08 Apr

Leseprobe – Historischer Roman II Blatt # 108

Arnulf, Bischof im ehemaligen Dividorum, zeigt, wie man Gefolgschaft

schafft – 2. Reise

Pippa und Pippin hatten sich nach ihrer „kleinen Reise“ zu den Knochenbergen, wie sie es immer wieder erschauernd nennen, oft gefragt, was der Bischof wirklich mit ihnen vorhat. Will er sie fördern oder will er sie klein halten? Aber warum?

Der Winter in diesem Jahr hatte mild begonnen. Aber jetzt will er wohl noch einmal zeigen, was er kann. Es ist eiskalt. Pippa und Pippin frieren erbärmlich. Nachts liegen sie eng aneinander geschmiegt in Pippins windschiefer Hütte und frieren trotzdem. Lutetia scheint im Winterschlaf erstarrt. Die Einwohner verlassen kaum ihre ärmlichen Behausungen, nur im steinernen Palast des Königs hält in der großen Halle ein Feuer die Leute halbwegs bei Laune.

Gerüchte sirren durch den Bau. Chlotar hat Brunichild in seiner Gewalt. Man hat fürchterliches Geschrei aus der Folterkammer gehört. Was hat er mit ihr vor? Sie ist eine alte, gebrochene Frau. Lange war sie stolze Königin und Vormund am Königshof in Burgund gewesen, hatte viele Kriege für ihre Söhne und Enkelkinder führen lassen. Alles umsonst. Jetzt ist sie am Ende. Chlotars Macht wächst Tag um Tag. Er ist getaufter Christ, er könnte sie in ein Kloster schicken. Er könnte. Jetzt ist der Arnulf, der Bischof von Dividorum, bei ihm. Sie reden. Die Wachen hängen übermüdet in ihren Matten. Auch sie frieren um die Wette. Manche flüstern, die Kälte habe auch das Herz des Königs und des Bischofs erfrieren lassen. Draußen liegen Erfrorene am Ufer des zugefrorenen Flusses. Sie kleben am Eis. Man kann sie nicht einmal wegschaffen, geschweige denn in der gefrorenen Erde beerdigen. Ist die Kälte die neue Pest? So wie vor zwei Generationen unter Kaiser Justinian, Belisar und Narses die letzte?

Jetzt kommt Bewegung in den großen Steinbau. Ein Herold sattelt sein Pferd. Schon steht er auf dem leeren Marktplatz, er hat einen Soldaten an seiner Seite, der mit zwei Trommeln einen Wirbel nach dem anderen trommelt. Die Leute von Lutetia wissen, was das bedeutet. Der König braucht wieder ein Publikum.

„Euer Herr und König, Chlotar der zweite, lässt hiermit wissen und tut kund, dass heute, wenn die Sonne im Mittag steht, alle hier zusammen kommen müssen. Der König will zu Gericht sitzen und alle sollen es hören und sehen!“

Dreimal Trommelwirbel, dreimal die gleiche Ansage. Nach und nach waren die frierenden Lutetianer aus ihren Hütten gekrochen, hatten sich wortlos die Ankündigung des Herolds angehört und waren wortlos wieder gegangen. Die Nachricht wird sich – trotz fahlen Lichts, trotz klirrender Kälte – schnell in der Stadt verbreiten. Sie wissen, wer nicht erscheint, muss mit harten Strafen rechnen. Ihr Herr König ist ein strenger Herr. Auch Pippa und Pippin wissen, dass sie da sein müssen. Diesmal wird die Reise nicht weit gehen.

Nur bis zum Marktplatz. Aber sie spüren bereits, dass am Ziel auch dieser Reise ein großes Erschrecken stehen wird. Sie spüren es einfach, können es sich nicht erklären, aber sie spüren es. Pippa zittert und hat wieder Tränen in den Augen. Aber es sind keine Tränen der Traurigkeit, nein, es sind Tränen des Zorns, der sie sogar ein bisschen wenigstens zu wärmen scheint. Pippin ahnt nicht, was in ihr vorgeht. Er glaubt, sie habe einfach nur Angst und sei eben eine schwache Frau. Die Stunden bis Mittag verbringen sie mit vor sich Hinstarren, mit Hände warm Reiben, mit Atmen, mit Angst, die sie einfach nicht mehr los werden. Der kleine Raum – düster und eisig – schützt sie nicht vor dieser Angst. Das Stück Brot, das sie runter würgen, ist fast so hart wie ein Stein. Einen Schluck Wasser haben sie im kleinen Topf über der kleinen Feuerstelle aus dem Eisstück heraus getaut, das den verbeulten Napf ausfüllt.

Dann gehen sie los. Um Füße und Hände und Kopf haben sie sich schmutzige Lappen drapiert. Ihre Mäntel schützen sie nur schlecht vor der Kälte, die sie empfängt. Auch aus den anderen Hütten schleichen Menschen Richtung Marktplatz. Man spricht nicht, man schaut zu Boden. Viele beten, dass es schnell vorbei sein möge, was ihr König da vor ihren Augen vorführen wird: Er will zu Gericht sitzen. Es geht um die Burgunderin. Das ist allen klar. Klar ist ihnen auch, was sie erwartet.

Und als jetzt die Lutetianer wie ein verlorenes Völkchen auf dem Marktplatz herum stehen – jeder mit einem kleinen hellen Wölkchen vor dem Mund – , sehen sie die Prozession vom Palast kommen. Wieder Trommelwirbel, diesmal aber nur eintönig und mit großen Pausen. Vorneweg gehen die Wachen. Alle tragen schwarze, lange Mäntel, ihre eisernen Helme blinken kaum im spärlichen Licht dieses eiskalten Wintertages, dann folgt ein Fuhrwerk – ein Ochse zieht den Karren – und oben liegt etwas unter filzigen Decken, das sich kaum bewegt. Das muss die Burgunderin sein. Dahinter dann hoch zu Pferd Chlotar und gleich hinter ihm Bischof Arnulf. Dann zu Fuß der gesamte Hof: In Rüstung und unter Waffen, auch sie haben alle schwarze Mäntel übergezogen. Ein Trauerzug. Nein, kein Trauerzug, ein Zug hagerer Männer, die sich aufs Töten verstehen. Und dahinter ein Mann, der sich mit vier Pferden abmüht – ohne Sattelzeug trotten sie vor sich hin. Sie wären sicher lieber heute im Stall geblieben.

Schließlich erreicht der traurige Zug den Marktplatz. Die frierenden Leute haben ihre kleinen Kinder unter ihre löchrigen Umhänge gezogen, das wird zwar kaum gegen die Kälte helfen, aber vielleicht wenigstens gegen den Anblick, den sie alle nun über sich ergehen lassen müssen. Es ist sehr still. Nur das Schnauben der Pferde hallt laut über den Richtplatz.

Wieder ein Trommelwirbel. Diesmal lang und immer schneller werdend, dann bricht er ab. Chlotar gibt seinen Wächtern ein Zeichen. Sie holen die Burgunderin vom Karren. Sie gibt keinen Laut von sich, kann sich ohne das Zupacken der Wächter gar nicht mehr bewegen. Sie ist zerbrochen.

Sie ist eine Frau von fast siebzig Jahren. Alt und gebrochen. Keiner will das sehen müssen. Aber sie alle müssen es sehen. Dann ist es der Bischof, der das Wort ergreift – Chlotar hatte auch ihm ein Zeichen gegeben. Er räuspert sich, steigt in die Steigbügel, richtet sich hoch auf:

„Euer Herr und König, Chlotar, hat erfolgreich den Krieg gegen die Burgunder beendet. Brunichild, die feindliche Burgunderin, ist durch Gottes Hand in seiner Gewalt. Er hat sie verhören lassen, sie hat alles gestanden und ist bereit zu sterben. Wegen der teuflischen Anschläge, die sie gegen euren Herrn und König, Chlotar, ausgeheckt hat, soll sie als Strafe auch einen bösen Tod sterben.“

Arnulf fällt zurück in seinen Sattel, der König blickt zufrieden zu ihm herüber und gibt das Zeichen zum Vollzug. Erneuter Trommelwirbel, lange, sehr lange. Währenddessen nehmen die Wächter die vier Pferde, binden jeweils einen Strick an Beinen und Armen der Burgunderin fest und versuchen gleichzeitig die Tiere zu beruhigen, die unruhig hin und her tippeln.

Pippa und Pippin wissen, was jetzt passieren wird. Sie wollen es nicht sehen, müssen aber. Pippa ist sehr wütend. Unter ihrem Mantel faltet sie ihre Hände und schickt ein Bittgebet zu ihrer großen Göttin.

„Bitte, große Göttin, lass diese böse Tat den Tätern auf die Füße fallen, lass sie dafür büßen. Und wenn du mich dafür benutzen willst, ich werde alles tun, was du mir aufträgst, alles.“

Pippin spürt das Zittern, das bei diesem Stoßgebet durch Pippa wallt, ganz deutlich, aber er denkt nur wieder, sie hat eben Angst. Er darf keine Angst zeigen, denn jetzt sieht er auch, wie Arnulf auf ihn schaut und fast unmerklich lächelt und nickt. Das ist wohl die zweite Prüfung, die ich noch bestehen muss. Pippin ist sich ganz sicher, dass Arnulf ihn auch durch diese Teilnahme an der Hinrichtung der Burgunderin zu einem harten Krieger erziehen will. Meinetwegen, denkt er trotzig, meinetwegen.

Als Pippa und Pippin hinterher nach Hause schleichen, reden sie in Wortfetzen mit sich, es will einfach kein Gespräch werden:

„Die Leute, die Leute, hast du gehört, wie…“

„Arnulf hat die ganze Zeit zu uns geschaut…“

„Warum hat sie keinen Ton von sich gegeben? Warum hat sie…?“

„Die Pferde, die Pferde waren aufgebracht, sie haben gewiehert, als wenn..“

„Sie hat nicht geschrien. Warum?“

„Chlotar hat ganz woanders hin geschaut, die Memme…“

„Oder war sie schon tot?“

„Bei der Folterung hat sie sicher so laut geschrien, dass ihre Stimme hin war.“

„Ist das dein neues Christentum, ja?“

„Was hast du gerade gesagt…?“

03 Mrz

Leseprobe zum Roman – Die fast schon vergessene Botschaft vom Glück # 81

Die Villa Marcellina zwischen Hoffen und Bangen

Marcellus dunkle Augen strahlen voller Zuversicht. Julian und Philippos sehen das gerne. Ihnen kommt nämlich mehr und mehr die Zuversicht abhanden. Nicht so dem alten und stolzen Römer.

Wir haben große Pläne, mein Sohn. Wir müssen nur noch den Göttern opfern, dann wird neue Hoffnung unser Fatum gebären.“

Julian ist sich gar nicht so sicher wie sein Vater. Unsichere Blicke wechselt er mit seinem Lehrer, Philippos. Aber er will nicht kleinmütig scheinen.

Ihr habt lange getagt, in der Bibliothek. Unsere Nachbarn sah ich dann vergnügt und lachend davon reiten. Sie haben Deine Vorschläge gut aufgenommen. Das freut mich.“

Philippos versucht auch ein kleines Lächeln dazu.

Unsere stolze und ruhmreiche Geschichte lehrt uns, dass nach Zeiten des Niedergangs immer wieder ein neuer Aufschwung möglich war. Wenn Männer kühn und furchtlos an sich und unsere Götter glaubten. Nicht wahr?“

So ist es, mein Lieber. Und meinen Sohn hast du in dieser Gewissheit erzogen, belehrt. Er wird die Größe und den Reichtum unserer Familie weiter tragen“, erwidert Marcellus. Nach kurzem Nachdenken fällt ihm auch gleich ein gutes Beispiel ein:

Denkt doch nur an die Belagerungen Roms in der ruhmreichen Vergangenheit der Väter und Vorväter!“

Schon, Vater, aber da gab es immer noch den Senat in Rom, der neue Legionen ausheben konnte und die Ehre wiederherstellte.“

Philippos spürt sofort den Unwillen, der sich im Gesicht von Marcellus zeigt. Er muss vermitteln – wie immer schon.

Mein Herr, Julian und ich haben letzthin erst über die vielen Plünderungen Roms…“

Da unterbricht ihn Marcellus unwirsch:

Mein lieber Philippos! Vielleicht wären Marathon und Salamis bessere Vorbilder für uns in diesen Tagen. Außerdem ist das Wiederholen der griechischen Grammatik und Wörter eine sinnvolle Übung sowieso. Nicht wahr?“

Julian fühlt jetzt auch, wie der Vater seinen Unmut versucht klein zu halten. Und er möchte einfach nicht, dass sein Lehrer wegen ihm Ärger bekommt.

Eine gute Idee, Vater! Gerne lesen wir im Thukydides noch einmal nach, was für unglaubliche Siege ein starker Wille in einem Volk erzeugen kann – auch gegen scheinbar unüberwindbare Gegner, wie es damals die Perser waren.“

Plötzlich steht Somythall vor seinem inneren Auge. Warum gerade jetzt? Warum gerade sie? Julian spürt, wie ein leises Zittern durch seinen Körper huscht. Sie hat ihn verzaubert, seit sie vor dem Bild der Göttin zusammen gebetet haben. Amor hat ihn erwischt. Ihretwegen will er an einen guten Ausgang glauben, ihretwegen.

Gleichzeitig steht ihm aber vor Augen, wie auch das mächtige Augusta Treverorum längst an die fränkischen Machthaber verloren ging. Wie sollen sie denn ohne Unterstützung aus Arelate – von Rom ganz zu schweigen; war es doch eben erst von den Ostgoten verwüstet und entvölkert worden – wie sollen sie denn da erfolgreich Widerstand leisten können? Als hätte sein Vater seine Gedanken gelesen, hört er ihn auch schon erwidern:

Ich weiß, ich weiß. Rom von diesem Unhold Totila überrannt, Trier schon länger von den Franken in Besitz genommen. Wo soll da Hilfe her kommen?“

Mit großer Geste erhebt sich Marcellus – und wie es der Zufall will, sieht ihn sein Sohn jetzt gerade zwischen Diana und Apoll stehen; das große Wandgemälde war ihm schon immer eines der liebsten hier in der Bibliothek. In die unangenehme Stille hinein gibt Marcellus selber die Antwort auf seine Frage:

Wir, wir sind es, die helfen können.“

Aber wie denn, fragt sich Julian. Dabei schaut er entgeistert zu seinem Lehrer. Wie denn?