04 Apr

Europa – Meditation # 192

Endlich darf der homo sapiens zu sich selbst finden.

Warum ist in der kurzen Kulturgeschichte des Menschen die Musik immer die Königin geblieben? Warum gibt es keine Kultur ohne Musik? Warum ist die Musik bei jungen Menschen heutzutage so zentral, warum lassen sie sich da so gehen? Warum? Weil sie in ihrer Wirkung so wunderschön ungenau und wahr zugleich ist. Das wahre Fest des Lebens.

Könnte es sein, dass am Anfang der Geschichte die Verlockung einfach zu groß war, sich selbst größer zu machen, als man wirklich war, in dem man sich einfach zu göttlichen Erfindern der Logik, der Klarheit, der Eindeutigkeit erklärte? Weil in diesem Kunstprodukt – Sprache als Fluchtraum vor fehlenden Grenzen – die Verlässlichkeit hinein gedacht und gelebt werden konnte, die das eigentliche Leben nicht hergab? Man musste nur die Sprache lernen, allen beibringen, üben und nachbeten, und schon war zumindest in diesem Bereich eine Sicherheit, eine Klarheit, eine Stimmigkeit zu finden, nach denen man sich doch so sehr sehnte.

Dann ging in der Erinnerung an den Trick am Anfang nach und nach verloren, dass es ein Trick ist, bzw. die Hüter der Sprache – anfangs die Zauberer, Priester, Druiden und Auguren – umgaben diesen wunderbaren Fortschritt (man war von sich selbst fortgeschritten) mit heiligem Ernst und Wunderglauben. Und da die Sprache auch Macht verlieh über andere, wurde nach und nach wahr, was eigentlich nur eine kluge Erfindung war, um die Unsicherheit der eigenen Existenz, die einen Tag und Nacht umschlich, aus seinem Bewusstsein auszusperren.

Aber die Wahrheit ließ sich dennoch nicht beseitigen. Immer wieder gab es diese geistigen Störenfriede, die daran erinnern wollten, dass die Stimmigkeit der Welt, wie wir sie in die Sprache gelernt haben zu bannen, ein schöner Traum – das Leben ein Traum – sei und dass die Besinnung auf die eigentliche Fehlerhaftigkeit unserer Wahrnehmung gleichermaßen eine Rückbesinnung sei auf unsere zerbrechliche Natur. Sie ist nun einmal doch nur so, wie sie ist: zerbrechlich, vorläufig, hinfällig, fehlerreich. Schon immer.

So mussten solche Querdenker an den Rand gedrängt werden, als Spielverderber gebrandmarkt, als gefährliche Aufrührer aus dem Spiel genommen werden. Aber sie waren und sind einfach nicht stumm zu kriegen. Wer denn, bitte schön?

Nun, um nur ein paar Europäer zu nennen: Heraklit, Lukrez, Montaigne, Sterne, Herder, Hölderlin, Kleist, Nietzsche…Sie hatten es nicht leicht mit sich und ihrem jeweiligen „Umfeld“. Warum? Weil sie – nicht zuletzt über die Musikalität ihrer Texte – die alte Kränkung thematisieren, zulassen, und die Risse und Brüche der glättenden Sprachmuster offen legen. Das macht sie natürlich zu Unruhe-Stiftern, zu Abweichlern, die man bemitleiden muss, weil sie nicht klar kommen in ihrem Leben. Wie auch, werden sie erwidern, wenn Klarheit nur den Göttern gegönnt ist – dazu wollten sich die Menschen gerne auch machen – gerade jetzt wäre Zeit, Bescheidenheit zu lernen.

14 Aug

Europa – Meditation # 157

Die kleinen und die großen Vorbilder in Europa

Längst haben die Bilder die Macht übernommen. Texte sind jetzt nur noch wie Fußnoten, Ablenkungsmuster für Langweiler, Einzelgänger oder Besserwisser, also Leute, die noch nicht mitbekommen haben, wo der Hammer hängt.

Und die Abfolge der Bilder hat an Tempo ziemlich zugenommen. So bleibt auch keine Zeit mehr, Bilder auf ihre Echtheit oder Bearbeitung zu untersuchen. Müßig sowieso, denn der Gier nach Bildern ist deren Entstehen einerlei, sowieso.

Mondlandung, fürstliche Eheschließungen, drei Stühle, drei Frauen, drei Aufgaben: Verteidigungsministerin auf Probe, Kommissionspräsidentin in spe und Kanzlerin vor dem Ausstieg – das macht Männern Spaß, da mal so richtig Häme auszuschütten. Denn jenseits der Bilder wüten dann die Gefühle, die sie blitzschnell erzeugen: Neid, Wut, Zorn, Schadenfreude, Missgunst…

Europa – das Bild von der gewaltsam entführten und vergewaltigten Prinzessin aus dem Libanon kennen sicher nicht so viele in Europa – wird daneben aber in zahllosen Varianten ins aktuelle Bild gesetzt:

Als ein Kontinent, der seine eigenen Geschichten vergessen hat,

als eine Landmasse, die immer mehr an Bedeutung zu verlieren scheint,

als ein Staatengebilde, das seine eigenen Errungenschaften genussvoll zu ruinieren scheint,

als ein Fleckenteppich, der eine faszinierende Vielfalt an regionalen Besonderheiten aufzuweisen hat,

als ein Machtfaktor, der in der Welt mehr und mehr seine Möglichkeiten leichtfertig zu verspielen scheint.

Und die Betroffenen – landauf, landab? Die wenden sich mehr und mehr kopfschüttelnd ab, weil die gewählten Vertreter mit ihren Parteiprogrammen immer weniger zu überzeugen verstehen.

Es ist mal wieder die Zeit der Rattenfänger in Europa – in Polen, in Ungarn, in Italien, in Griechenland, in England, in Deutschland. Die vielen (sie nennen sich gerne „die das Gefühl haben, vom Kuchen zu wenig abzubekommen und unter Vormundschaft solcher Rattenfänger nach den Schuldigen suchen, die auch schnell gefunden sind: Die Eliten, die Fremden, die Medien ) – diese vielen bringt das System Neoliberalismus massenweise hervor, in dem die Reichen immer reicher werden und die anderen immer weniger haben für Miete, den Alltag, die Altersvorsorge.

Wir Europäer müssen also gar nicht nach Übersee schauen, wir können schön vor der eigenen Tür kehren, da wachsen die Müllberge – die ideologischen genauso wie die aus Plastik – nachhaltig weiter. Und wenn dann auch noch so ein Teenager vorlaut den gekränkten Zeitgenossen die Leviten lesen will, dann sollte man endlich mit Schuldzuweisungen einhalten und bei sich selbst anfangen. Jeder Europäer ist gefordert, jeder kann in seinem Kiez und in seiner Region mithelfen beim…

03 Jun

Europa – Meditation # 148

Die alten und neuen Portalfiguren in Europa

Die erste, die zweite, die dritte und die vierte Gewalt – das waren bisher die Eckpfeiler unseres Tempels der Selbstvergewisserung. Und die vierte, die Medien, zappeln inzwischen genauso wie die drei alten Gewalten im Zirkuszelt – ratlos – und verlieren Leser, Hörer und Zuschauer noch und noch. Von den alten Parteien ganz zu schweigen: Lieber zeigt in diesen Tagen jeder gerne auf die Sozialdemokratie, die sich selbst zu zerlegen scheint. Aber der Schein trügt. Sie ist nur die älteste der Parteien, und die Arbeiterschaft des 19. und 20. Jahrhunderts diejenige soziale Gruppe, die die radikalsten Umbildungen – der ehemalige Bildungsbürger würde wahrscheinlich besserwisserisch von Metamorphosen sprechen – an sich selbst ertragen musste. Vokabular, Themen und Vorbilder sind längst angestaubt, am Verrosten. Die Vögel auf der Stange piepsen lauthals von da oben herab: „Selbstdemonage, ihr ewig Gestrigen, Selbstdemonage!“

Und bemerken gar nicht, dass sie fleißig mit am Ast sägen, auf dem sie alle sitzen: Der Parteiendemokratie.

Die steigende Wahlbeteiligung und die zerfallenden großen Parteien sprechen aber eine deutliche Sprache: Der Zeitgenosse – und hier vor allem der junge und sehr junge – hat die Nase voll vom leerlaufenden Palaver der Parteibonzen und Mitläufer. Empört oder angeekelt oder beides wendet er sich lustvoll ab und findet angenehmste Gleichgesinnte im Netz. Die Plakate der letzten Wahlschlacht auf europäischer Ebene zeigen diesen neugierigen und informierten jungen Zeitgenossen eher Mumien und Slogans der Adenauerära. Damit können sie aber nun wirklich nichts anfangen.

So schließen sie sich mit ihresgleichen kurz – man ist eben verlässlich vernetzt und kennt sich, lacht und lästert viel und ist ziemlich präsent in den Themen, die Europa zur Zeit umtreiben – Greta lässt schön grüßen!

Die schleichende Erosion in der Parteiendemokratie wird zu völlig neuen Vernetzungen führen: Die jungen Leute haben nun gleich zwei Heimaten – eine digitale unter ihresgleichen und eine analoge in ihrem Fußballclub, in ihrem Kiez, in ihrem wirklichen Freundeskreis. Das gibt ein gutes, vitales Lebensgefühl. Da sind die Parteiendemokratie und die repräsentative Demokratie olle Kamellen und Welten, die einfach noch nicht den Schuss gehört haben. Weiter nichts. Was ist daran eigentlich so schwer zu verstehen, Frau AKK etc?