27 Mrz

Europa – Meditation # 445

Individuelle Freiheit – ein trauriger Torso nur noch.

Der Bildungsbürger – ganz in der Humboldtschen Tradition des 19. Jahrhunderts – ging bisher durch ein langes, mühsames Tal des Lernens, bevor man bereit war, ihm zu attestieren: Du bist zu einem gebildeten Bürger gereift. Besonders die Institution SCHULE sollte dafür sorgen, dass dieses Ziel nachhaltig erreicht wurde.

Zwei Sinnnbrüche hätten genügen sollen – der Erste und der Zweite Weltkrieg – dieses langfristige Lernmodell des homo sapiens zu hinterfragen, zu überarbeiten. Doch die Beharrungskräfte des alten Modells erwiesen sich als beharrlicher. Kein bisschen weise!

„Nie wieder Krieg!“ lautete der mutige Nachkriegs-slogan. Man wollte dem Sieger gegenüber als radikal lernfähig erscheinen: Bildungsreformen wurden beschlossen und bürokratisch umgesetzt. Dabei galt der große Bruder aus Übersee über Nacht als unanfechtbares Vorbild, das im Vergleich zum ideologischen Feind einen Pyrrhus-Sieg nach dem anderen nach Hause fuhr: Bei der Umstellung von Kriegs- auf Friedensproduktion beschleunigten die Macher an den großen Seen die Produktionsprozesse in Richtung Automatisierung und beschleunigtem Konsum. Und der nibelungentreue Juniorpartner in Mitteleuropa hechelte kopierend hinterher und demontierte leichtfertig und blauäugig altbewährte Gewohnheiten in europäischer Tradition. Bis in die Sprache hinein gab man auf und ab.

Hätte man sich die High-Schools im Mittleren Westen genauer angesehen, hätte man dort schon die Folgen eines enthemmten Konsumdenkens besichtigen können: Randale, Müll, Gewalt und abgewirtschaftete Gebäude, von Toiletten gar nicht erst zu reden. Die jungen Leute, die dort Tag für Tag abhängen, langweilen sich zu Tode, hassen ihre Lehrer, bedrohen sie sogar mit heimlich mitgeschleppten Waffen. Alltag. 1974 gab es in der University of Michigan – nahe Detroit – einen Vortrag für die Studenten über solche Verhältnisse in Schulen. Die Gast-Studenten aus Europa konnten es nicht fassen: Unglaublich, nicht zu fassen! 50 Jahre später können diese alt gewordenen Studenten in Mitteleuropa ganz ähnlich Verhältnisse zu Hause konstatieren: Langeweile, Mobbing, Gewalt und desolate Gebäudezustände: Die Kleinen fürchten sich davor, vor Ort eine Toilette benutzen zu müssen, so ekelhaft sind die Verhältnisse. In diesen Tagen gibt es Schüler-Proteste und klare Forderungen: Kleinere Klassen, sanierte Schulhäuser und sanitäre Einrichtungen. Die verantwortlichen Erwachsenen haben allerdings andere Prioritäten, starren gierig auf die Börsenkurse und huldigen dem Gott des Neo-Liberalismus, als hätte der ein Interesse an nörgelnden Kindern, die keine Lust auf Lesen, Schreiben und Rechnen haben und auf soziale Kompetenz schon mal gar nicht. Anscheinend gibt es wichtigeres als stabile nachwachsende Generationen aufwachsen zu lassen.

Das offizielle Lernziel der Abiturienten bleibt aber nach wie vor „die eigenständige, kritische Persönlichkeit“, die dann als Reife definiert ist. Dass aber inzwischen dieselben jungen Leute in ihren eigenen Blasen unterwegs sind, wo es um Eitelkeiten, Follower, Emojis, Klicks und Zustimmungswerte geht, die bitte schön im Sekundentakt bedient sein wollen, und nicht um das traditionelle Bildungsideal vom unabhängigen Individuum, das sich selbst ein kritisches Urteil zu bilden gelernt hat, das entgeht den Großkopf-Typen in ihren großen Blasen – den sogenannten digitalen Medienverbünden – völlig. Die Nachricht von den streikenden Schülern ist längst im Papierkorb entsorgt.

Und das damit einher laufende zunehmende Tempo ermüdet natürlich alle ungemein. Man ist erschöpft, putscht sich auf und würgt jede Debatte mit dem Totschlagargument „Sehr komplex!“ einfach ab.

Weil aber gleichzeitig die Schlagzahl der gesellschaftlichen Zwänge – Mieterhöhungen, Versicherungszahlungen, Status-Symbol-Spirale – beinhart erhöht wird, müssen selbst die kleinen Kinder zunehmend alleine – ohne ihre Eltern – klar kommen, weil sonst die laufenden Kosten aus dem Ruder laufen. „Willkommen in digitalen Nirwana“, hier kann jeder jederzeit alles haben, die immensen unsichtbaren Energiekosten dafür zahlen wiederum die Steuerzahler. Tsunami normal. Vereinsamung massenhaft.

24 Mrz

Europa – Meditation # 444

Die Natur – das Auto-Diktat – die Kriege – die Patrix

Der unverwüstliche Zeitgeist hat das Wort:

Was schon Aristoteles meinte – der Mensch sei ein soziales Wesen – gilt auch heute noch: Im Mutterleib kommunizieren wir bereits mit der nächsten, der Mutter. Hören ihr zu, lieben den Klang ihrer Stimme, lassen uns wiegen, genießen das Lachen, die schwebende Ruhe und die warme Dunkelheit. Wenn das doch immer so bliebe. Herausgerissen schreie ich mir zuerst einmal die Seele aus dem Leib: „Nein!“ Aber es hilft nicht. Kalt, zu hell, und viel zu viel allein. Das ist kein guter Start. Und je länger es dauert, umso schlimmer wird es: Farben, Figuren, Stimmen – die Mutter verschwindet im Hintergrund, im Vordergrund ein Zauberkasten, der all meine Aufmerksamkeit bekommt und verbraucht. Immer für mich da, immer. Bald schon kann ich nicht mehr ohne ihn sein! Will ich auch gar nicht, denn die Leute um mich herum, haben eh keine Zeit für mich.

Der Roller ist der nächste Freund in meinem Leben, dann das Auto. Ich lebe auf den Führerschein hin, dann bin ich endlich frei. Kann hin, wohin ich will. Kann imponieren, erobern, überholen, der Schnellste will ich sein. Natürlich unterstütze ich nur die Partei, die dafür sorgt, dass breitere Schnellstraßen gebaut werden, ohne jede Tempobeschränkung, klar. Gegen Staus helfen eben nur breitere Straßen, möglichst kurvenfrei, damit ich möglichst schnell von A nach B komme. Während des Staus schaue ich mir Autorennen auf meinem Bildschirm an. Ich bin so frei wie noch nie. In meinem Auto unterliegt alles meiner Kontrolle und meinem Willen. Ich bin unabhängig.

Und in Kriegen feierte die Phantasie von Ingenieuren schon immer ungeahnte Feste: immer neue, bessere Techniken wurden erfunden, stärkere Motoren, schnellere Fortbewegungsmittel zu Lande, zu Wasser und in der Luft. Das war schon immer so.

Deshalb werden auch die Auseinandersetzungen in der Ukraine und in Palästina wieder zu Fortschritten für die Nachkriegszivilgesellschaft führen. Da bin ich mir ganz sicher. Unsere Kinder und Enkelkinder werden davon profitieren, genau wir unsere Großeltern und Eltern davon profitierten.

So wie jetzt auch unsere Alten bald in selbst fahrenden, bequemen Elektrokutschen losziehen können, mobil so lange sie wollen und können. So werden sie aus ihren einsamen Zimmerchen in muffigen Altersheimen heraus gelockt werden, können mit Gleichgesinnten losziehen und die Welt noch einmal bereisen. Weltweit wird der Tourismus noch einmal so richtig einen Schub erhalten. Auch die Infrastruktur zwischen Ländern und Erdteilen kann so weiter ausgebaut werden. Brücken von nie dagewesener Länge und Breite, Tunnel desgleichen. Dazu wird es neue Schulen geben, in denen speziell die Alten unterrichtet werden im Gebrauch digitaler Instrumenten und Fahrzeuge. All das wird natürlich auch zu einem neuen Wirtschaftswunder führen, denn all die Instrumente und Maschinen, die nötig werden zum Bau und Betreiben solcher immensen Veränderungen, werden von KI-gesteuerten Systemen am Laufen gehalten und mehr und mehr benötigt, so dass Zuwachsraten in noch nie dagewesenem Ausmaß angesagt sein werden.

Einsamkeit wird ein Gefühl sein, das sich selbst erübrigt, weil alle endlich genügend Zeit haben mit anderen zu kommunizieren, zu verreisen, Welten zu erleben und von ihnen zu erzählen.

Was früher einmal mit dem Cruising in der Neuen Welt als Lebensstil junger Männer begann, wird nun in unvorstellbarer Vervielfältigung weltweit als normaler Alltag inszeniert werden können. Die Alten sitzen bequem in ihren großen Fahrzeugen, spielen gegeneinander Schach, frühstücken gemeinsam und skizzieren die an ihnen vorbei gleitende Welt, die nebenbei auch noch von Kameras aufgenommen wird, damit später in einem zweiten Zugriff die angefertigten Skizzen noch überarbeitet werden – als Gemeinschafts-Kunstwerk – und dann über die social media mit der community ausgetauscht und gefeiert werden können.

Was für wunderbare Aussichten! Den Pessimisten schwimmen längst die Felle weg!

Wer diesen Text für eine bitterböse, ironische Fingerübung hält, liegt wahrscheinlich gar nicht so daneben.

10 Mrz

Europa – Meditation # 443

Die ganz große Truman-Show.

Überschaubar waren die historisch gewachsenen Gemeinschaften auf dem kleinen Kontinent Europa. Man kannte sich. Man war verwandt. Man pflegte Beziehungen, um Waren zu tauschen, um Bücher zu übersetzen, um Reisen zu machen. Um Schönheit zu erschaffen aus Stein oder mit Farben. So verschieden ihre Kunstwerke auch waren, immer schienen sie aufeinander zu zeigen: Schaut, wir kennen uns. Denn das Fremde blieb selbst an seinen Rändern vertraut. Die Legenden, Märchen, Epen und Erzählungen holten ferne Orte wie auf fliegenden Teppichen getragen in die Phantasie der Menschen. Dort wurden sie nicht nur aufbewahrt, nein, sie wurden auch weiter erzählt, variiert, neu beantwortet. Tausend Jahre und mehr. Selbst der Mythos von Europas Entführung ließ sich immer wieder neu erzählen. Die Männer in ihrer Deutung, die Frauen in der ihren. In Sitten und Gebräuchen, in Musik und Tanz, in Masken und Kostümen schwelgten sie in schöner Selbstgewissheit und vertrauten Räumen, und die natürlichen Grenzen in Europa – Gebirge, Flüsse und fruchtbare Ebenen – wurden geachtet und geschätzt. Sie waren alte Zeichen gewachsener Distanz, die aber Reisende und Kaufleute immer wieder gerne überwanden. Besonders ihre Sprachen hallten wider von gemeinsamen Wurzeln – im Osten wie im Westen.

Dann aber wuchsen erfundene Feindschaften – oft aus überhöhtem Nationalstolz – und führten zu schlimmen Kriegen: der Dreißigjährige, der Siebenjährige, Revolutionskriege, der Erste und der Zweite Weltkrieg – und schon kündeten Schutt und Asche und Millionen toter Soldaten (lauter Begabungen, die Europa für immer verloren waren) von völlig fehlgeleiteten Narrativen. Auch hatten sich die Europäer militärische Hilfe aus Übersee geholt, die sie seitdem nicht mehr los werden: Denn aus der Hilfe ist längst eine unselige Assimilation geworden, die dazu geführt hat, dass die Europäer leichtfertig ihre eigenen Traditionen über Bord warfen und nur noch auf Wachstum, Konsum und Neoliberalismus setzen. Die Folgen für Europa sind nicht nur überwältigend, sondern auch zunehmend nachhaltig: Als befände sich Europa in einer riesigen Truman-Show-Glasglocke, über der große überseeische Großunternehmen hocken und die Regie führen: Gezielt werden ganz bestimmte Bereiche besonders grell ausgeleuchtet, andere besonders gefördert, aber vor allem der europäische Konsument still gestellt, indem er wie benommen vom scheinbaren Zauberwerk des Algorithmus 0/1 in die Irre geleitet wird. Gerne stellt er seine heimlichen Vorlieben als Datensalat zur Verfügung, um sich dann innerhalb dieser riesigen Truman-Blase in kleineren Bläschen zu tummeln – Tag und Nacht – und sich dann völlig überrascht und selig zu wundern, wenn ihm passgenaue Angebote aus der großen Truman-Blase auf den Monitor purzeln. Das ist ja fast schon Schlaraffenland, denkt er trunken ob solch schöner Zufälle. Die Statussymbole, für die er sich „den Arsch aufreißt“, die Mobilität, die er für echte Freiheit hält und die Bringdienste, die er ununterbrochen und unerbittlich mithilft auszubeuten, all das hat ihn weit weg katapultiert von dem, was ihn einst als Europäer ausmachte. Das zunehmende Tempo, das er fleißig mit bedient, macht ihn zwar schlaflos und oft auch burn-out-affin, aber er erklärt er sich längst als den Gang der Dinge eben, dem man sich nicht in den Weg stellen sollte, denn sonst ist man weg vom Fenster!