31 März

Europa – Meditation Nr. 496

Verluste und Gewinne am Scheideweg (Teil 2)

In seinem neuen schmalen Buch „Die Kriege der Gegenwart…“ liefert sich Joschka Fischer ein munteres Gefecht mit seinen eigenen Begrifflichkeiten, die folgsam den vertrauten Klickklacks folgen und somit so beruhigend folgerichtig klingen: Geopolitik, Weltordnung (!) – die es doch nur in der Einbildung geben kann – bipolare Blockkonfrontationen, geopolitische Hauptachse, Retro-Zeit, Isolationismus, Neonationalismus, (wie ein Sisyphus-Unterfangen ist diese Begriffshalde unnachgiebig ungehalten abzuräumen), Zweiteilung der Welt in Demokratien und Autokratien, neues Zeitalter, geprägt von der künstlichen Intelligenz…“Ohne Ordnung, im Chaos der Rivalität mehrerer Großmächte und deren widerstreitender Interessen, Wertesysteme und irrationalen Ambitionen…“ (S. 22).

Der Alt-68-er gefällt sich hier als scheinbar weiser Alt-Politiker, der in der Stille seiner Schreibstube einfach nur fest hält, was aus einer nüchternen Vogelperspektive zum Stande der Dinge einfach mal gesagt werden müsste. Als gäbe es diesen außerplanetarischen, archimedischen Punkt, von wo aus man das Geschehen auf dem blauen Planeten in einer Gesamtschau überblicken könnte, als handele es sich bei den globalen Machenschaften der mächtigen Clans und Geldmengensammler um ein Glasperlenspiel, das man von oben herab interesselos betrachten könnte…als könnten Abstrakta den aufgescheuchten Menschen Zuversicht und Gelassenheit in Aussicht stellen.

Ja, er liefert nicht nur Analysen zu Gegenwart und Vergangenheit, nein, er bietet auch wortreich und so kompetent besorgte Prognosen für die Zukunft.

Abstraktionen-Kaleidoskop eines Wortjongleurs, der mittels der Aura des Elder statesman damit kokettiert, gelassen den Überblick über ein unübersichtliches Welt-Chaos zu verwalten und von seiner Warte aus sorgenvoll, differenziert und kenntnisreich ein Gesamtbild zu entwerfen, das möglichst viele, wenn nicht sogar fast alle, Variablen im Welt-Macht-Spiel vor Augen führt. Und um hinterher staunend über so viel Umsicht, Weitsicht, Durchsicht und Klarsicht sprachlos und dankbar tief durchzuatmen, weil einem endlich mal in einem großen Wurf gesagt wird, was Sache ist.

Das muss den Leser – je nach seiner Herkunft, Bildung und eigener Weltsicht – andächtig erschauern lassen, abnicken lassen oder völlig ratlos zurücklassen, weil man weder die Zeit noch die intellektuellen Werkzeuge parat hat, mit denen man solch einem Rundumschlag/Blick kritisch begegnen könnte.

Oder sollte man es auf einer Gewinne/Verluste-Skala nicht eher als allzu leichtfertiges Großpuzzle ansehen, das zwar schön und ordentlich anzuschauen ist, das aber lauter Puzzleteile (Abstrakta) nur in ein Gesamtbild zwängt, das so in der Wirklichkeit weder in der Vergangenheit, der Gegenwart oder auch für die Zukunft Anspruch auf Wirklichkeitsabbildung haben kann.

Es sei nur daran erinnert, wie „überrascht“ die Menschen in Europa waren, als im Sommer 1939 plötzlich Krieg war, als im Herbst 1989 plötzlich das Gorbatschow-“Wunder“ geschah und als plötzlich 2024 ein Rumpelstilzchen entgegen den Prognosen einen klaren Wahlsieg nach Hause fuhr! Über Nacht fielen vertraute Denkmodelle wie Kartenhäuser in sich zusammen. Und als gerade im Gaza Palästinenser gegen die Hamas protestierten. Die Medien – dahinter lauter kompetente Denker der jeweiligen Szenerien – hatten so was von falsch gelegen, obwohl sie doch nur dem klaren Verstand vertraut hatten.

Wie war das möglich, fragen sich dann im Nachhinein die Kenner genauso wie die Zuschauer?

Vielleicht sollte man stattdessen einfach kleinere Brötchen backen, im Alltag vor allem den eigenen Kindern gegenüber einen glaubhaften, kleinschrittigen Weg weisen durch die Fährnisse dieses Chaos, das die Natur uns Tag für Tag und Nacht für Nacht gratis frei Haus inszeniert, ganz gleich auf welchem Erdteil man zufällig geboren wurde. Und ihnen vorleben, dass ein gesunder Zweifel den lautstarken Parteipolitikern genauso wie den akademischen Flüsterern gegenüber für das eigene Überleben stets angesagt ist, statt Abklatschen, chorisches Jubeln und hektisches Banner Wehen. Von aggressiven Geschrei ganz zu schweigen.

27 März

Europa – Meditation Nr. 495

Verluste und Gewinne am Scheideweg 2025 (Teil 1)

Verluste? Wie man’s nimmt. Abnabeln tut weh, klar, aber es ist nötig, um zu sich selbst zu finden. Dieses Bild übertragen auf die symbiotische Beziehung Deutschlands nach dem 2. WK mit den großen Gewinner im Osten wie im Westen, bedeutet eben jetzt: nach dem blauen Wehgeschrei des übertragenen Embryos muss endlich klar Tisch gemacht werden. Schluss mit dem wehleidigen und schimpfenden Selbstgespräch! Und genauso gilt das auch nach dem rot und schwarz blubbernden Kaugummi-Gestammel des fettleibigen Coca-Cola-Rülpsers. Schluss mit dem übereifrigen und vorauseilenden Gehorsam!

Was da endlich in Mitteleuropa in die Mottenkammer gehört, ist nichts als Wortkaskaden von scheinheiliger Bruderliebe und bigottem Gesundbeten mittels Wachstum und uferloser Bereicherungsorgien. Beides sind mörderische Sackgassen, die nach achtzig Jahren endlich verlassen werden sollten/müssen.

Gewinne? Selbst verantwortlich sein zusammen mit dem Nachbarn und der Nachbarin für ein naturnahes, diverses Leben, das schonend mit dem umgeht, was die Natur uns noch zu bieten hat und nicht auf Übervorteilen und Verdrängen des Nächsten basiert.

Große Worte, in der Tat.

Und am Anfang steht wahrlich nicht der Gewinn, sondern die gemeinsame Arbeit, Reparaturen und Trockenübungen für die nachwachsende Generation: Von klein auf muss den jüngsten vor Augen geführt werden, wie reich und lebenswert dieses Europa in seiner Vielfalt ist und wie sehr es sich lohnt, dafür einzustehen. Gemeinsam. Die alten Vorbilder haben sich als Pappkameraden entpuppt. Und um das zu lernen, müssen die Köpfe wieder frei geschaufelt werden von allzu vielen sinnentleerten Dauerunterhaltungsangeboten, von der Herrschaft der kleinen Geräte über die jungen Seelen und Gehirne, damit sie lernen können, sich selbst denkend und handelnd zu begegnen und nicht mehr nur als klickende Zuschauer und Claquere.

Der gesamte Erziehungsbereich muss deshalb im Zentrum der Aufbruchsstimmung stehen: Nicht Angst vor dem bösen Wolf, sondern Freude an den eigenen Begabungen gilt es zu fördern. Es wäre fatal, jetzt Ängste zu schüren und sich klein zu machen, weil auf anderen Erdteilen Angstmacher das Sagen haben und verrostete Hegemonialphantasien aus dem Schuppen holen.

Zentrale Begriffe müssen in diesem Zusammenhang wirklich verstanden sein, um Europa nicht ein leeres Versprechen sein zu lassen, sondern als weithin sichtbarer Leuchtturm für die neu zu entdeckende Langsamkeit in allem, was das verstörte Tier homo sapiens sapiens braucht, um ein sinnvolles und friedliches Leben leben zu können. (dazu demnächst Teil 2)

All die großen Institutionen – Parteiapparate, Versicherungs- und Bankenkonglomerate – sie entfremden die jungen Menschen nur von sich selbst; ritualisiertes, vierjähriges Wahlkarussell täuscht sie über ihre marginalisierten Rollen nicht länger hinweg. Dagegen wird Teilhabe in kleineren Gremien und Entscheidungsrunden sie in ihrem eigenen Wert bestätigen können und zur Mitarbeit ermuntern.

Der Abgesang der Gesellschaftsmodelle der Vergangenheit darf zügig verklingen, in die Geschichtsbücher wandern, denn die neuen Töne müssen nicht nur von den betrogenen Betrügern, sondern auch von ihren Kindern eingeübt und ausprobiert werden – alle mit dem Rücken an der Wand. Das jedenfalls schafft Klarheit. Lamentieren Zeitverschwendung. Haben wir nicht!

Global stellen sich die alten und neuen Völker neu auf. Alles muss neu verhandeln werden. Das ist in der Tat eine radikale Wende im Selbstverständnis aller, weltweit. Aufregend, weil für einen Moment offen für Neues. Europa sollte sich jetzt zum Pionier machen, nicht zum Follower.

20 März

Europa – Meditation Nr. 494

Friedrich Merz ist nicht Heinrich Brüning.

Klar. Geschichte wiederholt sich nicht. Aber die Akteure darin sind und bleiben sich nachhaltig verwandt. Und das jeweilige Momentum – der Zipfel des glücklichen Zufalls sozusagen – wird immer wieder erst in Nachhinein erkannt, wenn es ungenutzt vorbei getändelt ist.

Schwere See unterdessen, denn von rechts rollen die Brecher immer höher und höher an, von weitem kommen immer mehr Flüchtende – die späten Opfer einer Unterdrückungs- und Ausbeutungsepoche, die seinesgleichen sucht und die den Europäern etwas aus dem Blick geraten scheint. Allerdings sprechen die prächtigen Paläste überall in Europa eine allzu deutliche Sprache, dass dieser Reichtum auf Untaten basiert, die unter die üppigen Teppiche gekehrt wurden. Unterdessen wird höchstens noch von Sachherrschaft gesprochen: Herrschaft der Märkte, Herrschaft der Börsen, Herrschaft der Kartelle und Syndikate. Als wenn nicht hinter all diesen abstrakten wirtschaftlichen Verkehrs- und Rechtsformen konkrete Menschen stünden, die alle auf die eine oder andere Art vom Anhäufen der unglaublichen Gewinne und zahllosen Toten – Kolateralschäden ist das bequeme Totschlagabstraktum dabei – profitierten und weiter profitieren. Pontius Pilatus ist dagegen ein Stümper in seiner Unschuldspose.

Die beiden Milliarden-Pakete, die in dieser Frühlingswoche geschnürt werden, könnten allerdings nicht nur im Innern, sondern auch im globalen Gefälle für markante Schadensbegrenzungs-Aktionen weit mehr sein als bloße Kosmetik: Denn ein lebendiges und quirrliges Mitteleuropa (gute Nacht, schlechte Laune und Nörgelei!), das aus seinem bequemen Dornröschen-Schlaf unsanft von einem Trampel wach geschubst wird, wäre dann erstmals nicht die zu spät kommende Nation, sondern ein Vorreiter flankierender Wirtschaftskraft, die nicht nur den europäischen Nachbarn keine Angst mehr einjagt, sondern sogar darüber hinaus mithilft, global solidarisch mit Hilfe KI-gestützter Verteilungsmuster Hunger und Armut wirkungsvoll zu bekämpfen und Klimaneutralität dynamisch voran zu bringen.

Dass ausgerechnet ein politischer Laie wie Friedrich Merz in diesem Mammut-Projekt federführend sein wird, ist vielleicht nicht nur die Ironie an der Geschichte, sondern auch die sachlich begründbare Notwendigkeit, sich mit wirklichen Kennern der Materie und den internationalen Netzwerken zu umgeben, die nicht machtbesessen sich, den Kanzler und Europa als politische Ego-Spielwiese verstehen, auf der sie unkontrolliert die Fäden ziehen, sondern die für sich und die Völker Europas das Momentum kühn ergreifen wollen, um aus dem Stadium der Utopien in die mühsamen Ebenen der Team-Arbeit und kleinen Schritte zu wechseln.

Heinrich Brüning – genauso wie nicht viel später Roosevelt – hatten diese Visionen auch: der eine scheiterte am parteipolitischen Geschacher und dem Terror der Straße, der andere konnte seinen NEW DEAL durchsetzen und Amerika aus der Unwucht des Börsen-Crashs heraus führen und so auch das Fundament bauen, später die Achse des Bösens niederzuringen.

Auch die zweite Hälfte der zwanziger Jahres des 21. Jahrhundert sollten von Friedrich Merz und seinem Koalitionspartner entschieden genutzt werden, innere und äußere Feinde eines freiheitlichen Europas in die Schranken zu weisen und den Bürgern wieder Zukunftsoptimismus zu ermöglichen.

Für das Seelenleben der Europäer dazu hier der euphorische Aufruf Friedrich Hölderlins aus seiner Ode „Brot und Wein“, dem schon vor mehr als 200 Jahren ebenfalls eine Vision von einem friedlichen Europa vorschwebte: „Siehe! wir sind es, wir; Frucht von Hesperien ists!“