20 Apr

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 97

Ein unvergesslicher Augenblick

Es ist die Stunde der leisen Klänge und klaren Farben, denn der Sonnengott kommt gerade mit seinem Wagen meerwärts gefahren, langsam. Hunde und Katzen brechen behutsam zu kleinen Abenteuern auf, schleichen lautlos durch schattige Gassen. Es ist die Stunde der Tagträume auf Kreta. Auch Chandaraissa und Europa haben das Gefühl durch einen Traum zu schlendern. Federleicht. Mal mit geschlossenen Augen, mal mit halb geöffneten Lidern lauschen sie der sanften Stimme des Fremden, der ihnen gerade so wunderbar stürmisch – ein kleiner Sandsturm war sein Gehilfe dabei – ihr Leben rettete.

Lange Schatten alter Olivenbäume und leicht gebogener Dachkanten liefern einfach so und von glitzernden Staubkörnchen begleitet ein kleines Fest schöner Bilder eines Gartens, in dem die beiden Priesterinnen gerade ihren Atem, ihre Haut, ihre Gewänder spüren wie freundliche Begleiter in einem traumhaften Klanggemälde, das sie nur zärtlich verwöhnen will. Und das, was sie dabei hören, ist halb Musik, halb Sprache, halb Gesang, halb Raunen. Der Fremde hat sie völlig in seinen Bann geschlagen:

„Ich bewundere euren Mut, schätze eure Tatkraft, kenne eure Träume und helfe euch gerne, den Widrigkeiten und Anschlägen zu widerstehen. Das Wirken eurer helfenden Hände macht es vielen leicht, euch zu schätzen, euch zu unterstützen. Und ich hülle euch heimlich mit einem wärmenden Umhang liebevoller Gunst, die euch stärkt und weiter wirken lässt zur Freude, zur Lust, zum Tanz, zum Gesang und zum Frieden.“

Chandaraissa und Europa können es nicht fassen. Wer spricht da zu ihnen? Und warum tut er das? Woher kennt er ihre Träume? Die Schatten werden langsam länger und länger. Ihr Mut wächst und wächst. Sie haben so viele Fragen an den Fremden. Sosyniod. So nennt er sich. Er muss sehr mächtig sein. Aber sie haben keine Angst. Im Gegenteil. Beide sind entflammt, ihr Blut wallt, ihr Atem geht schnell, sie träumen sich in leidenschaftliche Bilder hinein, genießen es und ihn. Der Fremde scheint es zu spüren. Aber statt sich ihnen zu nähern, steht er langsam auf, lächelt, winkt mit der rechten Hand und wird von einem zum anderen Augenblick Teil der glänzenden und tanzenden Körner, die ihr buntes Treiben und Tollen im stillen Innenhof einfach nicht enden wollen.

Aber wie der Gesang der Wale, die über so weite Strecken unter Wasser ihre Botschaften weiter geben können, sind auch die Worte Sosyniods durch den weiten Äther gewandert, leichtfüßig und schnell, bis dorthin, wo die drei göttlichen Brüder mürrisch auf der Insel der Göttin der Liebe hocken und sich maßlos ärgern, weil dieser Sosyniod ihnen mal wieder einen Strich durch ihre Pläne gemacht hat. Es ist zum Haare raufen! Zeus zittert vor Wut. Poseidon schüttelt sein algendurchflochtenes Haar und Hades stülpt seine dicken Lippen nach vorne und knurrt: „Lieber Bruder, so kann es doch nicht weiter gehen, das können wir uns nicht bieten lassen! Wir müssen jetzt durchgreifen – oder?

03 Apr

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 96

Europa weiß sich geschützt und gestützt von großer Kraft.

Die beiden Frauen müssen sich zuerst an den dämmrigen Ort gewöhnen, an den sie der Fremde so unwirsch geführt hat. Der Duft von Thymian liegt in der Luft. Chandaraissa und Europa atmen genüsslich ein. Die Hitze, der Nachmittag, die Stille – alles scheint in diesem Augenblick besonders stark auf sie zu wirken. Da ist keine Angst in ihnen. Wie kann das sein? Eben noch fühlten sie sich verfolgt, wüste Gestalten mit bösen Absichten auf ihren Fersen, von einer Sandwolke umtobt, und jetzt diese Stille in diesem Innenhof. Die beiden stehen eng umschlungen da im Halbdunkel und schauen voller Erwartung auf ihren unverhofften Retter. Jetzt haben sich die Augen an die neue Situation gewöhnt. Er ist jung, groß, hat lang gewelltes Haar, das ungeordnet um sein Gesicht wallt, seine großen blauen Augen schauen sie freundlich an, sein Mund, ein feines Lächeln andeutend, geschlossen. Sein Gewand verstaubt. Er wirkt auf die Priesterinnen eher wie ein Künstler, ein Sänger vielleicht, ein Tänzer. Schließlich wagt Europa zu fragen:

„Wer bist du und warum geschieht das gerade hier?“

Der gedrungene, alte Olivenbaum, hat sicher schon vieles erlebt in seinem langen Leben, aber was nun zu hören ist, scheint auch ihm nur wunderbar:

„Zur Zeit nenne ich mich Sosyniod (da erinnert sich Europa, dass sie ihn schon einmal gesehen hat) und bin unterwegs, den Unsinn von drei alten Männern zu verhindern, den die gerade aus Langeweile und Mutwillen ins Werk zu setzen versuchen. Denn eure Pläne scheinen mir viel schöner und wichtiger für die Menschen hier auf der Insel als der gewaltsame Unfrieden, den die da gerade über der Erde ausschütten.“

Dann ist es wieder still im Innenhof auf der Insel, auf der Zeus einst versteckt worden sein soll. So sagt man jedenfalls.

Aber der Klang seiner Stimme, seine kleinen Gesten beim Sprechen, sein freundlicher Blick, all das berührt Chandaraissa und Europa sehr.

„Wir danken dir, Fremder. Aber sag, kennst du auch die große Göttin, zu der wir beten und die uns Vorbild und Hoffnung ist?“

Europa hält den Atem an. Ob das jetzt die richtige Frage war, die da gerade Chandaraissa dem Fremden gestellt hatte? Der nickt nur. Und lächelt. Eine wohltuende Stille breitet sich aus. Die beiden Priesterinnen haben gerade das Gefühl, dass alles, was sie für richtig halten – ihre Geduld, ihre Lebensfreude, ihre Sanftmut, ihre Botschaft der Liebe und des Vertrauens – von diesem Fremden nur verstärkt wird in ihnen. Ein wunderbares Gefühl. Und beide träumen für einen kurzen Augenblick von dem Tanzfest, das sie gerade mit den jungen Priesterinnen vorbereiten: Da wird ihre Botschaft an alle, die es sehen und hören werden, weiter gereicht werden, wird Früchte tragen.

„Natürlich kenne ich sie. Wir sind sogar verwandt.“

30 Mrz

Europa – Meditation # 190

Alter Mythos vs neuer Mythos – Von Viren und Luftschlössern. Teil I

Wenn Harari im Eilschritt kurz mal die Menschheitsgeschichte Revue passieren lässt, und wir Satelliten zur Sonne und an den Rand des „Weltalls“ schicken, warum sollte man dann nicht auch diese kurze Geschichte kurz mal rückwärts laufen lassen – „gehe zurück auf Anfang!“ – und denken, dass die Trennung zwischen Genau und ungenau genau daneben geht, dass Kunst in ihrer Vielstimmigkeit und Vieldeutigkeit genau das erfasst, was uns als species ausmacht: In jedem Augenblick sehen wir uns selbst und die Welt um uns neu, anders, fremd, vertraut und beschwören uns leise: Jetzt weiß ich es, jetzt weiß ich es. Und diese Kunst des phantasievollen Erfindens und Zusammensetzen nennen wir dann das Leben. Ein Mantra für 20 000 Jahre. In jedem Erdteil anders gedacht und gelebt – schon immer.

Aber sind es nicht immer auch nur Probeläufe gewesen, die irgendwann als irrig verworfen wurden, begraben, um einen neuen Probelauf beginnen zu können?

Schon vergessen? „Errare humanum est – sed in errore perseverare dementis.“

Irren ist menschlich, aber im Irrtum zu verharren töricht.

Schon immer waren unsere Endlichkeit und unsere Unwissenheit die Portalfiguren, an denen wir nicht ungerührt vorbei schleichen konnten. Können.

Warum nicht endlich dazu stehen wollen? Jetzt?

Europa hat viele Varianten durchgespielt, Asien hat viele Varianten durchgespielt – beide stehen nun vor dem gleichen Problem: Das, was seit Jahrzehnten als gelungener Lebensentwurf weltweit propagiert wird, erweist sich nun nachhaltig als das, was es ist: ein weiterer Probelauf, der sich als globaler Irrweg herausstellt. Wäre es da nicht töricht – um ein aus der Mode gekommenes Eigenschaftswort wiederzubeleben – trotzig die Augen zu schließen, statt sich vom Hergebrachten zu verabschieden und neu zu verorten?

Dazu braucht die species keinen Gesundbeter, keinen Vordenker, jeder ist heute – nicht zuletzt durch die globale Vernetzung – Teil des Neuanfangs, Teil eines neuen Narrativs/Mythos, der den alten Mythos endlich ablöst: Denn am Anfang Europas steht ja nach wie vor das üble Bild einer gewaltsamen Entführung und Vergewaltigung – überhöht in ein Bild eines göttlichen Liebesabenteuers von Zeus selbst, dem Supermann von jeher. Aufgeschrieben wurde dieses Narrativ natürlich von Männern. Das Narrativ der Frauen hatte keine Chance.

Jetzt ist sie da.

Die unterdrückte Botschaft von einem gewaltarmen Leben, in dem die Frauen gleichberechtigt neben den Männern leben, kann nun endlich in die Tat umgesetzt werden. Es sind die Frauen, die gerade den Laden wuppen, nicht die Männer. Fortsetzung folgt schon morgen!