03 Apr

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 96

Europa weiß sich geschützt und gestützt von großer Kraft.

Die beiden Frauen müssen sich zuerst an den dämmrigen Ort gewöhnen, an den sie der Fremde so unwirsch geführt hat. Der Duft von Thymian liegt in der Luft. Chandaraissa und Europa atmen genüsslich ein. Die Hitze, der Nachmittag, die Stille – alles scheint in diesem Augenblick besonders stark auf sie zu wirken. Da ist keine Angst in ihnen. Wie kann das sein? Eben noch fühlten sie sich verfolgt, wüste Gestalten mit bösen Absichten auf ihren Fersen, von einer Sandwolke umtobt, und jetzt diese Stille in diesem Innenhof. Die beiden stehen eng umschlungen da im Halbdunkel und schauen voller Erwartung auf ihren unverhofften Retter. Jetzt haben sich die Augen an die neue Situation gewöhnt. Er ist jung, groß, hat lang gewelltes Haar, das ungeordnet um sein Gesicht wallt, seine großen blauen Augen schauen sie freundlich an, sein Mund, ein feines Lächeln andeutend, geschlossen. Sein Gewand verstaubt. Er wirkt auf die Priesterinnen eher wie ein Künstler, ein Sänger vielleicht, ein Tänzer. Schließlich wagt Europa zu fragen:

„Wer bist du und warum geschieht das gerade hier?“

Der gedrungene, alte Olivenbaum, hat sicher schon vieles erlebt in seinem langen Leben, aber was nun zu hören ist, scheint auch ihm nur wunderbar:

„Zur Zeit nenne ich mich Sosyniod (da erinnert sich Europa, dass sie ihn schon einmal gesehen hat) und bin unterwegs, den Unsinn von drei alten Männern zu verhindern, den die gerade aus Langeweile und Mutwillen ins Werk zu setzen versuchen. Denn eure Pläne scheinen mir viel schöner und wichtiger für die Menschen hier auf der Insel als der gewaltsame Unfrieden, den die da gerade über der Erde ausschütten.“

Dann ist es wieder still im Innenhof auf der Insel, auf der Zeus einst versteckt worden sein soll. So sagt man jedenfalls.

Aber der Klang seiner Stimme, seine kleinen Gesten beim Sprechen, sein freundlicher Blick, all das berührt Chandaraissa und Europa sehr.

„Wir danken dir, Fremder. Aber sag, kennst du auch die große Göttin, zu der wir beten und die uns Vorbild und Hoffnung ist?“

Europa hält den Atem an. Ob das jetzt die richtige Frage war, die da gerade Chandaraissa dem Fremden gestellt hatte? Der nickt nur. Und lächelt. Eine wohltuende Stille breitet sich aus. Die beiden Priesterinnen haben gerade das Gefühl, dass alles, was sie für richtig halten – ihre Geduld, ihre Lebensfreude, ihre Sanftmut, ihre Botschaft der Liebe und des Vertrauens – von diesem Fremden nur verstärkt wird in ihnen. Ein wunderbares Gefühl. Und beide träumen für einen kurzen Augenblick von dem Tanzfest, das sie gerade mit den jungen Priesterinnen vorbereiten: Da wird ihre Botschaft an alle, die es sehen und hören werden, weiter gereicht werden, wird Früchte tragen.

„Natürlich kenne ich sie. Wir sind sogar verwandt.“

23 Mrz

Europa – Meditation # 188

„Wir sind‘s, wir – Frucht von Hesperien ist‘s!“

(Hesperien ist der alte Name für Europa)

Da wir in Mitteleuropa gerade den Geburtstag von Friedrich Hölderlin feiern und immer wieder auch an seine große Ode „Brot und Wein“ beschwörend erinnert wird, sollte statt Weihrauch innehaltendes Bedenken angesagt sein:

In der letzten Strophe nimmt Hölderlin nämlich – als unverbesserlicher Optimist in all seinem Pessimismus für sich selbst – direkt Bezug auf Europa und den Auftrag, den er noch unerfüllt sieht: Wir Europäer nämlich hätten die Aufgabe, ein neues Zeitalter des Friedens und der gelingenden Selbstverwirklichung einzuläuten – nach all dem Übel, das wir europäische Nichtskönner in die Welt getragen hätten.

„Glaube, wer es geprüft“ heißt es dann weiter.

Und die Prüfung, die die wissenschaftsgläubigen Europäer nun Analyse auf Analyse häufend endlich in Angriff nehmen sollen, wird dann zu dem Ergebnis kommen müssen, dass wir Europäer nach Jahrhunderten des selbstverliebten Welt-Vereinnahmens- und zerstörens nun auch die Zeche bezahlen „dürfen“.

Angefangen mit den Seuchen, die Spanier und Portugiesen – von den Engländern ganz zu schweigen – in jenen Tagen zusammen mit dem christlichen Kreuz in alle Welt gerne exportierten, um schwarze kostenlose und rechtlose Arbeitskräfte per Schiff zu importieren in die sogenannte „Neue Welt“, die sie später auch gerne taufen ließen, um sie so noch besser in verängstigtem Gehorsam halten zu können (heimliches Schwängern mit inbegriffen), ging es weiter mit gnadenlosen Eroberungszügen über die Kontinente. Wer die europäische Botschaft nicht hören wollte, bekam sie hautnah zu spüren. Notfalls griffen die scheinbar unbesiegbaren Europäer auch zu besonderen Mittel – zum Beispiel zu Opium, um störrische Chinesen in die wirtschaftliche Spur der Invasoren zu bringen. Alles längst vergessen? Schon möglich, aber der Planet – ähnlich wie die Haut am menschlichen Körper – vergisst nichts, wenn es auch oft viele, viele Jahre dauert, bis die Rechnung (für häufigen Sonnenbrand zum Beispiel oder menschen- und naturverachtende Ausbeutung) präsentiert wird.

Jetzt ist es so weit: „Wir sind‘s, wir!“

Diese zum Einhalten gezwungene Phase nun ist in der Tat der rechte Augenblick all dies gewissenhaft zu prüfen, um dann an die mühsame, aber Not wendende Arbeit zu gehen, Vorreiter einer Leben bejahenden und naturverträglichen neuen Weltpolitik zu werden – jenseits von Ausbeutung und Gewalt.

In Demut vor Leben und Natur.

Wir.

Wer sonst?

20 Mrz

Europa – Meditation # 187

Ganz Europa im Griff eines lautlosen Amokläufers– scheinbar in Zeitlupe.

Im Kleinen kennen wir das ja leider schon aus der Erinnerung, als plötzlich Bilder vor unseren Augen zu sehen war, die wir bis dahin so nicht kannten. Und was machte da unser Gehirn?

Blitzschnell durchforstete es seinen Speicher und fand nichts Entsprechendes. Damit fehlte auch ein Speicher mit Daten für angemessene Reaktionen.

Dann kommt das entscheidende Signal des Gehirns – das nur für solche Fälle gespeichert ist: ABSCHALTEN.

Das heißt dann für die restlichen Nervensysteme: Alles runter fahren, alles runter fahren!

Ohnmacht.

Oder Ohnmacht ähnliche Reaktionen.

Deshalb entwickelte man für solche „Situationen“ Automatismen, die dann alle eben automatisch befolgen können, weil sie vorgegeben sind.

So ähnlich muss man sich vielleicht auch jetzt die Lage in Europa vorstellen.

In unserem Gehirnspeicher gibt es keine Bilder für das, was wir Europäer gerade erleben. Denn bisher hatten die Fans des Cartesianismus („alles ist messbar, alles ist reparabel, alles ist verstehbar“) ja geglaubt, alles unter Kontrolle zu haben.

Und da kommt nun so ein Nobody aus dem Nichts, lässt sich nicht fassen, nicht messen, nicht aussortieren, nicht einsperren, und terrorisiert mit einem lautlosen Amoklauf unser aller öffentliches und privates Leben.

Da könnte man tatsächlich leicht in Ohnmacht ähnliche Zustände geraten. Aber zum Glück wissen wir ja eine zumindest kleine Antwort auf diesen Terror:

Jetzt benötigen wir – homemade – kleine, verlässliche Tagesabläufe,
Rituale, damit wir wieder auf die Beine kommen – im Kopf. Die sollten in den Familien, Wohnetagen besprochen und eingeübt werden – mit Humor und Korrekturphasen – wir sollten über uns lachen lernen, wie anders wir auf einmal unseren Tag gestalten können („das hätte ich mir niemals vorstellen können – und jetzt ist es einfach so!“).

Und was man noch zusätzlich machen könnte, ist Tagebuch schreiben:

Einmal das zurückliegende hektische Getriebe in geordnete Sätze gießen und dann das jetzt stattfindende Neue zu beschreiben versuchen und dann vielleicht auch noch Zukunftsvisionen zu skizzieren, die man dann miteinander bespricht, belacht, bewundert, verwirft, bedenkt.

Dann macht man ein einfaches Essen zusammen und bespricht die Pläne für kleine Bewegungsprogramme, neue Notizen fürs Tagebuch, übt am Klavier oder an der Gitarre und übt und übt und staunt, wie schnell man Fortschritte macht…War der frühere Alltag dem gegenüber nicht etwas eigenartig?