Europa – Meditation Nr. 496

Verluste und Gewinne am Scheideweg (Teil 2)
In seinem neuen schmalen Buch „Die Kriege der Gegenwart…“ liefert sich Joschka Fischer ein munteres Gefecht mit seinen eigenen Begrifflichkeiten, die folgsam den vertrauten Klickklacks folgen und somit so beruhigend folgerichtig klingen: Geopolitik, Weltordnung (!) – die es doch nur in der Einbildung geben kann – bipolare Blockkonfrontationen, geopolitische Hauptachse, Retro-Zeit, Isolationismus, Neonationalismus, (wie ein Sisyphus-Unterfangen ist diese Begriffshalde unnachgiebig ungehalten abzuräumen), Zweiteilung der Welt in Demokratien und Autokratien, neues Zeitalter, geprägt von der künstlichen Intelligenz…“Ohne Ordnung, im Chaos der Rivalität mehrerer Großmächte und deren widerstreitender Interessen, Wertesysteme und irrationalen Ambitionen…“ (S. 22).
Der Alt-68-er gefällt sich hier als scheinbar weiser Alt-Politiker, der in der Stille seiner Schreibstube einfach nur fest hält, was aus einer nüchternen Vogelperspektive zum Stande der Dinge einfach mal gesagt werden müsste. Als gäbe es diesen außerplanetarischen, archimedischen Punkt, von wo aus man das Geschehen auf dem blauen Planeten in einer Gesamtschau überblicken könnte, als handele es sich bei den globalen Machenschaften der mächtigen Clans und Geldmengensammler um ein Glasperlenspiel, das man von oben herab interesselos betrachten könnte…als könnten Abstrakta den aufgescheuchten Menschen Zuversicht und Gelassenheit in Aussicht stellen.
Ja, er liefert nicht nur Analysen zu Gegenwart und Vergangenheit, nein, er bietet auch wortreich und so kompetent besorgte Prognosen für die Zukunft.
Abstraktionen-Kaleidoskop eines Wortjongleurs, der mittels der Aura des Elder statesman damit kokettiert, gelassen den Überblick über ein unübersichtliches Welt-Chaos zu verwalten und von seiner Warte aus sorgenvoll, differenziert und kenntnisreich ein Gesamtbild zu entwerfen, das möglichst viele, wenn nicht sogar fast alle, Variablen im Welt-Macht-Spiel vor Augen führt. Und um hinterher staunend über so viel Umsicht, Weitsicht, Durchsicht und Klarsicht sprachlos und dankbar tief durchzuatmen, weil einem endlich mal in einem großen Wurf gesagt wird, was Sache ist.
Das muss den Leser – je nach seiner Herkunft, Bildung und eigener Weltsicht – andächtig erschauern lassen, abnicken lassen oder völlig ratlos zurücklassen, weil man weder die Zeit noch die intellektuellen Werkzeuge parat hat, mit denen man solch einem Rundumschlag/Blick kritisch begegnen könnte.
Oder sollte man es auf einer Gewinne/Verluste-Skala nicht eher als allzu leichtfertiges Großpuzzle ansehen, das zwar schön und ordentlich anzuschauen ist, das aber lauter Puzzleteile (Abstrakta) nur in ein Gesamtbild zwängt, das so in der Wirklichkeit weder in der Vergangenheit, der Gegenwart oder auch für die Zukunft Anspruch auf Wirklichkeitsabbildung haben kann.
Es sei nur daran erinnert, wie „überrascht“ die Menschen in Europa waren, als im Sommer 1939 plötzlich Krieg war, als im Herbst 1989 plötzlich das Gorbatschow-“Wunder“ geschah und als plötzlich 2024 ein Rumpelstilzchen entgegen den Prognosen einen klaren Wahlsieg nach Hause fuhr! Über Nacht fielen vertraute Denkmodelle wie Kartenhäuser in sich zusammen. Und als gerade im Gaza Palästinenser gegen die Hamas protestierten. Die Medien – dahinter lauter kompetente Denker der jeweiligen Szenerien – hatten so was von falsch gelegen, obwohl sie doch nur dem klaren Verstand vertraut hatten.
Wie war das möglich, fragen sich dann im Nachhinein die Kenner genauso wie die Zuschauer?
Vielleicht sollte man stattdessen einfach kleinere Brötchen backen, im Alltag vor allem den eigenen Kindern gegenüber einen glaubhaften, kleinschrittigen Weg weisen durch die Fährnisse dieses Chaos, das die Natur uns Tag für Tag und Nacht für Nacht gratis frei Haus inszeniert, ganz gleich auf welchem Erdteil man zufällig geboren wurde. Und ihnen vorleben, dass ein gesunder Zweifel den lautstarken Parteipolitikern genauso wie den akademischen Flüsterern gegenüber für das eigene Überleben stets angesagt ist, statt Abklatschen, chorisches Jubeln und hektisches Banner Wehen. Von aggressiven Geschrei ganz zu schweigen.