31 Aug

Europa – Fortsetzung einer alten Geschichte – Mythos # 55

Kadmos, Phoinix und Kilix am Scheideweg

Die Überfahrt war stürmisch und angstmachend gewesen. Deshalb atmen sie nun erleichtert auf, als die drei Brüder halbwegs festen Boden unter den Füßen haben. Die Insel der Schaumgeborenen. Als sie den Palast des Vaters so maßlos gedemütigt verlassen hatten – was können sie dafür, dass ihre Schwester Europa geflohen ist – waren sie ans Meer gelaufen. Atemlos hatten sie über das glatt und teilnahmslos daliegende Wasser geschaut. So ein Blödsinn! Als wenn sie hier eine Antwort finden könnten. Was sollten sie tun? Niemand flüsterte ihnen einen klugen Gedanken ein, niemand. Kein Gott, kein Halbgott, kein Zaubervogel. Schließlich war ihnen der Plan gekommen, als erstes zur Insel der Schaumgeborenen zu segeln. Sie wollten die Seherin dort befragen, wo sie die verlorene Schwester suchen könnten.

Nun sind sie da. Weiter ein übles Schwanken im Kopf und in den Beinen. Wie zuhause riecht es auch hier im Hafen nach Moder. Kreischen Seevögel wild durcheinander beim Streit um stinkende Beute. Kadmos lässt sich müde auf einen kleinen Berg Netze fallen. Phoinix und Kilix hinterher. Sie lachen. Aber da ist keine Freude bei. Das Geschrei der Fischhändler schmerzt ihnen in den Ohren. Schlafen, lange schlafen, das wäre jetzt das Beste.

„Wir müssen sofort zum Tempel der Schaumgeborenen, vielleicht hat die Seherin zufällig mal nichts zu tun.“

„Klar, die wartet bestimmt schon den ganzen Tag auf uns. Oder?“

Kilix kichert leise vor sich hin. Die Übelkeit nimmt langsam ab. Tief einatmen, tief einatmen, denkt er. Ich überlasse meinen großen Brüdern das Reden, denkt er schläfrig und erschöpft. Hau ab, blödes Vieh, faucht er ein langschnäbliges Ungeheuer an, das in ihrem Netzberg noch Beute vermutet. Unerschrocken zerrt es an den Seilen. Pickt und pickt. Erst als Kilix mit der Hand nach ihm schlägt, flattert es flach zwischen Masten und Segeln über das Hafenbecken davon. Insgeheim wünscht er sich dabei, dass seine kleine Schwester nie von ihnen gefunden wird. Er jedenfalls will das Seine dazu beitragen. Er liebt sie. Schon immer. Europa. Was für ein schöner Name, denkt er noch.

„Und Kilix? Was meinst du?“ fragt ihn Phoinix ungeduldig.

„Ja, lass uns gleich hingehen. Dann werden wir sehen, ob sie für uns Zeit hat. Auf!“

Kilix wundert sich über sich selbst. Wo holt er eigentlich solche Sätze her? So aus dem Nichts. Er war doch mit seinen Gedanken gerade ganz woanders gewesen.

Dann drängen sich die drei durch das Getriebe am Hafen. Auf der kleinen Halbinsel auf der anderen Seite des Städtchens sehen sie den Tempel. Als warte er auf sie. Wie mit einem großen Maul scheint er sie anzusaugen, verschlucken zu wollen. Riesig. Fremd und bedrohlich, irgendwie. Mit ziemlich gemischten Gefühlen nähern sie sich dem größer werdenden Rachen, der von dicken Säulen offen gehalten wird. Oder sind es steinerne Zähne? Mächtige Speere?

Wie dumm von uns, hierher zu segeln, geht es Kadmos durch den Kopf. Als wenn Europa so phantasielos sein könnte, sich an solch einen bekannten Ort zu begeben! Kopflos, unsere Entscheidung. Wir werden uns besser trennen müssen. Drei Wege, drei Möglichkeiten. Das erhört die Erfolgsaussichten.

Quietschend werden gerade die großen Tore des Tempels geschlossen. Zornig schauen sich die Brüder an. Wer ist schuld, dass sie zu spät kommen, heute? Oder: Was hat das zu bedeuten, dass der Tempel gerade dann geschlossen wird, wenn sie hinein wollen?

„Andere Länder, andere Sitten“, knurrt Kadmos wütend.

Da kommt eine Priesterin aus dem Seitentor direkt auf sie zu. Werden sie vielleicht doch noch von der Seherin empfangen werden?

„Es hat ein Beben gegeben, eben. Der Meeresgott scheint zu zürnen. Deshalb muss der Tempel der Schaumgeborenen geschlossen werden. Kommt morgen wieder. Jetzt darf niemand mehr hinein.“

Sprachlos hören sich die Brüder an, was die schöne Priesterin ihnen sagt. Wie verzaubert starren sie sie an. Ein Beben? Eben? Sie jedenfalls haben nichts davon gespürt.

10 Jul

Europa – Mythos # 52

Drei Männer, drei göttliche Spanner

„Hat ja gut geklappt, eben, beim Palast“, flüstert Hades seinem Bruder prustend ins Ohr.

„Pst!“, zischt Zeus zurück, „wir dürfen bei den Frauen keinen Verdacht erregen!“

„Schau dir die mal an, Bruderherz“, kann Poseidon sich nicht verkneifen zu sagen“, die sehen ja wie Göttinnen aus. Stimmt’s?“

Zeus legt seinen Zeigefinger auf die Lippen; dabei stiert auch er wie benommen auf die tanzenden Frauen. Etwas linkisch hocken die drei Götter im Gewand von Bettlern am Eingang zum Vorraum des Tempels der großen Göttin. Sie wissen nicht so recht, was sie tun sollen. Einfach weiter starren oder Hände emporstrecken, als ob sie beteten oder in der Nase bohren, am Oberschenkel kratzen oder…

Unter ihrer Verkleidung kocht ihnen schon ganz ordentlich das alte Blut.

„War eine gute Idee von dir, Zeus, mal kurz vorbei zu schauen, was die so planen“, wispert Hades jovial. Zeus nickt gönnerhaft. Alle drei tun so, als wären sie wirklich nur neugierig, was für ein Tanzstück da eingeübt wird. In Wirklichkeit würden sie am liebsten…gut, dass keiner weiß, wie menschlich auch die Götter sind.

Sie können sich gar nicht satt sehen an diesem Tanz. Wie bunte Libellen – so scheint es ihnen – fliegen sie fast über dem Boden dahin, ihre bunten dünnen Tücher, die sie sich um den Leib gewickelt haben, wehen verführerisch um sie herum. Und was sie da sonst noch so alles zu sehen bekommen! Das Lachen schallt so hell und lockend durch die hohe Halle, dass die drei Bettler vor Begeisterung am liebsten mitgelacht hätten. Aber sie müssen sich zusammenreißen. Wenn Hera Wind von dem heimlichen Ausflug nach Kreta bekäme, so wäre das für Zeus eine wahre Katastrophe. Sie würde sich natürlich eins und eins zusammenrechnen können.

Jetzt machen die jungen Priesterinnen eine Pause, und da Europa die drei längst entdeckt hat, geht sie scheinbar ganz zufällig auf sie zu um zu fragen, wer sie sind und ob sie ihnen helfen könne. Da geschieht allerdings etwas sehr Eigenartiges. Plötzlich wird ihr schwindlig, die Bettler verschwimmen vor ihren Augen, sie schwankt, sie muss sich an einer Säule stützen. Kurz durchatmen, Augen schließen und dann weiter, denkt sie dabei.

Als sie die Augen wieder aufschlägt – die Tänzerinnen sind schon auf sie aufmerksam geworden: Warum steht sie da so komisch an der Säule, wo will sie denn überhaupt hin – stutzt sie unwillkürlich. Sie muss sich getäuscht haben. Da sind gar keine drei Männer, unbehindert kann sie zwischen den Säulen in die Gärten schauen, die im heißen Sonnenlicht ihren Mittagsschlaf halten. So dreht sie sich wieder um, lacht, streckt die Arme aus und ruft:

„Also, meine Lieben, weil ihr es schon so gut könnt, machen wir es gleich noch einmal!“

Leichtes Gestöhn ist die Antwort, aber was sollen sie machen? Wenn Europa es so will, werden sie es wohl machen müssen. Und während sie immer wieder lobend die Frauen anfeuert, denkt sie gleichzeitig über die drei Bettler nach. Da stimmt doch etwas nicht. Später wird ihr ihre Göttin in einem Traum bilderreich verraten, was hinter diesem Auftritt für eine lächerliche Geschichte steckt.

10 Jul

Mega-Städte und Mega-Probleme (Meditation # 67)

Mega-Städte und Mini-Systeme – eine kreative Allianz?

Sanctuary Cities – so nennen sich einige. Das klingt fast nach heiligem Gral, ist aber nichts anderes als die dringende Botschaft, Klimawandel und Migration selber in die Hände zu nehmen, denn schließlich sind es diese Riesen-Städte, die da Tag und Nacht wachsen und wachsen und mit ihnen natürlich auch die Probleme. (Mehr als 120 Millionenstädte allein in China derzeit, 2050 mehr als 176 Millionenstädte in Indien…). Der Staat scheint da längst überfordert zu sein, die Nation wird vielleicht wieder zu einem Mythos, den sich die Menschen gerne in ihren überschaubaren Stadtvierteln erzählen – in gut vernetzten Milieus, wo alle sich kennen, wo man sich hilft, wo man geboren wird und wo man meistens auch wieder sterben wird. Europa hinkt auch da mal wieder hinter her, aber das muss nicht unbedingt von Nachteil sein. Denn auch hier wachsen die großen Städte – siehe Ruhrgebiet, Rhein-Main-Becken, das Rheinland, um nur einige wenige in Deutschland zu nennen. Die EU könnte dann bald nur noch Schnee vom letzten Jahr sein: Ein nachvollziehbarer Irrtum – für kurze Zeit eines Übergangs vielleicht sogar von Nutzen für viele Europäer, aber nun eben überfordert und ideenlos, weil Wachstum ohne Ende und Immobilienblasen-Tango ( um nur kurz zwei Auswüchse zu nennen, neben vielen anderen, die es mehr und mehr gerade auch jungen Menschen innerhalb der EU unmöglich macht, ein lebenswertes Leben leben zu können) ausgespielt haben.

Und jeder weiß aus zahllosen Gesprächen mit dem Nachbar, wie kostbar das Wasser wird, wie sehr die erneuerbaren Energien gepflegt werden müssen, wie lächerlich der Individualverkehr in solchen Städten ist und was für wunderbare Geschichten man sich über Europa, diesen kleinen Kontinent erzählen kann. Auch von dieser jungen Frau, die sich – trotz Entführung durch einen Mega-player und trotz Gewalt – diesem mutwilligen Übergriff nachhaltig zu entziehen wusste und Kinder gebar, der sie immer wieder die Geschichte vom Glück erzählte, die diese dann weiter und weiter erzählten, ein Glück, das wir Menschen uns schaffen können, wenn wir uns gegenseitig achten, schätzen, helfen, beraten und gerne die Irrtümer der vorhergegangenen Generation nicht mehr allzu bequem nur wiederholen. Fast schon vergessen, ist es nun umso erfrischender, sie wieder auferstehen zu lassen. So verbinden diese Geschichten, Bilder und Erinnerungen – erzählt in vielen wohlklingenden Sprachen – die Menschen erneut miteinander und lassen nur zu klar werden, dass trotz des scheinbar zeitlosen Wolken-Netzes, das sie kunstvoll erfunden haben, die Zeit eines jeden begrenzt und sehr endlich ist.

Kann man da wirklich guten Gewissen den nächsten 6000 Generationen noch mehr als 15000 t strahlendes Gift aufbürden? Lachend haben sich diejenigen, die jahrzehntelang davon unglaublich profitiert haben, mit einem kleinen Obolus aus dem Staube gemacht. Grenzt fast schon an Zechprellerei! Und wer zahlt nun die Zeche? Selbst Frankreich plant nun, diese lebensgefährlichen Meiler nach und nach zurückzubauen! Und folgen da dem Beispiel einer Frau.

Da ist die Geschichte von Europa, dieser wirklich attraktiven Frau, die trotz schlimmen Beginns ihr Leben gegen alle Unkenrufe und Belastungen lebensfroh und in lebendiger Gemeinschaft ihrer Stadt gestalten konnte und auch vor Gewalt nicht einknickte, ein wirklich erzählenswertes Erinnerungsgut, das im vielstimmigen Chor der Europäer zu einer wahren Sinfonie neuer Ideen in Vielfalt und Solidarität werden könnte.