Europa – Verraten und verkauft? (Meditation # 40)
Jenseits des Leerlaufs der politischen Ideen und Konzepte in der EU
Schon die Einführung der Sozialen Marktwirtschaft in der BRD nach der Rezession von 1966 war gewissermaßen die Quadratur des Kreises – sie kostete viel Geld, aber die Initiativen des Staates brachten vielen Bildung, Perspektiven, Sicherheit, Wohlstand und dem Binnenmarkt neue Konsumenten. Die Schulden und der Schuldendienst waren die Kehrseite der Medaille. Das scheint nicht nur der Finanzminister vergessen zu haben, nein, auch die scheinbar über die schlecht wirtschaftenden Griechen zu Gericht sitzenden Konsumenten dieser Republik wollen wohl nicht daran erinnert werden. Wie könnten sie sonst so selbstgefällig die notwendige Remedur in Südeuropa kommentieren?
Damals – so um 479 vor unserer Zeitrechnung – hatten sich die Griechen zur Herrschaft des Volkes bekannt und bauten systematisch und gemeinsam das von den Persern zerstörte Land von Grund auf neu wieder auf. Die gemeinsame Verteidigung der Heimat gegen den übermächtigen Feind, der aufopferungsvolle Kampf und der Sieg hatten sie geeint und nachhaltig in einem großen „Wir-Gefühl“ zu einem neuen Lebensgefühl emporgehoben. Auf der Akropolis entstand ein steingewordenes Bilderbuch zu diesem Glauben an sich und an die Götter, das bis heute immer wieder großes Erstaunen erregt: Was für ein Schönheitsideal, was für eine Friedenssehnsucht und was für eine Selbstgewissheit gegenüber dem Fremden wird darin deutlich! Man hatte eine gemeinsame Geschichte, eine gemeinsame Religion und eine vielfältige Handwerker- und Kaufmannschaft. Und um die wachsende Stadt herum Vieh- und Landwirtschaft. Hunger und Not gehörten der Vergangenheit an. Die in überschaubare Stadt- und Wahlbezirke aufgeteilte Bürgerschaft wählte sich ihre Beamten, die auf Zeit die Interessen der Gemeinschaft zum Wohle aller vertreten durften. Wer in dieser Verantwortung versagte, konnte sogar – im sogenannten Scherbengericht – abgewählt werden. Gemeinwohl und Eigensinn fanden in dieser Epoche des friedlichen Zusammenlebens einen glücklichen Ausgleich. Man kannte sich, man verstand sich und man ließ sich gegenseitig gewähren.
Diese Herrschaft des Volkes haben dann die Völker Europas nach und nach in der Moderne wieder aufgegriffen, weiter entwickelt. Bis in die Gegenwart hinein. Das politische Geschäft delegierte man aber an Parteien – die Dinge seien zu kompliziert und zu unüberschaubar geworden für den einzelnen Bürger. So entstanden die großen Parteien in Europa und in Amerika.
Und heute stehen wir am Ende dieser Arbeitsteilung: Die Parteien haben sich verselbständigt, die Bürger fühlen sich ausgeschlossen und nicht mehr in ihrem Sinne vertreten. Die ideologischen Wortgefechte im amerikanischen Repräsentantenhaus haben inzwischen etwas geradezu Archaisches: Als ginge die Welt unter, als käme der Leviathan über das gute Volk, so bekämpfen sich die Parteisoldaten ohne überhaupt noch zuzuhören. Man wartet nur, bis der Gegner ausgeredet hat, um dann seine eigene vernichtende Rede zu halten. Man selbst ist der Gute, der andere der Böse. So schlicht war politischer Parlamentsalltag schon lange nicht mehr. In Mitteleuropa scheinen die Parteien einen anderen Weg gewählt zu haben: Man unterscheidet sich kaum noch von einander, Hauptsache man bleibt weiter an der Machtausübung beteiligt. Der Bürger sucht vergeblich nach überzeugenden Alternativen – zur Ähnlichkeit der verschiedenen Programme scheint es tatsächlich keine Alternative mehr zu geben!
So scheint alles wie ein Kartenhaus in sich zusammen zu stürzen, Fassaden kippen um, Begriffe laufen aus wie umgefallene Flaschen mit verdorbenem Wein. Danach dürstet niemand mehr. Das Weiter Wursteln hat sich ebenfalls verbraucht, die Grexit-Geschichte als unendliche Fortsetzungsballade kann nur noch als Beispiel für diesen Leerlauf der Begriffe, Konzepte und Programme genommen werden. Die Menschen glauben solchen Botschaftern und Botschaften nicht mehr.
Wie die Griechen nach 479 vor unserer Zeitrechnung es uns vorgemacht haben, so könnten es die europäischen Völker nun auch in Angriff nehmen: Nach einem fatalen und langandauernden Feldzug gegen Bodenschätze, Luft und Wasser, gegen eine bedarfsdeckende Wirtschaftsordnung, die zu einer Arbeits- und Perspektivlosigkeit vor allem der jungen Menschen geführt hat, dass nur noch Zynismus und Gewaltbereitschaft unter ihnen das Sagen haben, waren die Europäer ihre eigenen Feinde, die sie bekämpften – da wäre es nun höchste Zeit, im staunenden Erinnern der eigenen Geschichte, Religion und Sprache alles Nivellierende und Hohle mutig über Bord zu werfen und gemeinsam in überschaubaren Verhältnissen das Eigene neu zu denken und zu gestalten.
In der nächsten Meditation dann konkrete Vorschläge, wie dieses Eigene denn jenseits von Medien- und Parteien-Demokratie aussehen könnte und wie die europäischen Völker jenseits der bürokratischen Krake EU ein völlig neues Miteinander organisieren könnten.