22 Apr

Leseprobe # 1 Zu den Fabeln der kleinen Fee

Der Mann im Mond – ein richtig guter Typ

In sanftem Sinkflug bringt uns Sindalf zum Eingang der großen Grotte vom Mann im Mond. Fahles Licht kommt von innen her auf uns zu, als wir mit bangen Herzen eintreten.

„Kommt nur alle herein, meine Lieben, ich habe schon so lange auf euch gewartet. Die Tafel ist für das längst fällige Gästetreffen festlich gedeckt, wie ihr es verdient habt!“

Wir trauen unseren Ohren nicht. Träumen wir? Seine Stimme ist zu hören, aber er selbst noch nicht zu sehen. Erst als wir tiefer in die Grotte kommen, öffnet sich der Felsenflur hin zu einem weiten hohen Saal. An den Wänden hängen zahllose Lampions, alle in der Form eines Vollmondes. Sogar die dunklen Stellen darauf fehlen nicht. Und in der Mitte ein langer hochbeiniger Tisch. Drum herum Sitzgelegenheiten, eigenartige; sie scheinen alle von innen irgendwie auch schwach beleuchtet zu sein. Am Kopf des Tisches steht auf einer oben abgesägten Alabaster-Pyramide der Gastgeber. So hatten wir ihn uns nicht vorgestellt: So klein gerade mal wie ich, die kleine Fee, er könnte ein kleiner Bruder von mir sein, breitbeinig und mit ausgebreiteten Armen winkt er uns heran. Er lächelt. Große hellblaue Augen strahlen uns an, darüber brauenlos eine hohe Stirn unter einem kahlen Schädel, aus dem fünf blaue Zöpfe steil in die Höhe zeigen. Sphärenmusik von irgendwoher. Aber etwas blass sieht er aus. Ob er krank ist? Leise, weiche Töne sind zu hören.

„Kleine Fee, für dich ist die Pyramide mir gegenüber reserviert, nimm doch einfach Platz. Deine Freunde werden ihre Sitze schon selbst herausfinden. Oder?“

Und so ist es auch: Sindalf schwebt lautlos zur linken Seite nach vorne, wo ein Gestänge mit jeweils zwei silbernen Flügelpaaren an den Ende der Querstange fest im Steinboden verankert scheint, landet problemlos und schaut streng in die Runde, als wäre diese hohe Halle das Falken-Reich. Die Freunde schauen ein Moment ratlos zum immer noch lächelnden Mann im Mond. Seine Hände hält er jetzt einladend ausgestreckt, als wollte er sagen:

„Hab ich nicht Recht, liebe Freunde, ihr kennt doch eure angestammten Plätze. Oder?“

Um die Schultern trägt er einen weiten offenen Mantel, der ihm bis zu den kleinen Füßen reicht, die in spitz zulaufenden gelben Stiefelchen stecken. Darunter erkennen wir den nackten schmalen Brustkorb, im Bauchnabel blitzt wohl ein Edelsteinchen. Und die Gürtelschnalle des grauen Gürtels ist geformt wie ein erloschener Vulkan. Statt einer Hose trägt er einen langen sehr bunt gestreiften wallenden Rock, in dem unzählige Sternchen gelblich weiß zu blinken scheinen. Verblüfft schaue ich die Pyramide direkt vor mir an. Wie soll ich denn da hochkommen? Im schummrigen Licht hatte ich die Stufen in der Rückseite der Pyramide gar nicht erkannt. Erleichtert steige ich nun, als wäre es das Normalste von der Welt – dabei waren wir doch auf dem Mond – diese Stufen hinauf und mache es mir oben bequem, lasse meine Beine lässig vorne herunterbaumeln und lächle dem großzügigen Hausherrn entgegen, der mir genau gegenübersteht. Dann sehe ich, wie meine anderen Freunde sich in Bewegung setzen, einige losstürmen, jeder zu seinem speziellen Sitzplatz, als wären es lauter Stammplätze: Alitot schreitet würdevoll auf der rechten Seite nach vorne; seine Sitzgelegenheit sieht aus wie ein flauschiger Ohrensessel, der von mir aus gesehen fast einem Fuchsbau zu gleichen scheint, also genau richtig für unseren klugen Freund. Mit einem kühnen Satz ist er auch schon oben und für einen Augenblick kommt es mir so vor, als stünde er gerade vor dem Eingang seines eigenen Zuhauses. Die weichen, dicken Polster aus hellbraunem Stoff – oder ist es hellbrauner Fels? – wölben sich schützend um den schlanken Fuchs, der sich räkelnd die bequemste Stellung darauf sucht. Gleich hinter ihm her war Blinker los gehüpft und hatte sich natürlich den alten Baumstumpf ausgesucht, aus dem ein starker Ast herauswuchs, auf dem unser Eichhörnchen nun vergnügt hin und her lief und ausgelassen mit dem bauchigen braun-schwarzen Schwanz auf das Holz schlug, als wäre es daheim im vertrauten Wald. Tebelchen, unser Rehkitz, das eigentlich erwartet hatte, dass Blinker sich bedanken würde für den Lift auf weichem Rücken, tippelt tänzelnd zu der einladenden Hollywoodschaukel und macht es sich darauf kichernd bequem. Fuchs, Eichhörnchen und Rehkitz alle zu meiner Rechten. Zu meiner Linken, wo vorne schon der stolze Falke Platz genommen hatte, belegen nun Weichzottel und Mürnli die beiden verbliebenen Plätze. Zwischen der Einladung Platz zu nehmen und dem Finden der Plätze vergehen in Wirklichkeit nur ein paar Augenblicke. Am längsten dauert es aber, bis Mürnli seinen besonderen Ort fürs Festmahl gefunden hat. Denn Mürnli hätte niemals alleine auf seinen Thron steigen können. Er ist nun mal der Kleinste von uns allen. Und große Sprünge wie Blinker kann er auch nicht machen. Sein Platz ist nämlich auf drei ganz schlanken Beinen oben drauf gebaut, von wo – wie ein kleines Sprungbrett – ein hölzerner Arm bis über den Tisch reicht. Da weiß ich natürlich gleich, was zu tun ist. Schnell springe ich die Stufen meiner Pyramide herunter, nehme Mürnli, der ja auf Weichzottels Rücken hatte sitzen dürfen, in beide Hände, steige wieder hinauf – noch bevor der liebe und sehr verlegene Igel überhaupt etwas sagen kann – und setze ihn einfach auf dem Tisch ab, auf dem weder Teller noch Becher zu sehen sind. Eigenartige Festtafel, geht es mir noch durch den Kopf. Mürnli aber wird sicher knall rot (zum Glück verheimlichen seine Stacheln diesen peinlichen Moment), denn alle schauen nun auf ihn, wie er über den Tisch flitzt und dann über das Sprungbrett zu seinem Thrönchen findet. Der Mann im Mond klatscht vergnügt Beifall. Also Entwarnung. Ich hatte schon gedacht, der würde vielleicht befremdet mit dem Kopf schütteln. Tut er aber nicht. Fein. Und Weichzottel, der gutgelaunte Wuschelbär, sitzt auch schon auf seinem roten Sofa, gleich neben mir.

„So, nachdem ihr nun alle eure Plätze gefunden habt, möchte ich auch gleich die guten Geister meiner bescheidenen Hütte bitten aufzutischen. Ihr habt sicher Hunger!“

Und wie, hätte ich am liebsten gerufen. Aber dazu bleibt gar keine Zeit, denn nun geschieht etwas ganz Geheimnisvolles: Zu den süßen Klängen, die immer im Raume zu tanzen scheinen, schweben von weiter hinten silbern glänzende Scheiben herein – fast wie fliegende Untertassen – und landen jeweils vor einem der acht Teilnehmern des Gastmahls. Und was noch viel geheimnisvoller ist: Auf jedem dieser Scheiben liegt genau das, was das Lieblingsgericht von jedem von uns schon immer ist. Doch gerade, als meine Freunde heißhungrig und gierig zulangen wollen, erhebt der Gastgeber noch einmal seine Hände, räuspert sich umständlich und hebt dann an – wohl zu einer längeren Rede. Wie eingefroren in unsere Geste starren wir zum kleinen Mann im Mond und beten im Stillen: Bitte, fasse dich kurz, wir haben solchen Hunger, bitte!

„Liebe, liebe Freunde! Ich weiß, ihr habt Hunger, aber ich muss es noch schnell los werden, wie es überhaupt möglich war, dass ihr es zu mir hierher schaffen konntet – so stark euer Gombral auch sein mag und so gut er auch fliegen kann.“

Hier macht der kleine Redner ein kleine Pause. Er genießt unsere staunenden und sprachlosen Gesichter. Denn wir sind auch wirklich baff: Woher kennt er den Namen unseres Dinofanten, woher weiß er von unserer Ratlosigkeit in Sachen Fliegen im Weltraum? Da fährt er aber schon fort:

„Ich hatte mich in einen Traum der kleinen Fee geschlichen und da mitbekommen, dass sie mit euch auf den Mond fliegen wollte, um den Mann im Mond zu besuchen. Da war ich so glücklich, dass nun endlich meine Erlösung nahte, dass ich gleich alle meine guten Geister losschickte, euch heimlich beim Atmen, Fliegen und Landen beizustehen, denn eigentlich ist unsere Welt hier im All euch Erdlingen nicht so einfach zugänglich. Doch daran sollte es nun nicht scheitern. Aber jetzt guten Appetit!“

Wir haben wirklich Heißhunger, das ist wahr, aber was wir gerade hören, überrascht uns so, dass wir uns zuerst gar nicht zu rühren wagen. Und wer wagt sich als erster aus dieser Sprachlosigkeit heraus? Genau. Mürnli, unser Igel.

„Äh, was meint ihr eigentlich mit ‚meine Erlösung‘? Wovon sollt ihr denn erlöst werden?“

Genau. Diese Frage schwirrt uns allen gerade durch den Kopf. Der Mann im Mond schmunzelt:

„Das erzähle ich euch dann nach dem Essen. Einverstanden?“