26 Mai

Europa – Mythos # 81

Wie Woltónos die Flüchtlinge empfängt

Seine Tiere hatten eine unruhige Nacht. Doch es war weder Vollmond, noch hatte er schlecht geträumt. So schaut Woltónos jetzt etwas ratlos in den strahlenden Morgen. Er sitzt wie immer und jeden Morgen auf seinem Lieblingsstein und schaut über seine große Schafherde hin. Oben – wie immer – ziehen die zwei Seeadler ihre lautlosen Bahnen – bald werden seine beiden Söhne ihm Brot und Käse bringen und Milch. Ein Tag wie jeder andere. Fast. Wenn da nicht die zittrigen Beine seiner Tiere wären. Droht Gefahr? Was war los mit ihnen in dieser Nacht? Oder spüren auch sie seinen Unwillen mit seiner Rolle hier im Westen der Insel? Er muss über sich selber lachen: Als wenn diese dummen Tiere mehr könnten als nur fressen, trinken, sich gegenseitig ärgern und sich fortpflanzen! Machen wir Menschen es nicht genauso? Woltónos nickt breit grinsend. Ihn ärgert es immer noch, dass dieser Sardonios, der sich hochtrabend der Herr der Namen und Listen nennt, ihn vor Jahren beim Minos verpfiffen hat. Vielleicht wäre sonst er jetzt die rechte Hand des Minos oder zumindest sein Mundschenk oder Anführer der Palastwache.

Da holen ihn zwei Figuren aus seinen dumpfen Überlegungen. Wer könnte das sein, so früh am Morgen, hier? Dann erkennt er sie: Nemetos und sein Kumpel, dieser kurzhirnige Thórtys. Mit der linken zerdrückt er zwischen Daumen und Mittelfinger ein paar Thymianblättchen, holt mit einem starken Atemzug den frischen Duft in seine Nase und mit der rechten umfasst er kraftvoll seinen Weidestab. Die kommen mir gerade recht, denkt er grinsend. Nemetos winkt ihm von weitem zu. Er hat ihn erkannt. Im Näher Kommen ruft er freudig:

Woltónos, deine Herde ist ja mächtig gewachsen! Da staun ich aber!“

Woltónos stutzt. Was ist das denn für eine Begrüßung? Was will der denn wirklich? Was ich will, das weiß ich jetzt. Seine Schafe laufen verängstigt davon. Woltónos pfeift sie gleich wieder zurück, winkt den beiden gönnerisch entgegen, erhebt sich umständlich und hört sich dann Sätze sagen, von denen er bis jetzt selber noch nichts wusste:

Die Götter schicken dich, Nemetos, da bin ich mir ganz sicher. Ich habe diese Nacht davon geträumt.“

Jetzt umarmen sich die Männer erst einmal kräftig, dann fragt Nemetos seinen Onkel:

Geträumt? Du hast geträumt?“ Woltónos nickt. Nemetos und Thórtys schauen sich irritiert an. Man setzt sich. Da kommen auch seine beiden Söhne dazu.

Vater, Mutter lässt ausrichten, dass der Käse alle ist. Du sollst in die Käserei kommen. Wir beide sollen so lange auf die Schafe aufpassen.“

Die drei Männer lachen laut, schlagen sich die Hände auf die Schenkel, fallen über das Brot, den Käse und die Milch her, als hätten sie seit Tagen nichts Essbares mehr gehabt, während die beiden Jungen gierig zuschauen. Doch ihr Vater schickt sie zu den Tieren.

Los, geht da rüber, wir hier haben Wichtiges zu besprechen!“

13 Jun

Europa – Verraten und verkauft? (Meditation # 42)

Fröhlicher Abschied von schlechten Gewohnheiten

Erinnern wir uns kurz: 1945 – kamen die Sieger nach Mitteleuropa, um der rohen Gewalt ein Ende zu setzen. No fraternisation! War die Losung der ersten Stunde nach der sogenannten Stunde null. Reeducation hieß es aber schon bald – der ökonomisch und militärisch mächtige Hegemon übernahm die moralische Führung – so jedenfalls sah es damals aus. Aber worin bestand diese Führung? In der Einführung der zivilisatorischen und ökonomischen Eckdaten aus Übersee. Nicht mehr und nicht weniger.

Die Besiegten in den Besatzungszonen spielten schnell die reumütigen Schweiger, die Persil genauso lieben lernten wie die Besatzer. Ein friedfertiges Europa sollte entstehen – unter der fürsorglichen Aufsicht der Demokratie-Oldies. Eifrig baute man und baute man. Neue Häuser, neue Straßen, neue Brücken, neue Bahnlinien, neue Talsperren, neue Schulen, neue Universitäten, neue Banken und ein neues Europa. Und an einem neuen „Image“ baute man. Schon der Begriff kam aus einer fremden Sprache, erst recht die dahinter stehenden Inhalte. Ein „NEW DEAL“ für Europa gewissermaßen. Die Spielregeln wurden frohlockend mitgeliefert und hier gerne abgesegnet.

Erinnern wir uns noch an den stolzen Begriff „deutsche Wertarbeit“ und an die damit verbundenen Wertschätzungen: Ein Wintermantel zum Beispiel: Der sollte nicht nur warm halten, sondern auch lange halten, weil er aus gutem Material gefertigt war. Ein neues Auto: Das sollte nicht nur solide verarbeitet sein, nein, es sollte auch langlebig und gepflegt sein. Ein Ehe, sie sollte nicht nur gut überlegt sein, sondern möglichst auch lange halten. Kinder sollten dazu gehören, damals, sie sollten eine gute Schule besuchen und einen befriedigenden Beruf finden können.

Oder erinnern wir uns doch noch einmal an die Kinderlieder, an die Märchen, die alte Musik, die Geschichtsbücher über die Geschichte der Völker von der Völkerwanderung bis heute – oder an die Familienfeste: Namenstag, Hochzeitstag, Weihnachten, Ostern…und die Geschichten, die die Großeltern zu erzählen wussten von ihren Großeltern, die aus dem Süden in den Norden gezogen waren oder aus dem Osten in den Westen und noch eigenartige Dialekte zu sprechen vermochten…

Und wo führte uns dann diese moralische Führung der Sieger hin?

Dass der Junior-Partner sich nach und nach zum Pseudo-Hegemon in Europa mauserte. Da gab es die ersten Knirschgeräusche.

Dahin, dass wir nach und nach alles über Bord warfen, was vor den Wert- schätzungen eben dieser Sieger nichts wert war oder noch weniger als das: Nichts taugte, altmodisch, überlebt und als nicht zukunftstauglich galt. Gute Laune war dabei angesagt, mit Lust sollte man all den Krempel über Bord werfen, mit Verve den „new way of life“ überziehen, wie wild dazu tanzen, laut singen und schnell fliegen, auf die Azoren, auf die Malediven.

Schau, schau, da sind sie ja schon, die süffisant grinsenden Fortschrittsbeglaubiger und ringen sich voller Erbarmen ein mitleidiges Lächeln ab: Wieder so ein ewig Gestriger, der einfach nicht mitbekommen hat, was die Stunde geschlagen hat. Hurtig haben sie ihre kleinen Schmuckschuber parat, in die sie das Gesagte mit geschürzten Lippen plumpsen lassen: „Haben wir nicht schon genug dekadente Nostalgiker mit Strauß, Mosbacher, Handke, Zeh und Co? Wetten, gleich kommt bestimmt der Oberslogan dieser Typen: ‚Ein Volk ohne Erinnerung ist ein Volk ohne Zukunft.‘?“ So ist es. Aber an was erinnern wir uns denn in Europa noch über Europas eigene Geschichte? An was aus unseren Familiengeschichten, an was aus den Kunstgeschichten der europäischen Völker und Regionen? Dass einige wenige sehr, sehr reich wurden, und der Rest ziemlich leer ausging. Erinnerungslos, haltlos, bodenlos. Eine erbärmliche Geschichte.

16 Feb

Europa – Gift und Gegengift Mythos # 28

Gift und Gegengift – Lebensfreude und Lebenslüge so nahe beieinander

Gelassen und voller Zuversicht geht Europa den vier fremden Frauen entgegen. Haltung und Blick verraten ihr, dass sie unsicher sind, nicht wissen, was sie sagen sollen. Das nehme ich ihnen gerne ab, denkt Europa lächelnd.

„Ihr freundlichen Frauen, sagt mir, der Fremden, wo finde ich die, über die so viel

Gutes erzählt wird?“

Die vier halten den Atem an. Die Fremde scheint zu ihrer Herrin zu wollen. Da können sie helfen, ganz ohne Probleme.

„Folge uns einfach, wir führen dich zu ihr!“

Erleichtert und doch auch verlegen wenden sie sich um und laufen kichernd zurück Richtung Höhle. Europa kann ihnen kaum folgen, so behende bewegen sie sich. Der Wind spielt mit ihren Gewändern, trägt ihr leises Lachen zu ihr hin. Europas Herz beginnt heftig zu schlagen. Halb scheint es Unsicherheit zu sein, halb fast so etwas wie Wiedersehensfreude. Aber sie kennen sich doch gar nicht.

Später werden die beiden Frauen noch oft über diese erste Begegnung sprechen, wie erstaunt sie waren, weil sie beide meinten, sofort das Gefühl gehabt zu haben, den anderen schon zu kennen, obwohl sie sich noch nie begegnet waren. Liebevoll hatten sie sich sacht umarmt, hatten des anderen Wärme und Duft genossen wie etwas längst Vertrautes. Mit niedergeschlagenen Augen standen die vier jungen Priesterinnen um die beiden herum, unablässig mit der Frage beschäftigt, wer ist sie, die von ihrer Herrin so herzlich und vertraut empfangen wird, wer ist sie?

Dann waren sie alle wortlos zum Palast von Paito gegangen. Chandaraissa und Europa hatten leise miteinander gesprochen unterwegs; die vier rätselten und konnten sich einfach keinen Reim daraus machen. Möwen hatten sie mal im Sturzflug, mal im Steigflug, mal in weiten Bögen kreischend begleitet. Denen war es wohl einerlei, die Aufregung in den Köpfen der sechs Frauen störte sie nicht bei ihrer Futtersuche und ihren unordentlichen Lufttänzen. Und die Sonne forderte ihr Recht, je näher sie dem Palastbereich kamen. Ein heißes Flimmern ließ die Luft erzittern.

Endlich finden sie Zuflucht vor der Hitze in der kühlen hohen Halle des Tempels der Göttin. Für einen kurzen Augenblick legen sie sich bäuchlings auf die kalten Steinplatten inmitten des großen Raums, beten, stehen tief seufzend wieder auf und gelangen dann durch einen kleinen Torbogen in die Bibliothek. In den Nischen den Wänden entlang warten zahllose Papyrusrollen auf neugierige Leserinnen. Hier holen sie sich immer wieder neue Ideen, neuen Trost, neue Zuversicht, wenn ihnen außerhalb dieses stillen Saals Unbill widerfuhr. Und hier erzählt Chandaraissa den jungen Priesterinnen in den Dämmerstunden aus ihren Träumen und aus all den Geschichten, die sie hier schon gelesen hat. Immer geht es um die eine Botschaft, die sie alle weitergeben sollen.

Heute nun sitzen sie still auf dem weichen Sandboden mit dem Rücken an die Schriftrollenwände gelehnt und beschäftigen sich mit selbst gewählten Texten oder rätseln weiter über die Herkunft der freundlichen fremden Frau. Chandaraissa unterhält sich mit ihr leise. Und Europa hört staunend zu. Denn nichts, was sie hört, kommt ihr fremd vor. Im Gegenteil. Die fast schon vergessene Botschaft vom Glück, die Chandaraissa wieder und wieder in wunderbaren Beispielen umkreist, klingt Europa so, als spräche erneut die Göttin selbst direkt zu ihr. Wie oft hat sie in ihren Träumen mit einer lachenden Frau getanzt, die sich Lebensfreude nannte, die sie in neue Träume lockte, wo Lachen und Lebenslust wie Zwillinge mit ihr feierten nächtelang. Haut schmiegte sich da an Haut, Stimmen schmeichelten erhitzten Ohren, schöne lange Seufzer beendeten das Fest. Unvermittelt ergreift Europa Chandaraissas Hand, seufzt begeistert und sagt dann ohne überhaupt darüber nachgedacht zu haben:

„Wir müssen Schwestern sein. Hoffentlich ist es nicht vermessen, das zu sagen.“

Lachend schüttelt Chandaraissa den Kopf, das lange Haar wild wallend drum herum. Dabei umarmt sie Europa liebevoll und flüstert ihr etwas in Ohr, das auch gerne die Männer verstanden hätten, die sich in einem geheimen Gang hinter der Bibliotheksmauer aufhielten und verzweifelt ihre Ohren an einen schmalen Spalt drückten, der zwischen ihnen und den beiden jetzt lachenden Frauen liegt. Aber sie können nichts verstehen, so sehr sie sich auch bemühen. Es ist zum Verrückt Werden! Wenn sie wieder ohne eindeutiges Material zum Vertreter des Minos zurückkehren, wird es vorbei sein mit ihren Zulagen. Das macht die Männer nur noch zorniger auf die beiden Frauen, die sich jetzt auch noch leidenschaftlich umarmen.

Sie fassen kurz entschlossen einen einfachen Plan. Sie werden schlicht eine schlimme Geschichte erfinden, die sie gehört haben wollen. Punkt. Zardonius wird es sicher gerne glauben, denn ihm ist alles recht, wenn es nur etwas ist, das es ihm möglich macht, diese stolze Chandaraissa von ihrem Priesterinnenthron zu stürzen. Wie hatte Zardonius erst neulich gesagt:

„Frauen nicht trauen! Das ist die Botschaft. Hinter ihrem lüsternen Lachen verbirgt sich immer das gleiche Gift, mit dem sie die Männer schwach machen wollen. Das einzige Gegengift liegt doch wohl auf der Hand: Macht sie schwach, dann bleiben wir stark. Und ich weiß es aus jedem Orakel seit alters her, die Götter sind mit uns dabei. Glaubt mir, ich weiß es einfach!“

Stolz klopfen sie sich gegenseitig auf die Schultern. Warum also weiter zuhören, wo man sowieso nichts verstehen kann? Und auf dem Weg zu Zardonius, dessen Geduld mit seinen Spionen allmählich zu Ende geht, legen sie sich eine schöne miese Geschichte zurecht, mit der Zardonius vor Archaikos ganz sicher viel Lob ernten wird. Die beiden Spione träumen schon genüsslich von ihrer Beförderung. Dann können sie sich endlich Frauen nehmen, werden eine Hütte zugewiesen bekommen. Frauen. Denen werden sie aber von Anfang an klar machen, wie stark sie sind. Voller Erregung und Geilheit stürzen sie zum Raport.