböse, ironische Fingerübung hält, liegt wahrscheinlich gar nicht so daneben.

10 Mrz

Europa – Meditation # 443

Die ganz große Truman-Show.

Überschaubar waren die historisch gewachsenen Gemeinschaften auf dem kleinen Kontinent Europa. Man kannte sich. Man war verwandt. Man pflegte Beziehungen, um Waren zu tauschen, um Bücher zu übersetzen, um Reisen zu machen. Um Schönheit zu erschaffen aus Stein oder mit Farben. So verschieden ihre Kunstwerke auch waren, immer schienen sie aufeinander zu zeigen: Schaut, wir kennen uns. Denn das Fremde blieb selbst an seinen Rändern vertraut. Die Legenden, Märchen, Epen und Erzählungen holten ferne Orte wie auf fliegenden Teppichen getragen in die Phantasie der Menschen. Dort wurden sie nicht nur aufbewahrt, nein, sie wurden auch weiter erzählt, variiert, neu beantwortet. Tausend Jahre und mehr. Selbst der Mythos von Europas Entführung ließ sich immer wieder neu erzählen. Die Männer in ihrer Deutung, die Frauen in der ihren. In Sitten und Gebräuchen, in Musik und Tanz, in Masken und Kostümen schwelgten sie in schöner Selbstgewissheit und vertrauten Räumen, und die natürlichen Grenzen in Europa – Gebirge, Flüsse und fruchtbare Ebenen – wurden geachtet und geschätzt. Sie waren alte Zeichen gewachsener Distanz, die aber Reisende und Kaufleute immer wieder gerne überwanden. Besonders ihre Sprachen hallten wider von gemeinsamen Wurzeln – im Osten wie im Westen.

Dann aber wuchsen erfundene Feindschaften – oft aus überhöhtem Nationalstolz – und führten zu schlimmen Kriegen: der Dreißigjährige, der Siebenjährige, Revolutionskriege, der Erste und der Zweite Weltkrieg – und schon kündeten Schutt und Asche und Millionen toter Soldaten (lauter Begabungen, die Europa für immer verloren waren) von völlig fehlgeleiteten Narrativen. Auch hatten sich die Europäer militärische Hilfe aus Übersee geholt, die sie seitdem nicht mehr los werden: Denn aus der Hilfe ist längst eine unselige Assimilation geworden, die dazu geführt hat, dass die Europäer leichtfertig ihre eigenen Traditionen über Bord warfen und nur noch auf Wachstum, Konsum und Neoliberalismus setzen. Die Folgen für Europa sind nicht nur überwältigend, sondern auch zunehmend nachhaltig: Als befände sich Europa in einer riesigen Truman-Show-Glasglocke, über der große überseeische Großunternehmen hocken und die Regie führen: Gezielt werden ganz bestimmte Bereiche besonders grell ausgeleuchtet, andere besonders gefördert, aber vor allem der europäische Konsument still gestellt, indem er wie benommen vom scheinbaren Zauberwerk des Algorithmus 0/1 in die Irre geleitet wird. Gerne stellt er seine heimlichen Vorlieben als Datensalat zur Verfügung, um sich dann innerhalb dieser riesigen Truman-Blase in kleineren Bläschen zu tummeln – Tag und Nacht – und sich dann völlig überrascht und selig zu wundern, wenn ihm passgenaue Angebote aus der großen Truman-Blase auf den Monitor purzeln. Das ist ja fast schon Schlaraffenland, denkt er trunken ob solch schöner Zufälle. Die Statussymbole, für die er sich „den Arsch aufreißt“, die Mobilität, die er für echte Freiheit hält und die Bringdienste, die er ununterbrochen und unerbittlich mithilft auszubeuten, all das hat ihn weit weg katapultiert von dem, was ihn einst als Europäer ausmachte. Das zunehmende Tempo, das er fleißig mit bedient, macht ihn zwar schlaflos und oft auch burn-out-affin, aber er erklärt er sich längst als den Gang der Dinge eben, dem man sich nicht in den Weg stellen sollte, denn sonst ist man weg vom Fenster!