29 Jan

Europa – Mythos # 47

Lügen haben kurze Beine

Hera! Ich bin gerade mal kurz meine Füße vertreten.“

Sie aber bitte zeitig zurück, mein Lieber. Wir haben heute Abend Gäste, wie du hoffentlich weißt!“

Zeus verdreht die Augen und ist froh, dass er sich aus dem olympischen Mief davon schleichen kann. Gäste! Wer hatte sich denn angesagt? Er hat keine Ahnung. Er braucht dringend ungestörte Ruhe, um die nächsten Schritte in Sachen Europa und der gemeinsamen Verabredung mit seinen beiden Brüdern zu überlegen. Da kommt völlig unerwartet Athena herein geplatzt:

Hallo, Papa, gut, dass ich dich gleich antreffe. Ich muss dringend mit dir reden.“

War wohl nichts mit Ruhe. Er kennt seine Tochter, die lässt sich nicht mit fadenscheinigen Ausreden abwimmeln. So seufzt er wohlwollend, legt seinen Arm um ihre Schulter und säuselt los:

Athena, wie freue ich mich, dich zu sehen. Natürlich habe ich alle Zeit des Olymps für dich. Du würdest mich niemals mit Schnickschnack behelligen. Stimmt’s?“

Natürlich nicht, Papa.“

Zeus schwant nichts Gutes. Jedenfalls möchte er auf keinen Fall, dass Hera dabei ist, wenn Athena ihr dringendes Anliegen vorträgt. Er weiß, wie klug seine Tochter ist. Die wird doch nicht etwas von seinem Feldzug gegen die aufsässigen weiblichen Erdlinge mit bekommen haben oder gar etwas von seiner so misslich verlaufenen Anmache der Europa?

Komm, suchen wir uns ein stilles Plätzchen, wo wir ungestört reden können, ja?“

Auch bei Athena keimt ein kleines Missbehagen: So schnell und so bereit? So kennt sie ihren oft eher überforderten Vater gar nicht. Sie will auf der Haut bleiben.

In einer angenehm Schatten spendenden Grotte gleich unter dem Olymp lassen sie sich nieder. Zeus ist erleichtert: Niemand hatte sie wohl gesehen.

Also, ich will gar nicht erst lange um den heißen Brei reden, Papa. Ich komme gerade von den Inseln. Da erzählt man sich eigenartige Sachen: Eine Prinzessin aus Phönizien sei entführt worden. Europa sei ihr Name. Über den Entführer gibt’s die tollsten Gerüchte. Andere wollen wissen, sie sei auf Kreta aufgetaucht…“

Zeus spielt den Empörten:

Nein, also wirklich, was ist denn da unten schon wieder los?“

Papa, jetzt tu nicht so, als wenn du nicht Bescheid wüsstest!“

Ich? Wieso ich?“

Zeus läuft es heiß und kalt den Rücken herauf und herunter. Warum muss ich aber auch so eine vorwitzige Tochter, solch eine Kopfgeburt haben? Womit habe ich das nur verdient? Er kramt all seine schauspielerischen Möglichkeiten zusammen und schaut Athena völlig verblüfft an.

Weißt du was, Papa, vielleicht sollten wir den Frauen da unten überhaupt mehr beistehen. Die Männer nehmen sich einfach zu viel heraus, finde ich. Würdest du mir helfen, wenn ich in die Richtung aktiv würde?“

Zeus traut seinen Ohren kaum: Seine eigene Tochter plant, ihm in den Rücken zu fallen, und will auch noch seine Hilfe dabei. Spielt sie ein doppeltes Spiel? Hades, Poseidon und er haben doch erst neulich einen feierlichen Eid geschworen (natürlich streng geheim!), alles zu tun, was hilft, die Frauen den Männern noch mehr als bisher untertan zu machen – als Rache für die Demütigung, die ihm Europa zugefügt hat. Und jetzt das! Wie komme ich aus dieser Patsche nur wieder heraus, denkt er nervös. Zeus ist nicht so der große Schnelldenker und erst recht nicht so der scharfe Schnelldurchblicker wie seine Tochter Athena. Er muss Zeit gewinnen, ist der einzige klare Gedanke, der ihm spontan kommt. Zeit, er braucht Zeit. Ihm gelingt sogar ein breites Lächeln.

Oho, hört, hört! Athena will die Welt verändern! Was habe ich nicht für eine kluge Tochter! Aber im Ernst, meine Liebe, das ist ja keine Kleinigkeit, die du mir da vorträgst. Das will gut überlegt sein.“

Also kann ich auf dich rechnen, Papa?“

Nein, nein, nein! Hast du nicht zugehört? Das muss sich zuerst einmal setzen. Das muss ich überschlafen, bevor ich zu- oder absage.“

Ich wusste, dass ich mit dir rechnen kann, ich wusste es. Danke, Papa!“

Athena umarmt ihren überrumpelten Vater, tanzt um ihn herum, lacht, klatscht in die Hände und läuft singend davon. Zeus ist am Ende. Wie soll er aus dieser Zwickmühle denn wieder heraus kommen? Und was ist, wenn Athena erfährt, dass er der Entführer war? Und was erst, wenn sie erfährt, dass er einen Rachefeldzug gegen die dreimal kluge Europa und alle anderen Frauen da unten plant? Was mach ich jetzt nur?

Wie ein begossener Pudel erhebt sich stöhnend der alte Obergott und trottet niedergeschlagen zurück zu seiner Gattin, Hera. Vielleicht weiß die ja Rat in dieser verzwickten Angelegenheit. Da fährt ihm der nächste Schrecken in die Glieder:

Nein, das wäre der reinste Wahnsinn, sie einzuweihen! Ich müsste ihr ja gestehen, dass ich Europa…nein, nein, Heras Eifersucht ist so was von furchtbar. Nein, ich muss es mit mir alleine ausmachen. Ich bin hier umgeben von lauter Frauen, die nicht auf meiner Seite stehen. Ist das die Rache des Schicksals für meine geplante Rache an den Frauen da unten?“

Mit hängenden Schultern und bitterem Schmollmund trottet Zeus nach Hause. Es wird ihm alles mal wieder zu viel. Da steht auch schon Hera, seine hehre Gattin, die Arme entschlossen in die Hüften gepresst.

Da bist du ja endlich! Hol mal gleich was Gutes zu trinken, damit sich unsere Gäste auch wohlfühlen. Die müssen nämlich jeden Augenblick da sein.“

Ja, ja, schon gut, wollt ich sowieso gerade machen“, nuschelt er, ohne ihr in die Augen zu schauen.

Ist was, mein Lieber? Du wirkst so niedergeschlagen?“

Ich? Nein, ich bin nur etwas müde.“

Dachte schon, ich müsste mir Sorgen machen.“

Alles gut, alles gut.“

Wenn die wüsste, was ich im Moment für Probleme habe, läuft da sein Denkapparat langsam wieder an. Was sollte ich gerade besorgen? Ach ja, Getränke, richtig. Gute Idee.

Werde meine Sorgen einfach in Nektar und Ambrosia versenken, das hilft immer. Meistens. Manchmal. Ist ja auch egal…“

22 Jan

Europa – Mythos # 46

„Erzähl, erzähl!“

rufen die beiden jungen Frauen, Sarsa und Belursi, ganz aufgeregt durcheinander. Seit Tagen schon glauben sie in einem unaufhörlichen Rausch der Sinne zu leben. Angst, Freude, Lust, Zorn wechseln sich in ihnen ab wie lauter ungebetene Wechselbäder. Im Geäst der uralten Zeder, die gelassen im Innenhof des Tempelbereichs vor sich hin döst, jagen zwei Elstern vor und zurück, als wären sie auf Gedeih und Verderb aneinander gekettet. Heftig wippen sie mit den langen Schwanzfedern, stolzieren elegant über einen breiten Ast und beschimpfen sich dabei lautstark. Die Priesterinnen und Europa schauen ihnen von ihrem Schattenplatz aus begeistert zu. Wenn man doch nur deren Sprache verstünde, denkt Chandaraissa. Sie sind alle bester Stimmung: Ihr Plan ist bisher voll aufgegangen. Der Minos von Kreta scheint besänftigt und hat der Idee eines neuen Tanz-Festes zu Ehren der großen Göttin zugestimmt. Die beiden aufgezwungenen Ehemänner haben nichts mitbekommen von dem Betrug, der sie um ihren Beischlaf mit den frisch vermählten Zwangs-Gattinnen gebracht hat, erzählen Sarsa und Belursi. Die Wächter mit ihren Brummschädeln meinen, es so toll des nachts getrieben zu haben, dass sie vor Liebesgier einfach die Besinnung verloren hätten. Sarsa kann vor Lachen gar nicht mehr weiter erzählen. Belursi prustet hinterher und versucht die Freundin mit Erzählen abzulösen: Sie könnten sich an rein gar nichts mehr erinnern, bekommt sie so gerade noch heraus. Das Kichern und die tonlosen Atemstöße der beiden ähneln ein bisschen den beiden Elstern oben in der Zeder, denkt schmunzelnd Europa. Sie hätten den vor Kopfschmerzen stöhnenden Männern ein kleines Theaterstück lustvoller Begeisterung geboten. Deren eher blödes Staunen sollte wohl zum Ausdruck bringen, dass sie demnach wirklich ganz außergewöhnlich gewesen seien, die so frech gehörnten. Und um dem Ganzen noch eine Krone aufzusetzen, hätten sie stotternd zu verstehen gegeben, dass die Wildheit und Leidenschaft ihrer Männer sie so gefordert hätten, dass sie nun für ein paar Tage aussetzen müssten, bis ihre wund geriebenen Stellen abgeheilt seien. Vor Verlegenheit hätten die beiden Mannsbilder dann gar nicht mehr gewusst, was sie sagen sollten, hätten nur zustimmend genickt und sich mit stolzen Blicken zu verstehen gegeben: Da können unsere Ehefrauen ja nur glücklich sein, dass sie so sinnliche Männer zugewiesen bekamen. Vor lauter Lachen kommen Sarsa und Belursi jetzt auch noch lustige Tränen, die keck die Wangen der beiden herunter stürzen. Europa und Chandaraissa freuen sich von Herzen mit den beiden. Sie werden aus diesem heimlichen Betrug einfach eine Gewohnheit machen, damit sie nie wirklich von diesen Rohlingen roh angefasst und missbraucht werden können. Und damit haben sie auch dem Minos von Kreta seinen Plan versaut. Gut so, denken sie, gut so. Europa schweift für einen Augenblick mit ihren Gedanken ab: Ist es dem selbstgefälligen Gott in der Höhle neulich nicht genauso gegangen? Könnte der nicht auf eine Gelegenheit warten, seine Demütigung vergessen zu machen? Sie weiß ja nichts von den Plänen, die die drei Brüder ausgeheckt haben. Nichts von dem Fluch, den der Obergott zusammen mit seinen Brüdern über alle Frauen ausgesprochen hat. Um solch unangenehme Gedanken zu vertreiben, stellt Europa in eine kleine Lachpause der Priesterinnen hinein – ohne darüber weiter nachzudenken – die Frage:

„Wollt ihr wissen, was ich heute Nacht geträumt habe?“

Und wie sie das wollen, sprudelt es aus deren Münder, und ob! Chandaraissa zieht verwundert die Augenbrauen hoch und lächelt ihrer Freundin aufmunternd zu. Da tut es Europa auch schon wieder leid, die Frage gestellt zu haben. Jetzt kann sie aber nicht mehr zurück. Sarsa lehnt sich genüsslich an den von der Sonne angenehm aufgewärmten Stamm einer Pinie – sieben davon stehen in einem Kreis um die alte Zeder herum – alle Schattenspender, stumme Zuhörer, geduldige Freunde der Menschen schon immer, die sie jedoch wie selbstverständlich nutzen und meistens übersehen. Europa atmet tief ein, schließt kurz die Augen, bevor sie so beginnt:

„Mir träumte, drei große schwarze Raben saßen auf einem dünnen Ast. Aufgeregt tippelten sie hin und her, hin und her.“

Chandaraissa unterbricht sie kurz:

„Oder waren es nicht doch Elstern? So wie die da oben in der Zeder? Vielleicht sind sie ja sogar aus deinem Traum mit in die Wirklichkeit hinüber geflogen?“

Europa schüttelt mit dem Kopf. Ihre Freundin hat immer so wunderbare Ideen. Aber es waren Raben, keine Elstern, und sie schienen wirklich schlechte Laune zu haben. Sie zankten sich laut und sehr unfreundlich. Daran kann sie sich noch ganz deutlich erinnern.

„Nein, es waren keine Elstern, er waren drei Raben. Das weiß ich noch ganz genau. Was sie sich zu sagen hatten, konnte ich nicht verstehen. Der wohl abgestorbene Ast, auf dem sie sich zankten, knarzte bedenklich. Ich saß am Eingang einer Höhle, hatte Angst, hatte Herzklopfen. Ich wusste nicht, warum ich vor dieser Höhle saß. Ich fühlte mich ganz schlecht. Dann brach der morsche Ast laut entzwei. Ich riss die Augen auf, hielt den Atem an, denn die drei schwarzen Tiere stürzten wild durcheinander wirbelnd und flatternd Richtung Erde, als könnten sie nicht fliegen, direkt auf mich zu. Schwer drückte mich die bange Frage zu Boden: Was wollen die von mir, was haben die vor? Schweiß gebadet wachte ich auf…“

Europa schaut hilfesuchend ihre Zuhörerinnen an. Mit offenen Mündern hatten sie zugehört. Nach dem ausgelassenen Lachen noch eben scheint plötzlich ein befremdlicher Ernst in der Luft zu wabern. Verlegen wischen sich die beiden jungen Priesterinnen die letzten Freudentränen von ihren Wangen. Keiner will etwas sagen, denn das Bedrohliche in diesem Traum ist allen nur zu deutlich. Europa ist die Stille sehr peinlich. Sie wollte wirklich nicht die ausgelassene Stimmung verderben. Doch das betretene Schweigen hat alle vier unbarmherzig im Griff. Warum hat sie das nur erzählt, warum hatte sie diesen Traum, warum sind sie jetzt alle so beklommen?

19 Jan

Europa – Verraten und verkauft? (Meditation # 56)

Die Trompete tönt laut. Was können wir Europäer damit anfangen? Eine ganze Menge!

Lieb gewonnene Gewohnheiten gibt es nicht nur beim Tee Trinken oder Tennis Spielen. Nein, sie gibt es auch im politischen Spiel: Alle vier Jahre wählt man den einen oder die andere, um sie im Parlament die nächsten vier Jahre das repräsentative Spiel der Parteien spielen zu lassen. Jedes Jahr lässt man von irgendjemandem die Steuererklärung machen, immer wieder zahlt man brav seine Beiträge zur Krankenversicherung, schaut nach Schnäppchen für den günstigsten Flug in den Urlaub, nutzt jeden verkaufsoffenen Sonntag, die vollen Regale zuhause noch etwas voller werden zu lassen. Kanzler oder Kanzlerinnen können einem Misstrauensvotum anheimfallen, Bischöfe können mit Hilfe der Aufklärungsarbeit der Medien bei unlauterem Tun ordentlich Schiffbruch erleiden. Und jeden Abend schaut man sich die Tagesschau an, um wieder eine Übungsstunde im politischen und wirtschaftlichen Vokabular mitzumachen: Das Schengen-Abkommen erhalten, die Vorteile der EU nicht leichtfertig über Bord gehen zu lassen, dem russischen Bären weiterhin treu zu misstrauen, und die besten Freunde, die Amerikaner nicht zu vergraulen. Gebetsmühlenartig wiederholt sich diese nachhaltig wirkende Unterrichtsstunde im TV jahrein, jahraus – von der Wirkung der großen Buchstaben und Bilder billiger Blätter ganz zu schweigen. So ist im Zeitgenossen ein scheinbar stabiles Denkgebäude entstanden, in das er wie selbstverständlich und gut versichert ein und aus geht: Geld regiert die Welt.

Wenn nun aber einer daherkommt und lauthals viele dieser liebgewonnenen Einschätzungen einfach demontiert, als wären es Lügengeschichten, Pappkameraden, Phrasen; dann horcht man auf, fühlt sich verunsichert und möchte so schnell wie möglich wieder auf der richtigen Seite des Denkens und Argumentierens stehen.

Oder sollte man nicht besser die unvorhergesehene Gelegenheit nutzen und selber einfach neu nachdenken?

  1. Was wäre denn so schlimm daran, wenn sich die sogenannte „Nachkriegs-Ordnung“ als überlebt herausstellen sollte? Könnte das nicht den Blick frei machen in eine neue europäische Gesamtschau?

  2. Was wäre denn so schlimm daran, wenn die Nato ebenfalls ein Auslaufmodell wäre, das überdacht werden dürfte? Könnte das nicht zu einer neuen Sicht der Dinge führen – vielleicht sogar kostengünstiger und europäischer?

  3. Was wäre denn so schlimm daran, wenn die EU endlich als das beschrieben würde, was sie in den letzten Jahrzehnten war: Eine üble finanzielle Schieflage zugunsten der Nordstaaten?

  4. Was wäre denn so schlimm daran, wenn sich die selbstbewussten Europäer endlich für so erwachsen erklärten, dass sie auf völlig neuer Vertragsbasis – eng vernetzt – ihre gemeinsamen und unterschiedlichen Interessen neu und fair definierten?

  5. Was wäre denn so schlimm daran, wenn 2017 in Europa ein Jahr der neuen Optionen würde, in dem gerne dem „America strong again“ ein „Europe – strong and total new“ entgegengesetzt würde?

  6. Was wäre denn so schlimm daran, wenn sich der neue Präsident der USA als ungewollter Wegbereiter einer neuen Ära herausstellte, die nachhaltig und den Planeten schonend endlich das lostritt, was tatsächlich ansteht: Ein Ende des blindwütigen Konsumierens, der Armut, des Hungers und der Ausbeutung der Erde?