Vom Gerücht zum Gericht. Europa, die starke Frau an der Spitze (Teil III)
Tief hängende Regenwolken wandern behäbig über die alte Insel, die unter der Anspannung des Tages fast zu zittern scheint. War aber nur eines der vielen kleinen Erdbeben, das die strengen Götter den Kretern immer wieder zumuten. Doch heute – die Hohepriesterin Chandaraissa hatte schon früh am Morgen mit ihren Priesterinnen zur großen Göttin im Tempel gebetet und gesungen und um Beistand gefleht – heute geht es um den heiklen Prozess, den Europa als Klägerin gegen den Rat der Alten einberufen hat: Hochverratsversuch gegen den Palast, gegen sie und ihre Söhne, die designierten Nachfolger des Minos von Kreta.
Gromdas, der Ratsherr, hatte mit
seinem Geständnis dieses Verfahren mutwillig angestoßen. Er wollte
damit sich selbst aus der Schlinge befreien, aber er hatte Europa
unterschätzt. Und so sitzt er nun mit den anderen Ratsherren auf der
langen Anklagebank. Viel Volk ist heute morgen zusammen gekommen: es
gibt Gerüchte, wie das Urteil ausfallen könnte. Da will man nichts
verpassen.
„Da die Ratsherren auf die
Anschuldigungen mit Schweigen antworten, gilt das Geständnis des
Ratsherrn Gromdas als Beweis für die Täterschaft aller sechs
Angeklagten – Sardonios, der siebte Ratsherr, der ja weiter in
Untersuchungshaft sitzt, ist als einziger aus der Anklage
ausgenommen. Ich frage nun jeden von ihnen, ob sie sich für schuldig
bekennen.“
Europa, die den Vorsitz bei diesem
unerhörten Tribunal inne hat, spricht mit fester Stimme, langsam und
in scharfem Ton. Es ist leichenstill im Saal, alle starren jetzt in
Richtung der Angeklagten. Werden sie sich schuldig bekennen oder
werden sie es verneinen? Man weiß, was mit ihnen passieren wird,
wenn sie schuldig gesprochen werden. Alle. Alle? Das ist den
Zuhörern aber einfach unvorstellbar. Der gesamte Rat der Alten
hingerichtet? Nur die Raben oben am Gesims des Dachgebälks scheint
das nicht aufzuregen. Sie tippeln tänzelnd da oben hin und her,
flattern kurz auf, landen wieder elegant auf ihrem Balken und blicken
neugierig auf die vielköpfige Versammlung da unten.
„Ich frage Berberdus, den
Vorsitzenden des Rates, bekennst du deine Mitschuld – ja oder
nein?“ fragt Europa. Berberdus schweigt, dann erhebt er sich,
blickt Europa zornig tief ein und ausatmend an und sagt dann nur:
„Nein, nicht schuldig.“ Stolz setzt sich Berberdus wieder hin,
seine Hände gefesselt auf dem Rücken zusammen gebunden. Ein Raunen
geht durch die Reihen, die Raben stört es scheinbar nicht.“Ich
frage den Ratsherrn Zygmontis: Bekennst du deine Mitschuld – ja
oder nein?“ Die anderen Ratsherren schauen ihn lauernd an. Wird er
es zugeben? Wird er ihnen in den Rücken fallen? Er erhebt sich
mühsam, sein Bauchumfang macht ihm wohl zu schaffen: „Nein, nicht
schuldig!“ und setzt sich ächzend wieder hin. „Dann frage ich
Keltberias, Bekennst du deine Mitschuld – ja oder nein?“ Europa
sitzt auf dem erhöhten Podium in der Mitte – zu beiden Seiten von
ihr die Schreiber und hinter ihr in der zweiten Reihe Chandaraissa,
Athanama und ihre beiden Söhne Sadamanthys und Parsephon – und ihr
Gesicht verrät mit keinem Mienenspiel, was gerade in ihr vorgeht.
Kaltberias erhebt sich, lächelt, als hätte man ihn um eine
Gefälligkeit gebeten, und sagt dann völlig tonlos: „Nein, nicht
schuldig“, setzt sich und schaut grinsend dabei in die starrende
Zuschauermenge, als hätte er gerade den Kretern einen neuen Feiertag
geschenkt. In das erneute Raunen mischen sich auch Töne
unterdrückter Empörung. Was bildet der sich eigentlich ein? Gut,
dass es ihm an den Kragen geht. Doch da spricht Europa schon den
nächsten Angeklagten an: „Collchades, bekennst du deine Mitschuld
– ja oder nein?“ Der schüttelt nur mit dem Kopf, steht nicht
einmal auf, sondern faucht gewissermaßen seine Antwort Europa
entgegen: „Natürlich nicht schuldig, was denn sonst!“ und
blickt dabei seine Ratskollegen Mann für Mann selbstsicher und
scheinbar völlig gelassen an. Die würden ihm jetzt wohl gerne
Beifall klatschen, aber ihre Hände sind ja gefesselt auf dem Rücken.
Im Saal kickt allmählich die Stimmung: aus der Erwartungsspannung
wird nun nach und nach eine unterschwellige Feindseligkeit, die sich
kaum mehr unterdrücken lässt. „Pallnemvus“ ruft Europa den
nächsten Ratsherren auf, den reichsten Mann auf der Insel,
„Pallnemvus, bekennst du deine Mitschuld – ja oder nein?“
Forsch steht
S e i t e 2
Pallnemvus auf, er möchte auf
keinen Fall irgendeine Schwäche zeigen, er ist reich und
einflussreich, er glaubt immer noch an eine Wendung zum Guten, will
aber in diesem Augenblick seinen Ratskollegen nicht in den Rücken
fallen: „Nein, nicht schuldig“, sagt er scheinbar völlig
gleichgültig und setzt sich wieder, als stünde nichts auf dem
Spiel. Europa nickt ihm hinterher. Natürlich haben sich die alten
Männer abgesprochen, sie hoffen, dass ihre gleichlautenden Antworten
Eindruck machen werden, denkt sie kopfschüttelnd. Was für ein
Augenblick in der Geschichte dieser Insel, was für ein Moment für
mich und meine Söhne. Archaikos, mein viel zu früh verstorbener
Mann, soll mit uns zufrieden sein. Den Minos von Kreta darf man nicht
ungestraft herausfordern. So fährt sie in aller Ruhe und
Entschiedenheit einfach fort: „Ich frage auch dich, Gromdas, der
die Tat gestanden hat: Bekennst du deine Mitschuld – ja oder nein?“
Er hatte sich lange überlegt, was er sagen wollte, hatte sich eine
flammende Verteidigungsrede ausgedacht und legt nun so richtig los:
„Hohes Gericht, ich habe…“ Aber weiter kommt er nicht.
Chandaraissa, die Hohepriesterin, fährt ihm dazwischen: „Ratsherr
Gromdas, du hast hier als Angeklagter keine Rederecht mehr. Es ist
alles gesagt. Antworte einfach auf Europas einfache Frage mit ja oder
mit nein!“ Dieser Einwurf trifft ihn völlig unvorbereitet, damit
hat er ganz und gar nicht gerechnet. Zumal er immer gedacht hatte,
gerade die Hohepriesterin sei ihm besonders gewogen. Was für ein
Irrtum! Er schluckt, atmet kurz und heftig, schluckt erneut und hört
sich selbst dann nur noch tonlos erwidern: „Nein, nicht schuldig!“
Fast fällt er rücklings auf die harte Bank, auf der die Angeklagten
nebeneinander sitzen, so schwindlig ist ihm plötzlich geworden. Im
Saal steigt unterdessen die Spannung. Alle erwarten nun den
Urteilsspruch. Europa erhebt sich, schaut kurz zu Chandaraissa,
räuspert sich leise und verkündet dann Folgendes: „Den
heimtückischen Anschlagsversuch der Ratsherren, denen das
Wohlergehen Kretas vor allen anderen am Herzen liegen sollte, müssen
wir in aller Strenge bestrafen. Aus alten Texten wissen wir, dass auf
Hochverrat die Todesstrafe steht – durch Erhängen oder als Fraß
für den Minotaurus. Wir haben uns für das Zweitere entschieden.“
Ein Schrei der Zustimmung brandet
unkontrolliert durch die Halle, die Raben schrecken hoch, fliegen
durch die weiten Luftlöcher im Giebel des Saals und beginnen
ebenfalls ein grässliches Gekrächze. Die Ratsherren können es
nicht fassen. Es muss ein Albtraum sein, es kann nicht wahr sein,
nein. Leichenblass sitzen die gefesselten alten Männer auf der
Anklagebank, ihnen dämmert, dass sie gerade etwas erleben, dass
wirklich passiert, dass ihnen passiert, ihnen den ehrwürdigen und
mächtigen Männern neben dem Minos von Kreta, ihnen steht der Tod
vor Augen, jetzt. Da erhebt sich Chandaraissa, die Hohepriesterin,
stellt sich an Europas Seite, bittet mit beschwichtigenden Gesten um
Ruhe, flüstert Europa etwas ins Ohr. Die nickt fast unmerklich und
bittet ebenfalls die aufgebrachte Zuschauerschar um Ruhe. Nach und
nach kehrt wieder eine eigenartige Stille ein. Was kommt denn da noch
hinterher, nach diesem Geflüster der beiden mächtigen Frauen? Was
planen sie denn noch? Da ergreift Chandaraissa das Wort:
„Im Sinne unserer großen Göttin,
der jede Form von Gewalt zuwider ist, möchten wir nicht in der
Erzählung der Inselgeschichte eingehen als die Frauen, die sechs
alte Männer töten ließen, obwohl sie es verdient haben. In alten
Texten, die ich in unserer Tempelbibliothek gefunden habe, ist
aufgeschrieben, dass ein solches Urteil auch im Sinne des Minos
umgeschrieben werden kann.“
Da kommt wieder heftige Bewegung in
die Zuhörerschaft, auch die Ratsherren trauen ihren Ohren nicht:
Werden sie doch noch frei kommen, wird ihnen vergeben werden, wird…?
„Statt des Todes durch den
Minotaurus sollen die sechs Männer in den unterirdischen Gewölbe
Dienst tun täglich am Minotaurus mit Füttern und Pflege – bis zu
ihrem Tod werden sie aber dieses Gewölbe nie mehr verlassen. Er wird
ihr Kerker auf Lebenszeit sein.“
Chandaraissa hatte mit
wohlklingender Stimme diese Änderung des Urteilsspruchs verkündet.
Europa willigt nickend ein. Die Zuhörer klatschen Beifall, lang
anhaltenden Beifall. Die Ratsherren erstarren: Das ist schlimmer als
der Tod, das ist maßlos, grausam. Aber es wird ihr Schicksal sein.