Europa – Meditation # 143
Die Eisenstraße war einmal…
Wir Europäer leben schon sehr lange auf einer eisernen Straße. Zu Lande und zu Wasser. Wenig weich und schon gar nicht seiden. Auf ihr haben wir jahrhundertelang Menschen und Sachen transportiert, die uns ziemlich nützlich waren. Paläste, Herrenhäuser noch und noch. Den Schaden oder das Nachsehen hatten immer die anderen. Das Schöne daran war aber auch, dass man sie in ihrem Leid nicht sehen konnte, musste. Zu weit weg eben.
Aber auf vielen Seetraßen – gefährlich und bald überfüllt – flossen uns Europäern die Früchte in jedem Sinne ins Haus – mal so, mal so, aber immer gewinnbringend.
So ließ sich die Botschaft der Französischen Revolution wunderbar zuhause vermarkten und in Übersee vergessen. Und unsere Brüder und Schwestern, die daheim nicht mehr genug zu essen hatten, schickten wir auch gleich hinterher. Drüben waren sie dann clever genug, für sich weiter die Freiheit zu sichern und für die anderen sie ausschließende Ausnahmen zu erfinden.
Gut, vor Gott im Himmel würden wir dann alle wieder gleich sein, aber hier unten, da gab es sehr wohl existentielle Unterschiede unter den Menschen – alle scheinbar von dem unsichtbaren Gott geschaffen, sich die Welt untertan zu machen. So jedenfalls stand und steht es in alten Texten, die vor langer, langer Zeit alte Männer ersannen, um im Chaos der Wirklichkeit und der allzu üppigen Natur so etwas wie eine gottgewollte Ordnung zu schaffen.
Das Eisen diente eben nicht nur der Landwirtschaft beim Pflügen, nein, es diente auch als Ketten für den Pranger, um die Ungehorsamen zu strafen. Die Gottgefälligen konnten ja ihre Häuser vorzeigen als Beweis, dass Gott sie vorbestimmt hatte für die ewige Glückseligkeit – später. Hier galt es aber, das Eisen zu schmieden, so lange es heiß war.
Das konnten die Europäer ganz gut. Sie nannten es Fortschritt und später dann Entwicklungshilfe. Man ist ja kein Unmensch.
Der Glaube der christlichen Europäer ist inzwischen abhanden gekommen, die Folgen der Missionierung der Welt allerdings nicht. Und im Okzident scheint keiner zu verstehen, was die Stunde geschlagen hat. Man will nur noch konsumieren und unterhalten werden, sonst nichts. Die Geschichte dahinter kennt kaum noch jemand. Oder?
Nach den aufgezwungenen Verträge, die China am Verhandlungstisch der Europäer und Amerikaner im 19. Jahrhundert unterschreiben musste – im Hafen ankerten riesige Kanonenboote, die offenkundig signalisierten, wer wem hier die Feder führte – und den üblen Opiumkriegen danach, dreht sich nun das Karussell anders herum. Aus den verschreckten Lehrlingen sind selbstbewusste Meister geworden, die nun auf leisen Sohlen und in seidenen Socken den Spieß herumdrehen und den Europäern zeigen, in welche Richtung in Zukunft die Gewinne fließen werden.
Man findet das ganz und gar nicht in Ordnung, man protestiert, man lamentiert. Aber diesmal sitzt am Verhandlungstisch ein schmunzelnder Chinese, der keine Kanonenboote braucht, um sich durchzusetzen. Er hat seine Lektion gelernt und bittet höflich und dezent zur Kasse. Paläste, Herrenhäuser noch und noch werden in Zukunft im Reich der aufgehenden Sonne gebaut werden. Vielleicht können die Europäer da ja noch hier und da als beflissene Dienstleister gebraucht werden…wenn’s hoch kommt…