13 Aug

Europa – Mythos # 41

Ein Bettler macht den verzagten Frauen Mut

Sarsa hält den Atem an. Was, wenn Nemetos den Rausch nicht überlebt? Ängstlich beugt sie sich über den reglos daliegenden Mann; sie versucht ihn atmen zu hören. Inzwischen ist es so dunkel in der übel riechenden Hütte ihres Zwangsgatten, dass sie ihn kaum noch erkennen kann. Sie meint, ihn atmen zu hören. Erleichtert richtet sie sich wieder auf. Da kommt ihr der rettende Gedanke: Ich muss zu Belarsi, muss wissen, wie es ihr mit Thortys gegangen ist, ob der auch wie tot da liegt. Tastend sucht sie den Ausgang zu finden, stößt mit der Hand heftig gegen die Brettertür. Ein Schmerz fährt ihr durch den Arm. Sie muss sich einen Splitter unter den Fingernagel gerammt haben. Tapfer unterdrückt sie einen Schmerzensschrei. Mit der Zunge sucht sie die Stelle, schmeckt ihr Blut, fühlt den Splitter. Schnell zieht sie ihn mit ihren Vorderzähnen heraus. Glück gehabt. Der eigenartige Geschmack des Blutes gefällt ihr. Vorsichtig späht sie auf die dunkle Gasse. Kein Mensch weit und breit. Schnell schlüpft sie ins Freie. Sie ist völlig verwirrt: Wie soll das weiter gehen? Chandaraissa kann doch nicht Nacht für Nacht dieses Getränk für sie bereit stellen. Sternenhimmel über ihr. Der Anblick beflügelt sie. Als sie aber auf die Hütte von Belursi und Thortys zu schleicht, bleibt sie wie vom Blitz getroffen stehen, hält vor Schreck den Atem an. Da ist eine Gestalt direkt vor ihr.

„Keine Angst, Sarsa, es wird alles gut werden. Ich habe hier ein kleines Geschenk für dich, über das sich deine Freundin Belursi sicher freuen wird. Hier, nimm nur!“

Wie Eisregen prasseln die Fragen auf sie ein, die in ihrem Kopf durcheinander purzeln. Gleichzeitig läuft ihre eine wohltuende Gänsehaut den Rücken herunter. Woher kennt der meinen Namen, wer ist das? Den habe ich noch nie gesehen. Warum habe ich keine Angst, jetzt? Ohne zu zögern, greift sie zu, als der Bettler ihr seine Hand entgegenstreckt. Wie ein warmer Schwindel fegt ein fremdes Gefühl durch ihren Körper, als sie den Stein in ihrer Hand spürt. Glatt, fast in der Form eines kleinen Vogeleis. Kühl fühlt er sich an. Kühl? Wie…? Sarsa ist völlig verwirrt, aber guter Dinge, eigenartigerweise.

„Danke. Wo kommst du her, ich habe dich hier noch nie gesehen? Bist du gerade am Palast angekommen, bist du nicht von der Insel? Was machst du hier in dieser Gasse? Und wie heißt du überhaupt?“

Sarsa wundert sich selbst über ihre Fragen. Aber ihre Neugierde hat ihr Lust gemacht, den Bettler mit Fragen zu überhäufen. Fast hätte sie vergessen, dass sie doch zu Belursi eilen wollte, um zu sehen, ob es der Freundin genauso mit Thortys gegangen ist, wie ihr mit Nemetos. Der Fremde lacht:

„Sysoniod. Geh nur zu Belursi. Sie wartet schon auf dich. Sie sehnt sich sogar nach dir.“

Jetzt wird ihr aber wirklich unheimlich. Sysoniod? Nie gehört. Er kennt auch Belursi? Ist es vielleicht ein Spion von Sardonios, der sie ans Messer liefern soll? Sarsa wirft die Fragen lachend in den Wind. Sie spürt, wie sehr sie sich nach ihrer Freundin sehnt. Im Davonlaufen ruft sie noch leise ein „Danke!“ zu dem eigenartigen Fremden und hastet weiter zur Hütte des Nemetos. Ohne zu zögern öffnet sie das, was wohl die Tür sein soll, erkennt schemenhaft einen Mann, der am Boden liegt und neben ihm Belursi. Kichernd. Da muss sie auch kichern und wirft sich jauchzend auf die Freundin. In der einen Hand hält sie das Geschenk, mit dem sie jetzt Belursi über den Bauch fährt. Da löst sich ein leises Stöhnen aus dem Mund der Freundin.

„Komm!“ flüstert Belursi, „ich habe schon so auf dich gewartet.“

Und bevor Sarsa überhaupt noch etwas lachend erwidern kann, spürt sie die feuchten, weichen Lippen von Belursi auf den eigenen. Inbrünstig erwidert sie diesen lüsternen Kuss und wundert sich, dass ihr dieser Augenblick irgendwie bekannt vorkommt. Hatte sie diese leidenschaftliche Umarmung, in die sie sich nun fallen lassen, schon geträumt oder sogar phantasiert? Und warum ist da auch nicht ein Sandkorn von Angst mit dabei? Warum kann ich das jetzt so genießen? Der Stein, so rund und glatt geformt in ihrer Hand, wandert – als wäre er solcher geheimer Wege längst schon kundig – zwischen ihnen hin und her. Selbst das Bild des Fremden stört sie nicht in ihrem Genuss. Er ist mit dabei. Die beiden können lange nicht mehr von sich lassen, küssen, streicheln und verwöhnen sich mit unsagbaren Zärtlichkeiten. Neben den Liebenden liegt im Dunkeln der betäubte Thortys sabbernd da und weiß nichts von ihrem Glück.

10 Aug

Europa – Mythos # 40

Zeus freut sich zu früh

Wie vom Donner gerührt starren alle im großen Innenhof auf den Minos von Kreta, der gerade seinen Richterspruch gefällt hat. Vor allem die betroffenen Frauen sind sprachlos. Mit so einem Urteil hatten sie nicht gerechnet. Auch die Grummelnden vom Ältestenrat sind überrascht: Einerseits freut es sie, dass die Macht der Männer Wirkung zeigt – schließlich werden zwei jungen Frauen ohne deren Einwilligung zwei gehorsamen Dienern zugesprochen – andererseits hätten sie sich natürlich gewünscht, dass die beiden Verdächtigen – die Hohepriesterin Chandaraissa und diese undurchsichtige Fremde, Europa – dem Stier zum Fraß vorgeführt würden. Schade. Dabei hatte das prächtige Tier eben noch so wohltuend furchterregend gebrüllt. Auch der Herr der Hofhaltung, Sardonios, weiß überhaupt nicht, was er von dieser Entscheidung halten soll: Hat ihn Archaikos durchschaut oder nicht? Er wird sich hüten müssen, jeder weitere Fehler könnte vielleicht sein Ende bedeuten. Denn die Sache mit seinen beiden Spionen ist doch wohl völlig daneben gegangen. Der Hass auf Chandaraissa und Europa aber wächst und wächst weiter.

Überlaut schallt da das plötzliche Flattern der drei Elstern vom Dachgesims herunter: Die drei Brüder sind zufrieden. Der Minos hat es den Frauen so richtig gezeigt. Zeus‘ Rachefeldzug gegen die selbstgefällige Europa und ihre Freundinnen zeigt erste Wirkung; zwar hat es Europa noch nicht direkt selbst erwischt, aber auch so wird sie mit gedemütigt. Im Davonfliegen senden sie den erschrocken nach oben Blickenden noch schrille, gellende Laute hinterher. Es klingt wie ätzende Schadenfreude. Als wollten sie sagen: Seht ihr allzu stolzen Frauen – Hochmut kommt vor dem Fall, schon immer!

Archaikos blickt stolz in die schweigende Runde, dann wendet er sich abrupt zum Gehen und lässt die Zuhörer und Betroffenen ratlos zurück. Er will Europa jetzt nicht in die Augen schauen. Und was sollte dieses Vogelgeschrei da oben? Nichts wie weg! Sarsa und Belursi, die beiden jungen Priesterinnen, die eben noch kichernd durch die Gänge tanzten und sich lüsterne Phantasien gönnten, sind fassungslos. Voller Verzweiflung wenden sie ihre Blicke zu Chandaraissa. Sie ist die einzige, die schon weiter denkt und auch schon einen Plan hat. So lächelt sie ihren beiden Priesterinnen freundlich zu, was sie aber überhaupt nicht verstehen können. Was gibt es denn in so einer Situation zu lächeln? Denn Nemetos und Thortys, denen zentnerweise die Steine vom Herzen gefallen sind, kommen schon mit stolz geschwellter Brust auf sie zu und spielen gleich die kleinen Herren vor ihnen: „Folgt uns zu unseren Häusern, wo ihr zukünftig leben werdet!“ Und in ihren Augen blitzt tierische Lüsternheit auf.

Dummerweise erlauben die zwei Helden ihren neuen Frauen am späten Nachmittag doch tatsächlich noch ein letztes Mal zum Tempel zu gehen, um ihre Kleider und sonstigen Habseligkeiten zu holen. Chandaraissa empfängt sie gleich in ihrer hellen Zelle und eröffnet den beiden auch ohne Umschweife ihren Plan:

„Wir müssen klug sein, dürfen auf keinen Fall erneut den Argwohn des Minos erregen. Deshalb wollen wir sie in Sicherheit wiegen. Lächeln, gehorchen. Das wird sie blind machen für unsere geheimen eigenen Pläne und Entscheidungen.“

Aber, hohe Frau und Herrin, wir werden in dieser Nacht auf ihrem Lager liegen müssen und…“

„Auch daran habe ich gedacht!“

Chandaraissa schmunzelt, und im Flüsterton erfahren Sarsa und Belursi, was sie tun sollen. Unter ihren Kleidern verstecken sie die kleinen Gefäße, die ihnen die Hohepriesterin zusteckt. Die jungen Frauen umarmen sich noch einmal, bevor sie hinter den klappernden Türen der Häuser ihrer Männer verschwinden. Wobei Häuser eher übertrieben ist: Es sind dünnwandige Hütten, fensterlos und mit einem Lüftungsloch im spitz zu laufenden Dach. Es riecht gar nicht gut da drinnen und statt eines Bettes gibt es nur eine alte Strohmatte, auf der sie ihr neuer Herr – Nemetos Sarsi und Thortys Belursi – erwartet. Die Dunkelheit im Raum kommt dem Plan der Frauen sehr entgegen.

Mein Gebieter“, säuselt die eine wie die andere zur gleichen Zeit, „um die Lust zu erhöhen, habe ich mir von der Alten – du weißt, wen ich meine – einen Liebestrank mischen lassen, den sollten wir gleich trinken. Dann wird das Stöhnen gar kein Ende nehmen.“

Die beiden Männer haben noch nie so eine Frau zu sich reden hören. Ihre Erregung erstickt gleich jeden Gedanken an Falschheit oder Verrat. Zitternd und geil führen sie hastig das kleine eigenartig duftende Gefäß an ihre Lippen und stürzen den Zaubertrank der Alten – wie sie gerne glauben –  gierig hinunter. Wie Feuer läuft das Getränk in ihrem Körper bergab. Um etwas Zeit zu gewinnen flüstern die neuen Gattinnen ihren Herren noch etwas ins Ohr: „Warte nur kurz, auch ich will davon trinken, umso größer wird die Lust für uns beide sein!“ Bald liegen die Männer lallend auf ihrem Lager. Tasten ins Leere. Wahnsinnsträume. Dumpfes Vergessen.

07 Aug

Europa – Verraten und verkauft (Meditation # 48)

Moment mal, war da nicht was?

Massenhaft fällt Wasser vom Himmel, reißt große und kleine Autos mit sich wie lästige Spielzeuge, die im Wege stehen.

Ob das nicht zu denken geben sollte?

Ruhelos reiht sich hektisch ein Großereignis an das andere: Autorennen, Fußball, Olympia – und der Sommer brütet über dem Mittelmeer, als gäbe es nur noch ein Hoch nach dem anderen dort. Man liegt eingeölt in der prallen Sonne und arbeitet so fleißig am Ruin der eigenen Haut.

Und alles in Echtzeit mitzuverfolgen. Gänsehaut als Dauerzustand.

Ob das nicht zunehmend mürbe macht?

Dazwischen die inzwischen schon zur Gewohnheit gewordenen Störungen: Schreihälse, die mit der Münze Angst punkten können; Gesundbeter, die als wirkungsvollste Medizin roheste Gewalt anzubieten haben und damit laufend junge Leute für sich zu gewinnen verstehen.

Ob da die vertrauten Feindbilder wirklich weiter helfen?

Und Staaten, die in einem fort am Bankrott vorbei schrabben und die deshalb immer wieder künstlich beatmet werden müssen mit frischem Geld von außerhalb.

Ob das nicht irgendwann auch den unbegabtesten Zeitgenossen in Sachen Zahlen (Da hab ich keine Ahnung!) auf den Gedanken bringen könnte: Läuft da nicht etwas ziemlich falsch in Europa? Schulden scheinbar zu bezahlen, in dem man einen neuen Kredit bekommt, mit dem man die alten Schulden zumindest anfangen soll zu bedienen? Wird die Schuld so nicht immer größer?

Und dann gab es in diesem Sommer auch noch dieses ominöse Zauberwort vom Brexit. Beide Seiten bewarfen sich im Vorfeld mit Befürchtungen und Angstszenarien. Dann kam es so – oder haben wir das schon wieder vergessen? – wie es wohl viele nicht erwartet hatten: Die Anziehungskraft des EU-Gedankens versagte nachhaltig.

Ob das nicht zu denken geben sollte?

Nehmen wir doch einfach einmal eine kleine Region wie Korsika: Als Teil von Frankreich ist diese Insel (seit alters her hat sie den anspruchsvollen Beinamen: Die Schönste) seit Jahren Nutznießer von Geldern aus Brüssel; denn Randregionen sollen ja gefördert werden. Das zeigt Wirkung: Straßen werden ausgebaut – auch in unwegsamem Gelände – eine Universität wird aus der Taufe gehoben, ökologische Großprojekte schützen diese einzigartige Naturlandschaft vor dem Ausverkauf. Die Liste ließe sich leicht fortführen. Aber wo schlägt das Herz der Korsen? Nicht auf Seiten der EU, sondern auf der der Vision einer autonomen Region mit eigener Sprache, Kultur, Musik, Geschichte und Geschichten. Selbstbewusst und stolz sind sie, bei sich selbst, denn ihre wunderschöne Insel ist ein überschaubarer Lebens- und Kulturraum.

Vielleicht sollten die empörten EU-Befürworter einmal diese Insel besuchen, um zu lernen, dass Geld das eine, die gelebte Identität das andere ist – diese ist nicht kaufbar, nur lebbar.

Wenn die EU-Beamten diesen wesentlichen Unterschied zum Herzstück ihrer Europa-Politik machten, wären Regionen und ihr Bestehen auf Eigenständigkeit in Europa kein Klotz am Fuß, sondern unverzichtbare Parameter in einer globalisierten Welt, in der sich die Menschen mehr denn je danach sehnen, ihre eigene Lebenswelt überschauen und selbst gestalten zu können.

Kleiner Vorschlag am Rande: So wie es ein Erasmus-Programm für Studenten in Europa gibt, sollte es auch ein Montaigne-Programm für EU-BEAMTE geben, das besagt, dass jeder im Laufe seiner Brüssel-Karriere die verschiedenen Regionen Europas als Regio-Zivi kennengelernt haben muss, damit der Blick von der Peripherie immer wieder aufs Neue geübt wird, um dann – nach Brüssel zurückgekehrt – mit dieser Blick-Erfahrung kompetente Entscheidungen treffen zu können, die der Autonomie der Regionen weiter hilft – zum Wohle des gesamten Europas.