14 Jun

Europa – Meditation # 95 Heimat-Text Nr. 12

Schiller reloaded:

Der Mensch ist nur da wirklich Mensch, wo er spielt

Endlich wieder Spiele. Ganz große Spiele. Und sie kommen alle: Die Spieler, die Zuschauer und die Erklärer der Spieler. Es wurde aber auch aller höchste Zeit. Denn der derzeitige Weltalltag ist nun wirklich kein Leckerbissen mehr: Dick und Doof hauen sich eben erst die Schädel ein (bildlich, versteht sich!), dann fallen sie sich tränenreich wieder in die Arme (uns kommen die Tränen!), Hänsel und Gretel streiten sich mal wieder um die Flüchtlinge und die Italiener trauern, weil sie an den Spielen nicht teilnehmen dürfen und die Spanier toben, weil ihnen kurz vor Toresschluss der Trainer im Stich lässt. Von Vulkanausbrüchen und Plastikplagen mal ganz zu schweigen.

Und wenn Schiller Recht haben sollte, dann tut der homo sapiens ja gerade das, was er soll, um ganz homo sapiens sein zu können: Spielen. Die einen mit dem Ball, die anderen an den Spielerbörsen und die übrigen mit den Gefühlen der Zuschauer. Wenn da nicht die Kosten wären. Und schon wird es wieder bitter ernst mit dem Spiel: Das kostet eben!

Wie von Zauberhand verschwindet da urplötzlich die Freude und Neid und Missgunst, Häme und Bestechung feiern fröhliche Urständ… Von völkischen Rülpsern mal ganz zu schweigen.

Aber auch die sonstigen Spielverderber lassen sich natürlich nicht lumpen:

Da wir ja alle im Labyrinth der Bilder blind spazieren gehen, entgeht uns vielleicht auch die warnende Geste der Kassandra, die unermüdlich warnt:

Euer Treiben, das ihr euphemistisch Spiel nennt, ist nichts weiter als ein schwindlig machender Taumel auf Treibsand, den ihr als das Fundament eurer (Un-)Ordnung anseht.

Da wir ja glücklicherweise bereits im KI-Zeitalter angekommen sind, kann der Spieler-Zampano auch fordern: „Jetzt aber mal schnell den Schalter im Kopf umlegen, um sich auf das zu konzentrieren, was für uns wichtig ist.“

Na toll, das können ja schöne Spiele werden, wirklich!

 

13 Jun

Europa – Verraten und verkauft? (Meditation # 42)

Fröhlicher Abschied von schlechten Gewohnheiten

Erinnern wir uns kurz: 1945 – kamen die Sieger nach Mitteleuropa, um der rohen Gewalt ein Ende zu setzen. No fraternisation! War die Losung der ersten Stunde nach der sogenannten Stunde null. Reeducation hieß es aber schon bald – der ökonomisch und militärisch mächtige Hegemon übernahm die moralische Führung – so jedenfalls sah es damals aus. Aber worin bestand diese Führung? In der Einführung der zivilisatorischen und ökonomischen Eckdaten aus Übersee. Nicht mehr und nicht weniger.

Die Besiegten in den Besatzungszonen spielten schnell die reumütigen Schweiger, die Persil genauso lieben lernten wie die Besatzer. Ein friedfertiges Europa sollte entstehen – unter der fürsorglichen Aufsicht der Demokratie-Oldies. Eifrig baute man und baute man. Neue Häuser, neue Straßen, neue Brücken, neue Bahnlinien, neue Talsperren, neue Schulen, neue Universitäten, neue Banken und ein neues Europa. Und an einem neuen „Image“ baute man. Schon der Begriff kam aus einer fremden Sprache, erst recht die dahinter stehenden Inhalte. Ein „NEW DEAL“ für Europa gewissermaßen. Die Spielregeln wurden frohlockend mitgeliefert und hier gerne abgesegnet.

Erinnern wir uns noch an den stolzen Begriff „deutsche Wertarbeit“ und an die damit verbundenen Wertschätzungen: Ein Wintermantel zum Beispiel: Der sollte nicht nur warm halten, sondern auch lange halten, weil er aus gutem Material gefertigt war. Ein neues Auto: Das sollte nicht nur solide verarbeitet sein, nein, es sollte auch langlebig und gepflegt sein. Ein Ehe, sie sollte nicht nur gut überlegt sein, sondern möglichst auch lange halten. Kinder sollten dazu gehören, damals, sie sollten eine gute Schule besuchen und einen befriedigenden Beruf finden können.

Oder erinnern wir uns doch noch einmal an die Kinderlieder, an die Märchen, die alte Musik, die Geschichtsbücher über die Geschichte der Völker von der Völkerwanderung bis heute – oder an die Familienfeste: Namenstag, Hochzeitstag, Weihnachten, Ostern…und die Geschichten, die die Großeltern zu erzählen wussten von ihren Großeltern, die aus dem Süden in den Norden gezogen waren oder aus dem Osten in den Westen und noch eigenartige Dialekte zu sprechen vermochten…

Und wo führte uns dann diese moralische Führung der Sieger hin?

Dass der Junior-Partner sich nach und nach zum Pseudo-Hegemon in Europa mauserte. Da gab es die ersten Knirschgeräusche.

Dahin, dass wir nach und nach alles über Bord warfen, was vor den Wert- schätzungen eben dieser Sieger nichts wert war oder noch weniger als das: Nichts taugte, altmodisch, überlebt und als nicht zukunftstauglich galt. Gute Laune war dabei angesagt, mit Lust sollte man all den Krempel über Bord werfen, mit Verve den „new way of life“ überziehen, wie wild dazu tanzen, laut singen und schnell fliegen, auf die Azoren, auf die Malediven.

Schau, schau, da sind sie ja schon, die süffisant grinsenden Fortschrittsbeglaubiger und ringen sich voller Erbarmen ein mitleidiges Lächeln ab: Wieder so ein ewig Gestriger, der einfach nicht mitbekommen hat, was die Stunde geschlagen hat. Hurtig haben sie ihre kleinen Schmuckschuber parat, in die sie das Gesagte mit geschürzten Lippen plumpsen lassen: „Haben wir nicht schon genug dekadente Nostalgiker mit Strauß, Mosbacher, Handke, Zeh und Co? Wetten, gleich kommt bestimmt der Oberslogan dieser Typen: ‚Ein Volk ohne Erinnerung ist ein Volk ohne Zukunft.‘?“ So ist es. Aber an was erinnern wir uns denn in Europa noch über Europas eigene Geschichte? An was aus unseren Familiengeschichten, an was aus den Kunstgeschichten der europäischen Völker und Regionen? Dass einige wenige sehr, sehr reich wurden, und der Rest ziemlich leer ausging. Erinnerungslos, haltlos, bodenlos. Eine erbärmliche Geschichte.

03 Nov

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte (Mythos # 19)

Wie schnell alles gegangen war! Endlich war er von seinem Pferd gesprungen und hatte Halt gemacht, direkt vor einer langen Mauer mit vielen Toren – ich, mehr stolpernd als laufend und völlig außer Atem, wollte ihn gerade zur Rede stellen, da hatte mir dieser miese Mann blitzschnell einen Sack über den Kopf gestülpt, hatte ziemlich unsanft meinen Arm gepackt und mich ohne auch nur ein Wort zu sagen mit sich fort gezogen. Schließlich – nach den hallenden Tönen unterwegs waren wir wohl durch lange Gänge geeilt – hatte der grobe Klotz mich einfach stehen gelassen. Ich hörte, wie eine schwere Tür zugeschlagen, ein Riegel betätigt wurde, dann Stille. Hastig zog ich den Sack von meinem Kopf herunter – ich hatte kaum Luft bekommen und arg geschwitzt.

Dämmerlicht. Flirrende Staubkörner in einem feinen Sonnenstrahl. Ja, weit oben in der Decke ist eine Öffnung, da kommt das wenige, aber freundliche Licht her. Langsam gewöhnen sich meine Augen an den wenig hellen Raum. Es ist ein kleiner Saal. Völlig leer. Keine Stühle, kein Tisch, kein Mensch. Ich stehe etwa in der Mitte. Während meine Augen alles abtasten, stürzen wilde Gedanken, Ängste, Hoffnungen durch meinen Kopf: Was steht mir jetzt bevor? Wie schön, die fliegenden Delfine an den blauen Wänden! Die Kinder, was wird aus ihnen, werden sie bestraft werden? Und der Fremde in der Höhle, der göttliche Mann, was wird er von mir denken? Die Tiere scheinen sich wirklich zu bewegen, die Augen täuschen mich. Dann spüre ich Müdigkeit in meinen Beinen. Soll ich mich hinlegen, ausruhen? Nein, ich will aufrecht stehen, wenn man mich holt. Keine Schwäche zeigen. Auf keinen Fall. Meine Haare, mein Gewand! Ich muss richtig mitgenommen aussehen. Ist das von Vorteil oder eher von Nachteil? Ich will mein verwildertes Aussehen nutzen. Wie lange wird man mich warten lassen? Werde ich beobachtet? Gibt es in den Wänden vielleicht kleine, heimliche Öffnungen? Und schon fühle ich mich beobachtet. Oder ist es die Göttin, die auf mich schaut und mitleidig lächelt: „Prinzessin, warum so verzagt? Schon vergessen, wie kraftvoll deine Ausstrahlung ist?“ Gut, dass keiner meine Gedanken lesen kann, niemand meine Unsicherheit bemerkt. Stolz will ich den König anschauen. Fordernd. Er soll nicht glauben können, weil ich ein Flüchtling bin, habe er leichtes Spiel mit mir. Meine Göttin, nie lässt sie mich allein.

„Wunderbar. Ich danke dir.“

Da hört sie wieder, wie der Riegel betätigt wird. Sie reckt sich, atmet tief durch und schließt dabei mutig die Augen.

Folgt mir, der König will ausreiten, da hat er wenig Zeit für eine fremde Frau, einen Flüchtling. Außerdem ist die Audienzzeit für heute vorbei. So will er die Fremde nur kurz sehen. Danach wartet dann im Labyrinth der gierige Unhold auf dich.

Eine lange Rede, hätte ich gar nicht gedacht. Dabei schaut er mich so abfällig von oben herab an, dass ich fast schon lachen muss, so übertrieben macht er das, der Bote des Königs. Ich verziehe keine Miene. Das erstaunt ihn. Keine ängstliche Rückfrage, kein Protest?

Wir sollten ihn also nicht warten lassen oder?“,

antworte ich ihm so gleichmütig wie möglich.

Wenn wir dem König gegenüber stehen, wirf dich gleich auf den Boden! Es ist dir nicht erlaubt, ihn anzuschauen.

Darauf gebe ich ihm keine Antwort. Ich weiß, dass der König – mein Vater hat manchmal von ihm gesprochen – mein Leben beenden kann oder eben auch nicht. Ich muss die Gelegenheit nutzen. Ich werde einfach auf dem Weg zu ihm meine Göttin um Beistand bitten. Ich meine, ihre Nähe zu spüren. Ich bin also nicht allein.

Wieder lange Gänge, Treppenhäuser. Wo führen die hin? Wer wohnt hier denn alles? Überall müssen Zimmer, Säle sein. Aber niemand begegnet uns. Niemand. Ein einziges Labyrinth. Und wieder huscht ein Lächeln über mein Gesicht. Eitler Führer, du hast dich geirrt: Auf mich wartet nicht ein Unhold, auf mich wartet der König. Der erste Augenblick wird alles entscheiden, glaube ich die Göttin flüstern zu hören.

Vor uns weitet sich der Gang. Am Ende sehe ich zwei Männer stehen. Beide halten Doppeläxte in den Händen, starren ins Leere. Als wir näher kommen, machen sie einen Schritt zur Seite, klopfen dabei mit den langen Stielen der großen Äxte gleichzeitig einmal auf den Steinboden. Wie ein Welle breitet sich der dumpfe Ton durch den Gang aus. Als könnten sie zaubern, öffnet sich langsam die Flügeltür. Helles Licht, ein weiter Saal, und da steht er mittendrin, der König und schaut mich an.