20 Apr

Europa – Mythos # 32

Agenors Plan und das gar nicht göttliche Gebaren der drei göttlichen Brüder

Agenor, Europas Vater und König im fernen Phönizien, sitzt zur selben Zeit dumpf brütend im leeren Thronsaal auf glattem kalten Stein und lässt sich wieder überwältigen von den eigenen Wutwellen, die ihn lüstern überrollen, wenn er an seine Frauen denkt. An die Königin. Tot. Er hatte es anordnen lassen. Kein Verdacht sickerte nach draußen. Gelungen also. Dass ihn nachts seitdem in seinen Träumen eine tote, verschleierte Frau besucht, ärgert ihn. Nie bekommt er sie zu fassen, kann sie nicht zur Rede stellen. Und an die Tochter denkt er jetzt. Europa, die ungehorsame Tochter. Einfach davonzulaufen. Seine Tochter, mit der er so große Pläne hatte! Seine Späher müssen sie längst aufgespürt haben. Da ist er sich ganz sicher. Er wird sie furchtbar strafen für ihren Ungehorsam. Wie, weiß er noch nicht, aber das Schwert seiner Strenge soll sie lebenslänglich vernichten. Mit mehr als dem Tod. Sein Grinsen jetzt gleicht eher einer üblen Fratze als einem erlösenden Lachen. Aber er hat das Gefühl, dass die Götter ihn dabei leiten. Sein Kampf gegen den Widerstand der Frauen ist bestimmt Teil eines großen Plans der Götter. Bestimmt. Es ist ein höherer Auftrag, eine Mission, göttlicher Wille eben, denkt Agenor trotzig. Die Stille im Saal, die Leere haben etwas Beklemmendes. Großes Tun erfordert einfach große Anspannung. Da kommt ihm der befreiende Gedanke: Wenn Europa den jungen Nachfolger im Zweiströmeland nicht heiratet und so nicht die große Königin des reichsten Landes wird, dann werde ich ihn eben bekriegen. Mir sein Land auf kriegerische Weise einverleiben. Und sie dann dort in einem hohen Turm auf einer Insel im Fluss ein Leben lang einsperren. Zur Strafe für den Ungehorsam dem Vater gegenüber. Was für ein großer Einfall! Agenor atmet tief durch, erhebt sich zufrieden, geht hinaus und genießt die Angst seiner Leute, die vor ihm zurückweichen und will sich noch heute hinter verschlossenen Türen mit seinen beiden Feldherren beraten.

Zeus sitzt währenddessen mit seinen zwei Brüdern schwitzend im blubbernden Schwefelwasser heißer Quellen; die drei erzählen sich schwüle Witze. Über Agenor. Dieser Dummkopf. Erfüllt wie ein hirnloses Schaf den Schwur, den sie gemeinsam geschworen haben: Für immer sollen die Frauen den Männern gehorchen. Für immer. Jetzt plant er auch noch einen Feldzug!

„Kommt, Brüder, lasst uns würfeln, ob er gewinnen oder unterliegen wird!“ Ihr hämisches Gelächter hallt durch die nebelverdüsterte Grotte wie misslungenes Donnergrollen. Poseidon schüttelt die glatten Steine in seiner Hand.

„Mach schon!“ feuert ihn Hades an, der insgeheim nicht von seiner Gier nach der göttlichen Persophone loskommt, was ihn ärgert. Wenn sie ihn in seiner Unterwelt Nacht für Nacht verführt, ist er geradezu von allen Sinnen. So überwältigend göttlich lüstern ist sie jedes Mal. Er hat keine Chance, ihr zu widerstehen. Sie beherrscht ihn völlig. Das macht ihn wahnsinnig. Er kann nicht genug von ihr bekommen, will ihr aber nicht unterlegen sein. Und deshalb ist ihm der Schwur auch so leicht gefallen. Die Frauen sollen ruhig dafür büßen, dass er ihr unterlegen ist. Das ist zwar nur eine kleine Rache, aber doch besser als gar keine, denkt er bitter und erregt zugleich.

„Ha! Lauter schwarze Felder oben!“ ruft jetzt Poseidon.

„Der arme Agenor, er weiß noch nichts von seinem Glück!“ prustet Zeus zufrieden bei dem Anblick des gelungenen Wurfs seines Bruders. Was er in der schwülen und dampfenden Luft allerdings nicht bemerkt hatte, war, dass Poseidon präparierte Würfel benutzte.

„Und wie sieht es auf Kreta aus, lieber Bruder? Wird Archaikos seine heiße Nebenfrau in den Griff bekommen oder nicht?“ Hades liebt es, seinen Bruder zu ärgern. Poseidon entgeht die kleine Spitze nicht, die da unterschwellig zu hören war. Auch er grinst nun genüsslich in den Schwefeldampf und kratzt sich bräsig am schrumpligen Gemächte dabei.

„Ihr braucht gar nicht so zu grinsen, ihr beiden. Ich habe dort einen sehr verlässlichen Verbündeten: Sardonius, den Herr der Hofhaltung, der Sicherheit und der Abgaben.“

„Hört, hört!“ kichert Hades hinterher. „Und was bekommt der denn zustande diesem dreimal klugen Weib gegenüber?“

„Das wüsstest du jetzt gern, stimmt`s? Lass dich einfach überraschen, mein Lieber!“

10 Nov

Europa – Eine gewaltige Botschaft (Meditation # 19)

Europa, Mythos

Erschrockener Blick zurück in die eigene Vergangenheit

Hatte da nicht eine Frau um Hilfe gerufen? Der Meereswind verwischte die Spuren mühelos und gern.

Durch eine List war sie entführt worden, gewaltsam. Der Täter fand es großartig. Europa, so hieß die Frau, die weitblickende wurde sie genannt. Doch diesmal hatte es ihr nichts genützt. Also hatte damals alles schon mit einer Untat begonnen, mit Tarnen, Täuschen und Betrügen? Es scheint so.

Ganze Völkerschaften wanderten in langen Trecks vom Norden in den Süden, verdrängten die dort wohnenden kurzerhand. Nichts ist uns von denen, die da überrannt wurden, überliefert. Alles, was wir zu wissen meinen, haben uns die Sieger erzählt und überliefert. Die Besiegten waren gewaltsam zum Schweigen gebracht worden. Geblieben davon ist uns nur das trojanische Pferd.

Angesichts der Erdgeschichte erweist sich die Geschichte der Menschen als kaum wahrnehmbarer Augenblick.

Dann kamen Eroberer von Westen her und machten aus den Ländern, in denen man sich Europas Geschichte erzählte, steuerzahlende Provinzen. Bis neue Völkerschaften anbrandeten, sich über gepflasterte Straßen von Osten nach Westen ergossen und der lateinischen Kultur im Westen den Garaus machten – später auch im Osten.

Sprachen gab es viele, die meisten hatten sich vermischt mit der Sprache Senecas und Lukrez‘ De rerum natura.

Aber der Gewalt blieb man auch weiterhin verhaftet – wenn auch nun mit scheinbar göttlichem Auftrag. Jerusalem nannte man damals: Mittelpunkt der Welt. Drei eifersüchtige Götter gruben sich arglistig gegenseitig das Wasser ab – die Wasserträger waren gutgläubige Menschen, Europäer eben und deren Nachbarn.

Allmählich lernten sie in Gegensätze zu denken, stellten der Unterwerfung die Befreiung entgegen, entwarfen ein neues Bild vom Menschen, dessen Würde nicht anzutasten war. Gestalteten dieses neue Denken in prächtigen Gemälden, beeindruckenden Plastiken, großen Erzählungen und herrlichen Klängen.

Doch die wütenden Götter schufen sich neue Gehilfen, fanden noch listenreichere Finten, um auch diesen Befreiungsversuch zu unterlaufen, als Teufelswerk zu verspotten. Kein Land in Europa vermochte sich diesem Würgegriff zu entziehen. So wurden wieder viele zu Flüchtlingen, flohen übers Meer in eine neue Welt, wo sie ein neues Jerusalem errichten wollten – jenseits von Gewalt und Bevormundung.

Das alternde Europa verlor das Interesse an göttlichen Sendungen und baute sich eine eigene, praktische Welt, die auf dem Marktplatz verhandelt und versteigert wurde: Wer mehr bot, erhielt den Zuschlag. Und bald wuchsen Waren und Goldbarren in schier göttliche Größen – der neue Gott war geboren: der homo oeconomicus europae.

Und unaufhaltsam – wie ein Krebsgeschwür – nahm er alles in Besitz, immer im Namen europäischer Weltbeglückungsangebote, die niemand ablehnen durfte.

Bis heute so.

Eine kurze, kleine Geschichte von Gewalt, Unterdrückung und Pseudobeglückung – immer im Namen jener weitblickenden Frau, die selber einst gewaltsam entführt und gefügig gemacht wurde.

Wäre es nicht an der Zeit, sich eine Geschichte auszumalen, in der dieser Europa kein Leid mehr angetan wird und in der alle die Völker, die sich ihr verpflichtet fühlen, endlich gegen Gewalt eine friedliche Welt verwandter Völker und guter Nachbarn gestalten könnten, die jedem Flüchtling bereitwillig Asyl gewährt?