04 Mrz

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 172

Der Rat der Alten will Fakten schaffen.

Diesmal ist es Collchades, der eine Sondersitzung des Rates verlangt. Und noch am gleichen Tag – das Schiff, das Europa zusammen mit ihren Söhnen nach Sidon bringen soll, müsste längst in Phönizien angelangt sein – treffen sich die Ratsherren im Ratssaal. Sie haben keine Ahnung, warum Collchades sie ruft. Nervös nehmen sie auf ihren Sitzen Platz, tuscheln miteinander. Dann rauscht Collchades herein, grinsend. Er fuchtelt mit seinen Armen in der Luft herum, sein Gewand weht um ihn herum wie ein sich blähendes Segel, noch im Gehen beginnt er zu reden:

„Hohe Ratsherren! Schlechte Nachrichten muss ich euch melden…!“

Und schon wird aus dem Raunen ein Durcheinanderreden, ein Gestikulieren. Einige der Ratsherren springen vor Aufregung auf, andere halten den Atem an.

„Collchades“, unterbricht ihn Pallnemvus verärgert, „woher hast du deine Informationen, hä?“

„Pallnemvus, lass ihn doch ausreden!“ fährt ihm Zygmontis dazwischen, „er wird uns schon noch alles offenbaren.“

Collchades nickt, holt Luft und schaut stolz in die Runde:

„Gerade ist ein schneller Segler aus Ägypten im Hafen vor Anker gegangen und die hatten Nachrichten dabei: Im Norden habe es vor Tagen ein Unwetter gegeben, ein Schiff aus Kreta sei untergegangen – mit Mann und Maus!“

Sofort wird es leichenstill im Saal. Aber nur für für einen Augenblick. Dann reden alle durcheinander. Die Augen der alten Männer leuchten, ihre Hände vollführen wahre Tänze in der Luft und ihre Stimmen purzeln durcheinander wie Kieselsteine bei einem Wellenschlag.

„Ruhe, Ruhe!“ Berberdus, der Vorsitzende, will seines Amtes walten, „Ruhe, ich eröffne hiermit die Sitzung. Einziger Tagungspunkt: Trauerzeit und Wahl des neuen Minos!“

Sofort kehrt tatsächlich wieder Ruhe ein. Denn jetzt ist es wichtig, dass man als Ratsherr keinen Fehler macht, kein falsches Wort sagt, nicht den falschen Mann unterstützt und sich selbst in Position bringt. Berberdus erteilt Gromdas das Wort:

„Ratsherr Gromdas, du hast das Wort, aber fasse dich kurz!“ Die anderen nicken in Lauerstellung. Gut, dass sie selbst nicht zu erst das Wort ergreifen müssen. Gromdas grinst, nickt, erhebt sich, räuspert sich und sagt dann kurz und bündig:

„Werte Ratsherren! Die Götter haben eingegriffen, nun ist es an uns, die Folgen planvoll zu gestalten. Als erstes müssen wir das Volk informieren, dass Europa, die Gattin des letzten Minos und Regentin zusammen mit ihren beiden jungen Söhnen, Sadamanthys und Parsephon, bei einem Schiffsunglück ums Leben gekommen ist.“

Ergriffenes Schweigen in der Runde, gut gespielt und scheinbar würdevoll inszeniert, obwohl das Volk gar nicht zuschauen kann. Gromdas holt tief Luft und fährt dann so fort:

„Zweitens setzen wir – aufgrund der Größe der Tragödie – ein zweiwöchige Trauerzeit an. Der Palast soll mit schwarzen Tüchern verdeckt werden. Und zwei Wochen lang soll vor dem Palast ein Gedenkfeuer brennen.“

Zustimmendes Nicken. Gromdas spürt, dass er sich gerade selber in Position bringen kann. Er macht ein sehr ernstes Gesicht, als wolle er sagen, dass ihm gar nichts an der Macht liegt, die da gerade ihre Hände nach ihm auszustrecken scheint.

„Und drittens: Danach muss der neue Minos inthronisiert werden, damit Kreta nach innen und außen handlungsfähig bleibt.“

Keltberias schielt hinüber zu Berberdus, Collchades nimmt Blickkontakt mit Zygmontis auf und Pallnemvus rechnet blitzschnell durch, was es ihn kosten wird, der Minos zu werden. Dabei pochen alle mit ihren Fingerknochen auf die Pulte. Wir sind einverstanden.

Dann geht alles sehr schnell. Die Ratsherren setzen einen kurzen Text auf, den der Herold heute noch vor dem Palast verlesen muss, damit das Volk gar nicht erst mit Gerüchten um sich werfen kann. Die langen, schwarzen Tücher müssen vom Dach des Palastes heruntergelassen werden, das große Feuer mus entfacht werden, im Tempel der großen Göttin soll die Hohepriesterin Chandaraissa eine Gedenkfeier für die Opfer des Schiffsunglücks vorbereiten. Am besten schon Morgen soll das über die Bühne gehen.

Die Ratsherren jubilieren innerlich. Endlich ist ihr ärgster Feind, diese Aufsteigerin Europa, an ihrem eigen Ehrgeiz zugrunde gegangen. Die Götter haben ihr streng zu verstehen gegeben: Nur wer so hoch steht, der kann auch so tief fallen.

02 Mrz

Europa – Meditation # 442

Die hohen Mauern der Patrix

Die chinesische Mauer ist nichts im Verhältnis zur der furchtbaren Mauer, die das Patriarchat immer noch mit Gewalt aufrechtzuerhalten versucht. Und das eben nicht nur im Zweistromland, wo Männer es erfunden haben oder eben in Europa, sondern weltweit. Meistens mit nachhaltiger Unter- stützung religiöser Institutionen und Männerbünden, sprich Priestern.

So wie in jedem Gefängnis strenge Regeln gelten – und zwar nicht nur die der Gefängnis-Aufsicht, sondern auch die der Häftlinge untereinander, die gnadenlos streng und unerbittlich jeden Abweichler so was von vorführen, so dass nur Angst und Schrecken und Starre vorherrschen – so ist es auch in der patriarchalischen Welt: Missbrauch, Femizide, Vergewaltigungen, häusliche Gewalt sind die Spitzen dieses Gewalteisberges, der nun seit fast 10000 Jahren den homo sapiens in ein Muster zwängt, das ihm inzwischen als natürlich scheint, obwohl es doch nur vor langer Zeit von frustrierten Jägern ausgedacht wurde, um die eigenen Bedeutungslosigkeit mit einem unschlagbaren Narrativ aufzupäppeln: Es gibt nur einen Gott, einen unsichtbaren, es gibt nur eine Ehe und einen Erben und als Priester wachen wir über diese ewigen Gesetze, damit uns kein Unheil von Seiten Gottes widerfahren möge. Angst wird so zum Motor des menschlichen Miteinanders und die Frauen müssen sich diesem Diktat unterwerfen, denn es ist ja ein göttliches.

Im Laufe der Jahrtausende wurde dann dieses Narrativ immer mehr verfeinert und überarbeitet, so dass gar nicht mehr klar war, dass es eine Erfindung aus Not war, die nun als natürliche Gegebenheit das Leben aller Menschen bestimmt. Diese Domestizierung der inneren Natur des Menschen soll allerdings nicht als Gefängnis verstanden werden, dem sich Frauen wie Männer zu unterwerfen haben. Dass darunter unkaputtbar die eigentlich Natur des Menschen weiter nach frischer Luft schnappen möchte, ist allerdings ein Ärgernis, dass täglich beinhart bekämpft werden muss. Und wie gesagt: wie in jedem Gefängnis sind die Strafen für Regelverletzungen knallhart, exekutiert von Männern, die sich als Wächter dieses großen Narrativs verstehen. In der häuslichen Gewalt, in Femiziden und in der generellen Benachteiligung der Frauen lebt sich diese Selbstjustiz weiter aus. Die Männer gehen derweil in den Bordellen Luft schnappen – das soll gewissermaßen die Regel nur bestätigen, denn der Wert dieser Frauen wird von den Männern eher gegen Null gehandelt. Letztes schlimmes Beispiel: in Wien, wo neulich vier Frauen von Männern ermordet wurden, weil sie dem Narrativ nicht entsprechen wollten.

29 Feb

Europa – Meditation # 441

Schiffbruch: Mythologie der Vernunft als blinder Passagier mit auf dem Floss der Medusa.

Ein erbärmlicher und skandalöser Unfall aus dem Jahre 1816, der sich nun schon so lange hinzieht. Viel zu lange schon! Dabei waren die Aufklärer des 18. Jahrhunderts doch zu einem intellektuellen Wettstreit angetreten, der die Menschheit mit Hilfe der Vernunft „endlich“ aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit herausführen sollte.

Es sollte ein einziger Aufstieg ins Licht der Erkenntnis werden, zielgerichtet wie ein Vektor, der stetig nach oben weist.

Was diesen Denkern – und nicht nur denen der ersten Generation – dann aber entging, was, dass diese Vernunft nur auf einem technischen, formalen Feld zu fruchten wusste, nicht aber auf dem des Humanen selbst.

So berauschten sich die „Vernunftler“ an ihren eigenen Ergebnissen, wenn sie dabei auch nicht nur die Erde immer unbewohnbarer machten und sich selbst immer abhängiger von eben diesen Ergebnissen, sondern auch noch als neuestes Produkt dieser immer hektischer inszenierten Fluchtbewegung eine instrumentelle Vernunfts-Zeitbombe aus dem Hut zaubern, die es wirklich in sich hat: der Algorithmus und seine virtuellen Endlosschleifen, in denen sich der homo sapiens nicht nur ununterbrochen tummeln kann, sondern auch gerne vor sich selbst verloren gehen möchte.

So dient das Bild vom Floss der Medusa, das Théodore Géricault 1819 malte, nach wie vor für die verstörende Botschaft, dass der homo sapiens allzu gerne vergisst, dass er auch ein Tier ist (s. dazu auch das neueste Buch von Markus Gabriel: Der Mensch als Tier), das seinen Verstand noch gar nicht angemessen für seine gesamte species ins Spiel gebracht hat. Denn die Mythologie der Vernunft entpuppt sich längst als nichts anderes als eine Sackgasse, aus der der Mensch schleunigst wieder zurückrudern muss, wenn er doch noch Licht am Ende des Tunnels seiner unerhörten Wortgebirge zu sehen bekommen möchte.

Wenn nun in den Medien – trotz der irrsinnigen Unvernunftsmassaker in der Ukraine wie in Palästina – flugs, gewissermaßen als Ablenkunksmanöver und intellektuelles Ersatzschauspiel, ein neuer Topf auf dem „Sprachmarkt“ angeboten wird: „Das künftige Modell heißt Pentarchie“, dann fühlt sich das so an, als wäre man in Lego-Land und die kleinen Menschlein dürften mal so richtig mit den bunten Klötzchen klotzen. Anstelle von alten oder auch neuen Modellen wäre es derzeit wirklich angeratener, sich gegenseitig wach zu rütteln, um aus dem Schlaf der Vernunft in eine vernünftige Gegenwart miteinander zu starten.