Europa – Verraten und verkauft? (Meditation # 50)
Nicht nur Europa – als Kontinent – lebt in einer medialen Demokratie; die sogenannte Neue Welt macht es den Europäern schon länger vor, was das eigentlich bedeutet: Nicht mehr und nicht weniger als eine vom Gefühl und Geschmack her gesteuerte Endlosschleifenunterhaltung mit Politikern als Clowns, über die sich die Zuschauer und „gefällt mir“-Wähler lustig machen sollen und auch längst selber wollen. Gleichzeitig arbeitet jeder an seiner eigenen Vorsorge: Mit möglichst geringem Einsatz möglichst großen Gewinn zu erzielen. Tarnen und Täuschen will gelernt und geübt sein dabei. Und das nicht nur auf individueller Ebene, sondern auch auf gesellschaftlicher und internationaler. Das entscheidende Werkzeug hierzu ist für jeden die Redekunst – schon immer. Und bei der Geschwindigkeit, wie heute Neuigkeiten ausgetauscht werden können und sollen, ist es natürlich ratsam, möglichst schnell und möglichst den anderen müde machend die eigenen Wortgirlanden eindrucksvoll durch die Luft flattern zu lassen. So sorgte das letzte Treffen der EU-Polit-Langstreckenredner wieder für ein neues großes Versprechen: „Wir haben die Zeichen der Zeit erkannt, wir versprechen Besserung – die EU lässt sich nicht klein kriegen: Wir (wer ist das eigentlich?) werden unsere Anstrengungen intensivieren – auf allen Ebenen!“
Und nun feiert die Redekunst ein Fest nach dem anderen: Man werde in Zukunft deutlicher und wahrhaftiger mit den Bürgern sprechen, wird vollmundig in Bratislava abschließend mit ernster Miene versprochen. In der Dauerberieselung von Brüssel her konnte man in der letzten Woche dann die Probe aufs Exempel machen. Ein gewisser Herr Oettinger wird gefragt, was er denn von Gisys Rundumkritik in Sachen EU halte. Doch statt darauf zu antworten, beschwert sich Herr Oettinger, der Herr Gisy wäre ja noch nie in Brüssel gewesen. Dort hätte er nämlich dann erleben können, wie ernsthaft und engagiert da für die Sache der Bürger Europas gearbeitet und entschieden wird. So wartet der neugierige Hörer umsonst auf eine fragenbezogene Antwort, Herr Oettinger nutzt stattdessen seine Redezeit vollmundig, um seine frohen Botschaften einer rosigen Zukunft in der EU anzustimmen. Schade. Gut, versuchen wir es mit einem anderen Fest: Man wolle eine roadmap anlegen, wie man gemeinsam nach dem brexit Schritt für Schritt vorgehen sollte. Klingt das nicht erfrischend jugendlich und vorwärts gewandt? Roadmap! Muppet Show? Man werde schon bis März kommenden Jahres (2017) beweisen, wie handlungsfähig die EU sei. Ein schöner Wechsel auf eine unsichere Zukunft, weiter nichts. Aber die Redekunst kann eben auch im Leerlauf wunderbar rasen und schon sind wir beim nächsten Fest: Die derzeitige Migration habe man voll im Blick, man wolle gemeinsam Abhilfe schaffen, indem man die Lasten fair verteile. Aber was heißt da fair, wo sind die fairen Schiedsrichter, wo schauen sie hin? Besser nicht nach Griechenland und Italien, denn da hilft reden längst nicht mehr. Die dort dennoch Tag für Tag helfen wollen, sind die wahren Europäer – sie reden nicht, sie packen an und oft schämen sie sich auch, weil sie mit dem wenigen so wenig helfen können. Aber dennoch lassen sie nicht nach. Noch ein Fest der Redekunst im EU-Gewande gefällig? Man wolle die gemeinsamen Anstrengungen in Sachen Verteidigung verstärken. Die Rüstungsindustrie wird es freuen, aber sonst? Sollten die Zuhörer sich nicht besser gegen solche rhetorischen Raketenabschüsse rüsten? Oder noch besser: Die Jugendarbeitslosigkeit in der EU soll endlich bekämpft werden. Was für ein kriegerisches Vokabular! Seit Jahren schon. Aber den jungen Leuten wird mit Rhetorik eben nicht geholfen. Überhaupt nicht. Im Gegenteil. Entweder geben sie auf oder sie laufen wütend davon. In eine ungewisse Zukunft in der Fremde.