06 Okt

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 106

Zeus begegnet Europa am Nil.

Phoinix, der Bruder Europas, der nach Theben am Nil gereist war, sitzt am Ufer des Flusses und blinzelt auf den träge dahin fließenden Strom. Ein großes Sonnensegel schützt ihn vor dem grellen Licht, das alles in ein blendendes Flimmerbild verflüssigt. Wer von uns dreien wird bei der Suche nach der Schwester, der wilden, erfolgreich sein, fragt er sich müde. Wie schnell doch die Segelboote lautlos über das Wasser huschen! Oder bilde ich mir das nur ein? Phoinix dämmert nach und nach weg aus dem, was ihm Augen, Ohren und Nase gerade anbieten.

„Ein Bild der Friedens und der Lebensfreude, stimmt‘s?“

Phoinix hört die säuselnde Stimme neben sich, nickt und denkt, das träume ich jetzt sicher. Und so dreht er sich leicht zur Seite, um den Fremden zu taxieren: Bauer, Hirte, Priester, Nomade? Was er sieht, erschwert ihm eine klare Antwort. Aber er ist auch zu müde. Dann hört er sich selbst sprechen:

„Europa, meine wilde Schwester, zieht den Schatten im Tempel vor. Sonst aber ist sie auch voller Lebensfreude.“

Zeus erschrickt. Was? Europa hier im Tempel? Wie kann das sein?

„So, so, im Tempel.“ Zeus versucht so unbeteiligt wie möglich zu klingen. „Du hast sie also gefunden?“

„Gefunden? Ich habe sie gar nicht gesucht. Wir sind zusammen unterwegs. Wir wollen gemeinsam die Tempelstadt anschauen. Unser Vater, König Agenor, hat immer so davon geschwärmt.“

Phoinix wundert sich, was er für Sätze aus sich heraus tönen lässt. Wo die wohl herkommen? Egal. Scheinen allemal zu passen, denkt er kichernd. Aber Zeus ist beeindruckt.

„Sehr klug von ihr, in den Tempel zu gehen. Hier draußen ist es auch wirklich viel zu heiß – oder?“

Hoffentlich merkt Phoinix nicht, wie aufgeregt ich bin, denkt Zeus nervös.

„Och, hier unter dem Sonnensegel geht‘s ganz gut, find‘ ich. Wenn du willst, kannst du ja auch in den Tempel dahinten gehen und ihr sagen, dass wir weiter wollen.“

Zeus findet, dass sei ein richtig guter Vorschlag. Er erhebt sich schnell, winkt noch mit der Hand und läuft durch die Flimmerwelt Richtung Tempel.

Phoinix, der jetzt endlich die Augen öffnet, dreht sich um, um dem Fremden nachzusehen. Wer das wohl war?

Vorsichtshalber rappelt er sich stöhnend hoch, packt sein Reisebündel und macht sich aus dem Staube. Man kann ja nie wissen, wie so jemand reagiert, wenn er sich betrogen sieht.

Phoinix lacht leise vor sich hin. Oder war es doch nur ein Traum?

Am Wasser will gerade ein schneller Segler ablegen. Ohne nachzudenken springt er noch schnell an Bord. Ob Europa doch eher in Delos oder in Piräus gelandet ist?

15 Aug

Europa – Meditation # 211

Die Geschichten werden immer kürzer, leerer, falscher…

Erschöpfung macht sich breit im alten Europa. Die großen Tiere, die sich gerade anschicken, auf der Weltbühne das Sagen zu übernehmen, kennen kein Mitleid. Wer zu spät kommt, den betraft das Leben. Ein eher ausgeleierter Spruch aus der Medienküche.

Am Anfang kam der Schrecken. Dann das sprachlose Entsetzen. Und als es endlich vorbei schien, meldete sich bescheiden die Angst zu Wort: Sie möchte bleiben und wird es wohl auch. Und mit ihr die Ratgeber, wie wir wieder aus der Not heraus kommen können.

Und während die Europäer gekränkt in ihrem Schmerz baden – schließlich ist doch die gesamte Moderne ein Kind Europas, sagt die vorwitzige Nabelschau vor sich hin brabbelnd – wachsen die großen Datensammler jenseits des Atlantiks und im Fernen Osten so schnell, dass es keiner Meldung mehr wert scheint.

Die Zeit der großen Narrative ist wohl zur Zeit nicht mehr en vogue. Dafür umso mehr die Zeit der kleinen Peaks: Mal eine Explosion im Libanon, mal eine Prise Wirecard, Infantino darf natürlich auch nicht fehlen, selbst der Trampel aus dem weißen Haus beginnt zu langweilen mit seiner öden Lügenlitanei, und die alten Autobauer hecheln weiter den Herausforderungen eines naturnahen Zukunftsgefährts ratlos und hektisch Wind machend hinterher.

Auch die Kirchen verstehen die Welt nicht mehr!

Dabei ist das Bedürfnis nach mehr als nur Konsumieren und vor dem Spiegel oder dem Monitor Pseudo-Weihrauch anzuzünden, nicht zu überhören: Wenn Jahrhunderte lang gepflegte Sinnangebote – von der Kanzel euphorisch in vielen Sprachen und Bildern verkündet – abhanden kommen, ist in der Tat guter Rat teuer.

Das wissen Fernsehpriester und andere Gesundbeter wohl zu nutzen. Und die Besucherzahlen scheinen ihnen ja Recht zu geben.

Aber immer wieder erweisen sich die hochpreisigen Idole als hohle Fassadenkletterer, deren Vorführungen wie schlaffe Luftballons am Gewitterhimmel zerplatzen.

So werden die kleinen Kreise – europaweit – zu den letzten Zufluchtsorten menschlicher Glücksmomente. Eigentlich waren sie es ja sowieso schon immer. Nur wurde erst das Jungvolk, dann auch die Oldies von virtuellen Angeboten überschwemmt, Tag und Nacht, in Dauerschleife sozusagen. Das aber macht müde. Denn Staffeln zu Ende anzuschauen, das dauert eben. Und was bleibt? Schlafmangel, Enttäuschung, Leere.

Aber die großen von vor der Pandemie möchten gerne wieder alles zurück haben auf Anfang, auf steile Kursfahrten an der Börse, auf Gewinne. Dabei schien doch für einen Moment in der Schreckphase alles möglich, alles endlich anders zu machen. Langsamer, naturbelassener, kleiner, ehrlicher, einfach humaner.

Die Europäer sollten die Gunst der Stunde nutzen – im Windschatten der arroganten Gewinnler – umzusteigen auf den Glauben an den Traum jenseits hegemonialer Zerstörungsszenarien. Dann könnte vielleicht doch noch eine Zukunft nach Anthropozän samt Kapitalän aus der Asche wachsen.

09 Jun

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 101

Europa findet am Meer zu neuer Zuversicht.

Ihr Herz ist übervoll mit wohltuenden Gefühlen, denn ihre Freundin hatte ihr eine Botschaft überbracht, die sie so glücklich macht wie nie. Denn trotz der großen Gefahren, denen sie schutzlos ausgesetzt war, fühlt sie sich nicht bedrückt, verängstigt oder sogar mutlos. Nein. Wie unvermeidliche Prüfungen kommen ihr jetzt die Vorfälle vor, und das schrille Geschrei der drei Raben kann sie auch nicht mehr erschrecken. Denn ihre große Göttin hält ihre Hand über sie. Seit dem gewaltsamen Tod ihrer Mutter – an den mörderischen Vater will sie gar nicht denken (und sie weiß ja auch nicht, dass er inzwischen gefallen ist) – seit ihrer Entführung und ihrer Flucht aus der Höhle hat sich ihr Leben so sehr gewandelt, dass sie jetzt voller Zuversicht und Pläne im Abendsonnenlicht allein zum Meer gelaufen ist. Sie braucht die Stille, die Brise, das leise Wellenrauschen.

Lange steht sie so da. Schaut über das Wasser und fühlt sich leicht und beflügelt. Ich könnte jetzt, beginnt sie mit sich zu sprechen, ich könnte jetzt die ganze Welt umarmen. Mit weit ausgebreiteten Armen steht sie lange so da. Atmet tief ein und aus. Langsam. Ihre Augen füllen sich mit Tränen. Das tut gut. Da sieht sie verschwommen auf dem Wasser die Delfine kommen. In einem großen Kreis schwimmen sie vor ihr in der Bucht. Europa stellt ihnen gleich eine Frage: Schickt euch die große Göttin? Ein helles und lautes Tönen fliegt da vom Wasser zu ihr hin. Vielstimmig antworten sie ihr. Dabei tauchen sie elegant unter und schießen schäumend wieder hervor, drehen sich in der Luft, rufen laut und lassen sich wieder fallen. Sie plappern durcheinander, scheinen ganz aufgeregt, soviel haben sie zu erzählen. Europa weint Tränen des Glücks dabei. Sie hört zu, versucht zu verstehen, was sie wohl meinen könnten. Es klingt fröhlich, vorwitzig, beschwingt und unbeschwert.

Und als jetzt im Westen der goldglänzende Wagen des Sonnengottes seine Fahrt beendet, kommen die Delfine noch einmal ganz nahe zu ihr hingeschwommen. Jetzt aber still und mit wenig Bewegungen, ihre großen Augen scheinen ihr zuzulächeln. Dann – wie auf ein geheimes Kommando – wenden sie sich dem offenen Meer zu. Europa kann es nicht fassen. Sie hatte völlig vergessen, dass sie als Mensch alleine hier am Wasser steht und Wasserwesen zuschaut, als wären es enge Verwandte von ihr. Das kühle Wasser, das über ihre Füße gleitet, wie ein weiches Band schwesterlicher Verbundenheit zwischen ihr und ihnen. Vertraut. Eine Welt, ein Leben in all seiner Vielfalt und Pracht. Ein Augenblick, der sie stärkt und in ihren Plänen bestärkt: Hier, auf dieser Insel, hier will sie mithelfen, die fast schon vergessene Botschaft vom Glück weiterzugeben.