Yrrlanth – Roman – Die fast schon vergessene Botschaft vom Glück – Blatt # 86 (Leseprobe)
Memoria – die Kraft des Erinnerns
Auch in der Villa Marcellina hat der Winter, wenn auch behutsam, seine Herrschaft übernommen: Die großen Scheunen sind gefüllt, die Keller unter den Häusern der Sklaven und Handwerker ebenso.
Aber der alte Senator und Herr der Villa, Marcellus, nutzt die noch frostfreie Zeit, um an seiner List zu arbeiten. Je eher, desto besser, denkt er, als er sich jetzt aufmacht an diesem milden Dezembertag, um die Fortschritte der Arbeiten draußen vor der Villa in Augenschein zu nehmen. Dabei denkt er an die Erzählungen, die ihm einst sein eigener Großvater abends in der Bibliothek vorgelesen hatte. Auf vielen Schriftrollen waren die Taten der Vorväter ausführlich beschrieben.
„Sie sollen dir in deinem Leben Mut machen. Zeigen sie doch, dass wir Römer schon viele Krisen erfolgreich überwunden haben. Und du kannst sicher sein, es werden neue kommen, größere. Aber mit Hilfe der Erinnerung kannst du sie meistern. Lies sie also auch deinen Kindern wieder und wieder vor – es ist wie Nektar und Ambrosia. Und vergiss nie, den Göttern zu opfern.“ Dann musste er immer kichern und schmunzeln, der Großvater.
Marcellus hat es dann auch so gemacht: Oft las er in diesen Erinnerungen der Familiengeschichte, die damals noch in Arelatum spielte, wo sein Großvater in der Provinzverwaltung die Steuereinnahmen zu kontrollieren hatte. Denn trotz des Hunneneinfalls von vor mehr als 150 Jahren war die Provinz Gallia intakt geblieben. Die Unterstützung durch die Westfranken und der Nachschub für Aetius hatten entscheidend mit dazu beigetragen, die große Schlacht südöstlich von Lutetia zu gewinnen. Wir Römer könnnen die Campi Catalauni also stolz in unserer Erinnerung bewahren. Der Hunnenkönig musste abziehen, der Einfall blieb Episode. Und was hat nicht alles der edle Syagrius danach noch für Rom hier in Gallien geleistet.
Auch die Franken, die ja jetzt die ehemalige Provinz Gallia Belgica verwalten wie ein Königreich, werden nicht ohne uns zurecht kommen. Die Oberpriester der Christen, die die Franken zu ihren Verbündeten machen, indem sie sich taufen lassen, sind schlechte Krieger. Da ist sich Marcellus völlig sicher. Aber die nächste Krise steht vor der Tür, vielleicht schon im kommenden Frühjahr. Also vorsorgen, aus den Erinnerungen lernen. Ja, Großvater, sagt Marcellus nun zu sich selber, du bist mir auch in meinem Alter noch eine große Hilfe mit deinen Ratschlägen. Sie geben mir Kraft.
Inzwischen ist Marcellus außerhalb des großen Anwesens, der Villa Marcellina, angekommen und bleibt zufrieden stehen: Seine Leute leisten gute Arbeit. Der tiefe Graben, den sie um die gesamte Anlage anlegen sollen, ist schon deutlich zu erkennen. Eine wunderbare Falle wird das werden. So wie damals in Alesia. Die Bilder in seinem Gedächtnis lassen ihn nicht allein. Das tut gut und gibt Zuversicht.
Lobend spricht er jetzt mit dem Vorarbeiter. Und er staunt nicht wenig, denn da kommt Julian, sein Sohn, schwitzend und lachend auf ihn zu:
„Da staunst du, nicht wahr, Vater?“
Marcellus ist sprachlos. Jetzt ist er sich ganz sicher, dass er sich keine allzu großen Sorgen machen muss, wenn die nächste Krise wirklich kommen sollte.