Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 6
Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 6
„Wo bist du jetzt?“ fragt Europa im Halbschlaf den Fremden vom Strand. „Ich erwarte dich bei Neumond an derselben Stelle.“ Wer hat es gesagt? Er oder sie? Europa hat arge Bauchschmerzen. Der Geschmack im Mund ist bitter, die Zunge pelzig. Meine liebe Amme, du hast mir schon wieder das Leben gerettet. Wie kann ich das nur wieder gut machen? So geht es ihr durch den Kopf. Tränen der Dankbarkeit laufen aus den Augenwinkeln die Schläfen hinab. Aber schon wieder denkt sie an den Fremden. Sollte ich der Amme von ihm erzählen? Ja, Europa will es tun. Ihre Amme hat es verdient, es auch zu wissen. Sie wird sowieso schweigen wie ein Grab. Wie schon immer. Europa muss schmunzeln. Wie oft hatten sie schon die Königin und den König mit kleinen und größeren Notlügen hinters Licht geführt! Ihr kann ich alles erzählen, alles. Auch den Alptraum, den sie neulich hatte, muss sie ihr verraten: Da war dieser Riese plötzlich vor ihr gestanden, der einen Nacken hatte wie ein Stier. Er hatte sie entführt, gewaltsam. Sie hatte zu schreien versucht. Hatte aber keinen Ton herausbekommen. Er grunzte wie ein Tier, lief mit riesigen Schritten, und sie hatte er sich einfach über die Schulter geworfen. Kopf nach unten, Füßen nach oben. Sie hatte solche Angst gehabt. Schweiß gebadet war sie aufgewacht, schwer atmend.
Da öffnet sich die Tür. Ah, die Amme ist schon zurück, freut sich Europa und schließt zufrieden, aber auch erschöpft die Augen. Als sie sie wieder öffnet, atmet sie heftig und erschrocken ein: Ihr Vater, nicht die Amme steht an ihrem niedrigen Bett. Doch er lächelt, also keine neue Strafpredigt. Europa ist erleichtert. „Vater“, flüstert sie, „es geht mir gut, mach dir keine Sorgen.“ Agenor grinst gönnerisch. „Deine Mutter hat mir schon Bescheid gesagt. Du siehst so blass aus, mein Kind.“ „Ich weiß auch nicht, was es ist.“ Der König setzt sich auf den Bettrand, nimmt die Hand seiner Tochter und streichelt sie sanft. Dann will er es ihr endlich sagen. Die große Überraschung, die er sich ausgedacht hat. Sein besonderes Hochzeitsgeschenk für Europa und ihren königlichen Bräutigam. „Hör zu, meine Liebe, da du ja bald auch Königin sein wirst, muss ich als der Vater der Braut natürlich zeigen, dass du aus reichem Hause kommst.“ Europa hört gar nicht zu. Es geht sie ja auch nichts mehr an, denn sie wird nicht Königin werden, sie wird mit dem Fremden in die Fremde fliehen. „Hörst du mir überhaupt zu?“, so spricht ihr Vater weiter. Sie nickt kaum. „Also gut: Zwölf Stiere, eine ganze Ziegenherde und zwölf Esel und als Krönung ein Pantherpaar! Na, was sagst du dazu?“ fragt er mit Stolz geschwellter Brust. „Wie kommst du denn darauf?“ flüstert Europa schwach. Sie will sich lieber gebrechlicher stellen als sie wirklich ist. Das ist im Augenblick ihr einziger Schutz. „Nun, ich hatte neulich einen Traum. Da erschien mir ein junger, wirklich sehr gut aussehender Mann auf einem Efeu geschmückten Wagen, der von zwölf Stieren gezogen wurde, zu beiden Seiten ritten zwölf Paladine auf zwölf Eseln, drumherum zahllose Ziegen und neben ihm thronten mit finsterer Miene zwei Panther. Das muss dein Bräutigam gewesen sein, dachte ich im Aufwachen. Dem soll ich wohl diesen Prachtzug mit Tieren schenken, war demnach die Botschaft. Heute Abend – leider kannst du ja nicht dabei sein – werde ich meine Geschenke den Gästen vorführen. Die werden staunen!“ Europa versuchte ein kleines Lächeln. „Gut, ich muss los. Deine Mutter wird auch gleich erscheinen, um nach dir zu schauen.“ Und schon war er wieder weg. Die Mutter? Wieso die Mutter? Wo bleibt meine Amme, die gute? Wenn sie gewusst hätte, dass ihre Amme nie mehr kommen würde, vielleicht hätten dann das Entsetzen und die Schmerzen sie so überwältigt, dass ihre Träume von einem neuen Leben in einer ganz anderen Welt mit einem wunderbaren Menschen, dem Fremden, in nichts zerronnen wären. So aber blieb ihr noch etwas Zeit, wieder zu Kräften zu kommen, sich auf den Besuch der herrischen Mutter vorzubereiten.