Europa – Meditation # 106 Heimat-Text Nr. 23
Ein Moment der verzweifelten Besinnung im Wohlstandsrausch
D I E N S T A G , den 17. Juli 2018
Vor hundert Jahren ermordeten die russischen Kommunisten die gesamte Zarenfamilie. Heute erinnerten mehr als hunderttausend Menschen an dieses schlimme Ereignis. Die orthodoxe Kirche Russland hat den Zaren inzwischen heilig gesprochen. Emma wird heute 95 Jahre alt. Kinder und Kindeskinder feiern mit ihr in Lindau diesen stolzen Geburtstag.
Dazwischen liegen zwei sogenannte Weltkriege, zahllose Erdbeben, Massaker und tausende und abertausende von Verkehrstoten.
Wieviele ungelebte Leben! Wieviele ungenutzte Talente, wieviele nie erzählte Liebesgeschichten!
In Helsinki geht unterdessen eine kleine Theaterveranstaltung der besonderen Art zu Ende: Zwei gerissene ältere Herren haben sich dort Augen zwinkernd miteinander unterhalten. Worüber? Dies und das.
Für die Medien jedenfalls ein gefundenes Fressen – zumal es nur wenig griffiges Material aus dem inneren Kreis der Mächtigen gab und die Fußballweltmeisterschaft auch schon wieder vorbei ist. Von den zwölf Jungen ganz zu schweigen, die aus einer vollgelaufenen Höhle gerettet werden konnten. Wer hätte das gedacht?
An was soll man sich halten? Was bleibt von all dem eigentlich für das eigene Leben? Nur die Bilder vergangener Tage, der Kindheit, der Familie, der gemeinsamen Ausflüge mit Picknick am Fluss und mit diesem üblen Wespenstich. Oder war es eine Biene? Warum hatte damals der Lehrer das Bild – ein Versuch in Wasserfarben – nicht gelobt? Dabei war soviel Herzblut mit hinein geflossen. Und warum hatte sie damals eigentlich Schluss gemacht? Was war falsch gelaufen, damals?
In der Erinnerung bieten sich viele bequeme Antworten an. Aber welche wäre die richtigere? An was soll man sich halten?
Während in den allgegenwärtigen Medien eine Botschaft die nächste überbietet und erschlägt, sucht der Zeitgenosse im kleinen Europa genervt nach einem halbwegs verlässlichen Ort in Zeit und Raum, wo man sich getrost niederlassen könnte, angstfrei ausschlafen würde und lustige Gespräche führte. Stattdessen nur huschige Momente von unfassbaren Augenblicken, von ersehnter Nähe zu einem faszinierenden Wesen, das so reizvoll lockt und singt und tanzt; stattdessen nur zu viel Bilderrattern und Wörterwald, nur hektische Blickkontakte und verpasste Begegnungen, nur öde Sprachlosigkeit drum herum und kein Verstehen. Abschalten, abschalten, löschen!