31 Mrz

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 12

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 12

Eine echte Herausforderung. Endlich einmal eine Frau, die nicht nur Frau ist, sondern auch noch schlau dazu, hätte man oben im Olymp den Göttervater schmunzeln sehen können. „Was grinst du so komisch?“ fragt auch schon sein Frau und reißt ihn aus den schönsten Träumen. „Ich? Ach, ich habe mir nur gerade vorgestellt, war Hades für Augen machen wird, wenn ich bei ihm in der Unterwelt so einfach ohne Anmeldung auftauche.“ „Der, der wird ganz schön sauer auf dich sein“, antwortet Hera ohne Umschweife, „der hat wohl noch die eine oder andere Rechnung mit dir offen.“ „Nicht mein Problem“, kontert Zeus, der eigentlich verärgert ist, weil seine Frau ihn aus seinem schönen Tagtraum mit Europa gerissen hat. „Was treiben eigentlich Apoll und Artemis im Moment, ich habe sie jetzt schon eine ganze Weile nicht gesehen?“ Vielleicht ist ein weiterer Themenwechsel gut, sie loszuwerden, denkt er genervt. „Höre ich da so etwas wie Kritik im Hintergrund bei deiner Frage?“ bellt Hera gleich hinterher. Zeus ist nun nur noch mehr genervt. Er hat wirklich keine Lust, jetzt mit seiner Frau zu streiten, das ist einfach zu mühsam, sie will immer das letzte Wort behalten. Soll sie doch. „Aber nein, meine Liebe“, säuselt er zurück, schließt die Augen und tut so, als sei er eingenickt. Hera wird jetzt sicher schauen wollen, was Apoll und Artemis denn wirklich treiben. Im Grunde wundert sie sich nämlich auch, wo die beiden stecken.

So hat Zeus seine Ruhe und kann wieder in aller Ruhe an das kommende Wochenende denken. An Europa! Ein Floß, ja, ich werde sie mit einem Floß abholen, aus erlesenen Zedernstämmen, das wird der Prinzessin aus Phönizien sicher imponieren. Das ist sein nächster Gedanke. Zeus findet ihn wie immer genial. Und ein weiterer fliegt ihm gleich hinterher (wenn er erst einmal mit Denken in Fahrt gerät, ist er kaum mehr zu halten!): Wenn ich Europa so mit ihren Eltern streiten höre, wird mir natürlich auch klar, dass ich vorsichtig sein muss – die vertrauten Muster sollte ich wohl besser zu Hause lassen. Ich werde sicher mehr mit einfühlendem und weichem Ton punkten als mit herrischem und strengem Gehabe. Also als ein junger Mann werde ich vor ihr erscheinen und sprechen, der in mir all das sehen kann, was sie an ihrem Vater und zukünftigen Gatten alles so gar nicht schätzt. Dann wird sie mich großartig finden, und ich muss mich auch gar nicht erst groß anstrengen. Zeus ist geradezu überwältigt von seinem Ideenreichtum und sieht sich schon als großer Gewinner im neuen Abenteuer.

Im Königspalast an den Gestaden Phöniziens ist wieder der Alltag eingekehrt, so jedenfalls sieht es aus: Die Brautwerber wieder nüchtern und zur Abreise bereit, die Geschenke des Königs schon unterwegs ins Land der zwei großen Ströme – schließlich werden die Tiere nicht so schnell mit ihren Treibern und Trägern vorankommen, wie die restliche Karawane. Der Festsaal ist ausgekehrt und menschenleer, der König auf der Jagd, die Königin mit Kopfschmerzen in ihren Gemächern. Niemand soll sie stören. Und Europa? Die Braut ist von ihrem Vater aufgefordert worden, alles, was sie mitnehmen möchte, in große Kisten verpacken zu lassen – ganz gleich ob es Kleider, Geschenke, Möbel oder Geschmeide sind – alles einfach. Ihr Vater will mit seiner Großzügigkeit seine Tochter bestechen. Er möchte sich nicht im Streit von ihr verabschieden. Das rührt Europa. Aber es ändert nichts an ihren Plänen. Im Gegenteil. Sie wird nur alle in der Gewissheit wiegen, dass sie vollständig hinter den Heiratsplänen der Eltern steht, in dem sie alles packen lässt, so wie es der Vater wünscht. Keiner wird Verdacht schöpfen. Traurig nur, dass sie nun mit niemanden ihren Plan teilen kann, jetzt, wo die Amme tot ist. Jeden Tag betet Europa im Tempel für sie, jeden Tag. Und jeden Tag hofft sie auf die Hilfe der Göttin, dass ihre Flucht gelingen möge, dass der Fremde auch wirklich – wie verabredet – am übernächsten Tag erscheint, um sie abzuholen, mitzunehmen, wohin auch immer. Nur weg von zu Hause. Nur weg aus dieser festgefügten Welt aus Angst, Gewalt und Schrecken, in der selbst die Eltern ihre Kinder meinen quälen zu müssen, um ihnen zu ihrem wahren Glück zu verhelfen. Europa kann nur verächtlich darüber lachen. Das ist nicht ihre Welt. Und sie fühlt sich ganz sicher, dass sie dabei ist, in eine aufzubrechen, in der Lebensfreude, Liebe, Leidenschaft und Wohlwollen das Leben der Menschen bestimmen wird. Sie weiß nicht, wo das sein wird und wer das ist, mit dem sie es wagen wird. Aber sie wird es wagen. Übermorgen schon.

31 Mrz

Europa – Meditation # 12

Europa – Meditation # 12 VÖLLIG VERMESSEN

VARIANTE I

Immer dann – aber eben auch nur dann – wenn aus heiterstem Himmel das schier Unwahrscheinlichste uns – durch so viele Versicherungen abgesicherten Klugplanern – widerfährt, trifft es uns bis ins Mark. Denn dann ist es wieder da, dieses: Es kann nicht sein, was nicht sein darf! Weil wir doch Vorsorge getroffen haben, weil wir Risiko-Abwägungen austariert haben, weil wir Werkzeuge erfunden haben, die gefährliche Prozesse beherrschbar machen. Was haben wir nicht alles für bewunderungswürdige Anstrengungen unternommen – seit den Tagen eines Descartes und der vielen aufklärerischen Denker nach ihm – , was ist uns nicht alles schon gelungen seit dem unseligen Dreißigjährigen Krieg, der so sinnlos und widerlich und auch noch mit religiösen Vorzeichen so vielen, vielen Menschen in Europa das Leben kostete! Eine beispiellose Karriere unserer Verstandeskräfte, eine steile Karriere sich immer wieder überbietender Rationalität. Gut, es gab auch Rückschläge, sicher die Titanic galt als unsinkbar, in der Tat wollte man nach 1919 einen Völkerbund gründen, der alle internationalen Konflikte über Verhandlungen lösen sollte…Schon wahr. Doch auch die Rückschläge machte uns nicht kleinmütig, nein, eher noch kühner: Wir müssten eben nur noch intensiver rational nachdenken, die Dinge durchdringen, entschlüsseln, um sie dann zu beherrschen, um sie unter Kontrolle zu haben. Krisen, Kriege, Krankheiten, ja, vielleicht sogar in globalem Maßstab. So schwärmten wir Europäer aus in die Welt, allen die frohe Botschaft dieser rationalen Weltsicht zu verkünden, allen, die guten Willens sind. Und waren wir nicht erfolgreich? Gut, die Verlierer dieses Prozesses hatten nicht die Chance, ihren Untergang zu dokumentieren, das haben wir gleich miterledigt. Klar. Aber auf lange Sicht war es doch eine rationale Erfolgsgeschichte. So kartierten wir die Welt, im Vermessen von dem, was in, unter und über der Erdkruste zu vermessen war, sind wir zweifellos Weltmeister. Das gibt ein gutes Gefühl von Wissen und damit von Sicherheit. Und einmal begonnen, ist es bis zur völligen Vermessung der Welt gar nicht mehr so weit. Schließlich haben wir es ja auch schon geschafft, uns alle – wie in einer luftigen Wolke schier schwerelos – miteinander zu vernetzen; jeder kann jetzt mit jedem jederzeit und an jedem Ort in Kontakt treten, der rationale Weltbürger steht vor der Tür und bittet freundlich um Einlass. Und das Tollste dabei: Er kennt uns bereits, alle unsere Daten – vom Blutdruck bis zur Urlaubsvorliebe – alles trägt er abrufbereit bei sich, wir müssen ihm gar nichts mehr erklären, er weiß es längst, wir sind also geborgen, weil nichts mehr im Verborgenen uns überraschen könnte. Wie lauter kleine Zauberlehrlinge, so laufen wir jauchzend mit unseren kleinen Zauberstäbchen durch unsere kleine Wohnung, vergnügt, gut unterhalten, mit allen in Kontakt, wann immer ich will. Angst und Einsamkeit waren gestern. Friede, Sicherheit und Glück sind vielleicht schon morgen. Weil eben jeder mit jedem völlig vermessen ist.

VARIANTE II VÖLLIG VERMESSEN

Immer dann – aber eben auch nur dann – wenn aus heiterstem Himmel das schier Unwahrscheinlichste uns – von so vielen Gefühlen Tag und Nacht getriebenen Wesen – widerfährt, geraten wir ins Nachdenken: Könnte es sein, dass wir – wie kleine mutwillige Kinder – einfach starrköpfig auf dem einmal gefundenen Zaubersatz beharren und alle anderen niederschreien; so lange, bis denen eben die Luft ausgeht im Widersprechen, und wir dann meinen sagen zu können: Seht ihr, jetzt seid ihr still, also hatte ich doch recht oder? Aber wenn es dann erst einmal so richtig still um einen geworden ist – die sogenannten Freunde haben sich längst aus dem Staube gemacht, weil sie keine Lust mehr hatten auf dein besserwisserisches Geschrei – dann kann es schon sein, dass das eigene Zauberzelt in sich zusammensackt wie ein Luftballon, dem ein Hornissenstich den Garaus gemacht hat. Und dann? Dann kommen die Zweifel. Zweifel an dem unablässigen Ausrechnen der sogenannten Fakten, Zweifel an der Macht der Rationalität, weil man sich selber – als Europäer, der auf eine fatale Geschichte dieser Rationalität zurückschauen kann – ratlos vor sich selber und dem Rest der Welt stehen sieht – Artisten in der Zirkuskuppel ratlos, gewissermaßen. Nehmen wir als Beispiel doch einfach einmal so ein schlichtes und inzwischen geläufiges Wort wie Chemotherapie. Wie viel Hoffnung soll damit verbunden werden, wie viel Lebenszuversicht! Und wie verändert das Diktat eines solchen Hoffnungsträgers doch den Kandidaten. Der eine und andere kommt mit ohne Haare davon, die meisten aber versinken in einem Meer von Schmerzen, Gram, Angst und Schrecken – vor den Helfern genauso wie vor des Schicksals unerbittlichem Takt. Überleben sie dennoch, sind sie Gezeichnete und müssen herhalten für die frohe Botschaft der Beherrschung der Natur durch den Menschen – im Gewand des Wissenschaftlers. Geburt und Tod, die beiden wollen sich einfach nicht kontrollieren lassen. Ärgerlich. Der Nachdenkliche wird hier zum dem, der zögert, der verharrt, hineinhören möchte in die leisen Stimmen in ihm selbst, die er sich nicht erklären kann, auf die er aber gerne hören möchte. Sie ertönen ihm manchmal im Traum, manchmal in einem deja-vu – Erlebnis, manchmal in einem spontanen Einfall aus heiterstem Himmel. Aber allen ist eines gemeinsam: Sie fügen sich nicht in die scheinbar frohe Botschaft vom völligen Vermessen und dem damit scheinbar gewonnenen Krieg gegen Krankheit, Fehlerhaftigkeit, Schwäche und Tod. Sie stimmen vielmehr ein Gegenlied an: Wir haben uns völlig vermessen und dabei die Sicht auf die Dinge darunter vergessen, hin zu dem, was eben nicht messbar ist, ja sogar ahnend, dass das Meiste nicht messbar ist, so sehr es uns Vernünftler auch ärgert. Aber jetzt wird es einem allmählich klar: Nur Kindern sollte man solch eine Dummheit verzeihen, sich selber aber nicht. Wir sollten es durch unsere eigenen Erfahrungen einfach besser wissen und nicht mehr trotzig darauf bestehen, dass es bloß der tränenselige Singsang der ewig Gestrigen ist, die – weil sie auf der Seite der Verlierer stehen, es einfach nicht packen, auf die Erfolgsspur einzuschwenken – da Defätismus predigen wollen. Es sich selbst eingestehen zu können – heutzutage – dass wir Europäer uns mit unserer frohen Botschaft für die ganze Welt völlig vermessen haben, ist der eigentliche Sieg in diesem Kampf um die Deutungshoheit, was das Funktionieren der Natur der Dinge betrifft. So kommt wieder Maß in Denken und Handeln, das maßvoll und in kleinen, bescheidenen Schritten dankbar für jeden Augenblick endlich wieder unser aller Handeln bestimmen sollte.

VARIANTE III VÖLLIG VERMESSEN

In der Antike war dem gebildeten Griechen völlig geläufig – es wurde ihm in fast jedem Theaterstück im Dionysos-Theater am Fuße der Akropolis eindringlich vor Augen geführt: Hochmut kommt vor dem Fall, nur wer hoch steht, kann auch tief fallen. Im Griechischen ist es die Hybris, die diesen Gedanken umkreist: Die Götter dulden es nicht, wenn der Mensch sich auf die Ebene der Götter heben möchte – Prometheus wäre vielleicht das naheliegendste Beispiel in unserem Falle, wenn es um die zwei Wörter – VÖLLIG VERMESSEN – geht. Zweimal ist dieser kurze Stabreim nun schon befragt worden, hier nun folgt der nächste und letzte Streich: Denn dieses scheinbar harmlose Spiel mit Bedeutungen und ihrem Wandel von ganz positiv bis zu ganz negativ – immer in der gleichen Sprachgestalt – hat schon etwas Unheimliches: Macht es uns nicht hier auf kleinstem Raume und am sehr kurzen Beispiel deutlich, was wir so schnell zu vergessen bereit sind? Dass wir immer schon dem Wort die Bedeutung gegeben haben, die wir ihm geben wollen und deshalb unsere Sätze nur zu den Ergebnissen kommen lassen, zu denen sie kommen sollen? Und wenn dem tatsächlich so wäre – und wir können ja bei dieser kleinen harmlosen Zwei-Wort-Anordnung ja einmal so tun, als wenn es tatsächlich so wäre – wäre es dann nicht ratsamer, etwas vorsichtiger, behutsamer, bescheidener beim Argumentieren zu sein, weil ja nicht nur ich, sondern natürlich auch mein Gegenüber mit den gleichen Mitteln kämpft – dem Wort und seinen mutwilligen Bedeutungen, die immer schon festliegen und in gut oder böse, brauchbar oder unsinnig eingeteilt bleiben? Wo wird dann die Wahrheit liegen? Wer beschreibt dann und warum welche Wirklichkeit in wahrhaftigen Worten? Natürlich ist es nicht unbedingt lustig, sich eingestehen zu müssen, dass wir uns in einem Irrgarten befinden und eben nicht in einem Planspiel, das nach nachlesbaren Regeln abläuft. Aber immerhin könnte es bei aller Vorsicht dann auf vernünftigem Wege zu dem günstigen Denk-Ergebnis kommen, dass wir Europäer zwar die Götter längst entthront haben und damit auch Strafe von diesen Götter nicht mehr zu befürchten ist, dass wir aber dummerweise damit das Muster nicht ad absurdum geführt haben, sondern nur die alten Götter durch neue ersetzten. Wie bitte? Wir leben zum Glück doch in eine säkularisierten Welt, Staat und Religion sind sauber von einander getrennt, jeder kann an das glauben, was er für richtig hält. Aber Hybris? Ein antikes Denkmodell, gewissermaßen rührend, weil die Menschen eben einfach noch so viel Angst hatten, damals. Aber heute? Nun, heute – und da springt der moderne Mensch über die selbstgebastelte Hürde der Dialektik – heute sind es nicht einmal mehr die sogenannten Götter in Weiß, die uns strafen werden, nein, die wollen ja sowieso aufgrund ihres hippokratischen Eides nichts als helfen, nein, heute sind es die jungen, dynamischen Leute aus silicon-valley, die uns alle verzaubern, uns Allmachtsgefühle einzuüben helfen (spielend lernen), damit wir wirklich glauben können, wir seien Götter, die sich die Erde endlich untertan gemacht haben – einerseits – die aber unterschlagen, dass dieselben Götter eben auch den eigenen Untergang lustvoll herbeiführen werden; ein großer letzter Auftritt – wie im Theater – ein letztes Spiel, alles auf eine Karte setzend und alles verlierend und noch im Untergang schreiend: vae victis!“

27 Mrz

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 11

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 11

Wie kleine Geister, gespenstisch tanzen die Flämmchen auf tönernen Lampen in den sonst so düsteren Gängen des Palastes. Sie scheinen zu lachen, zu kichern, zu frohlocken. Europa meint mit ihnen sprechen zu können: „Meine lustigen Freunde, was seid ihr so ausgelassen? Was habt ihr erlebt? Sagt es mir, bitte!“ Keine Antwort. Sie scheinen mich nicht zu bemerken. Schade. Da steht sie vor dem hohen Saal, wo die Fremden gefeiert haben. Die Flügeltüren weit offen. Eigenartige Geräusche dringen heraus. Es riecht nach Schweiß, nach verbranntem Holz, nach Weihrauch. Europa wirft einen Blick in den großen Raum. Das Feuer, das mittendrin den gesamten Abend über gebrannt hat, ist zu einem kleinen Berg glühender Asche geschrumpft. Auf Bänken und Tischen liegen schnarchend die betrunkenen Gäste. Wie in einem Stall voller grunzender Tiere, denkt Europa und wendet sich voller Ekel ab. So fremd kommt ihr jetzt das Vertraute vor. Aber statt gleich zu ihrer Kammer zu eilen, schleicht sie an den Räumen des Königs entlang. Auch hier stehen die Türen sperrangelweit offen. Was für eine Nacht! Licht fällt auf den Gang. Ob der Vater noch wach ist? Vorsichtig wirft sie einen Blick hinein. Gerade steht er vor der gegenüberliegenden Wand und schlägt mit der Faust auf den glatten Stein. Knurrt wie ein Tier. Wendet sich um. Europa erschrickt. Aber ihr Vater hat keine Augen für die Lauscherin, er ist beschäftigt mit sich, mit seiner Wut. Als schaute sie einem Fremden zu, so erlebt sie die Szene. Mit langen, wuchtigen Schritten durchmisst er den Raum, schlägt auf der anderen Seite wieder mit der Faust auf die Wand, schnauft laut und klatscht dann mit beiden Händen gegen die Wand, immer wieder. Da kommen die Bilder zu ihr zurück, wie der Vater die Mutter würgt, sie anschreit, ihr droht. Aber auch von der Zeit, wie sie diesen Vater einst angebetet hat, als wäre er ein Gott. Was für ein Blender, denkt Europa jetzt, was für ein jähzorniges Kind! Lass deine Wut nur an der Wand aus, deine Tochter ist gar nicht mehr beeindruckt. Sie geht jetzt ihren eigenen Weg, Vater! Das ist die Botschaft, die sie ihm lautlos sendet. Sie löst sich aus diesem peinlichen Anblick und eilt weiter. Vorbei an den immer noch tanzenden und lachenden kleinen Geistern zu beiden Seiten der Gänge. Niemand begegnet ihr.

Aber jemand schaut ihr zu, von weit oben. Er weiß, was sie gerade denkt. Er, den sie den Fremden nennt. Dieser Fremde ist seit ihrer ersten Begegnung am Strand wild begierig, sie wiederzusehen. Und wie furchtlos sie durch diese Nacht schleicht, wie sie ohne jede Angst ihrem Vater zuschaut, das beeindruckt ihn sehr. Jetzt muss er nur noch seiner Familie da oben klar machen, dass er in zwei Tagen unverhofft auf Reisen gehen muss. Aber wohin? Was soll ich meiner Frau sagen? Er kann ja schlecht sagen, er wolle sich mit Europa treffen. Auch so ahnt Hera bestimmt wieder das alte Thema. Ihre Eifersucht ist so anstrengend. Und erst seine kluge Tochter, Athene: Die durchschaut ihn schon lange, aber um des lieben Friedens willen schweigt sie. „Woran denkst du gerade, Blitzeschleuderer?“ fragt da seine Frau. „Ich?“ „Ja, du, wer sonst?“ kommt es bissig zurück. „Ach, ich denke gerade“, und denkt dabei wirklich wie wild darüber nach, was denn eine gute Ausrede sein könnte für seinen Reiseplan in zwei Tagen. Europa. „Also ich finde, es wäre mal wieder an der Zeit, meinen Brüdern einen kurzen Besuch abzustatten.“ Dabei klopft er sich gewissermaßen selbst stolz auf die eigene Schulter, denn seine Brüder kann sie überhaupt nicht leiden. „Meinetwegen“, hört er sie sagen und kann es kaum fassen. Da kommt Athene auch noch angerannt. „Was, meinetwegen?“ fragt sie neugierig. „Ach, dein Vater will unbedingt seine Brüder besuchen.“ Athene bekommt einen Lachanfall. Ihr Vater spielt den Gekränkten und schmollt. „Wollt ihr zu dritt auf die Jagd gehen?“ kommt es aus dem immer noch kichernden Mund. „Nein, mein liebes dreimal kluges Töchterlein, du wirst es nicht glauben, aber ich will nur kurz vorbeischauen, um die Zusammengehörigkeit der Familie zu pflegen.“ Athene sprachlos. Seit wann ist denn ihr Vater ein Familientier? Aber sie unterlässt eine spöttische Bemerkung dazu. Mutter und Tochter werfen sich vielsagende Blicke zu. Aber er ist erleichtert. Er kann sich aus dem Staube machen. Und schon macht er Pläne: Wie könnte ich diesmal auftauchen? Und als was? Blödsinn, natürlich wieder so wie bei ihrer ersten Begegnung an Phöniziens Gestaden. Und da er weiß, dass sie mit ihm fliehen will, muss er ein Schiff mitbringen. Ein Schiff? Sehr wenig originell. Europa ist so eine besondere Prinzessin, da muss ich schon etwas Ausgefalleneres vorzuweisen haben. Aber was?