Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 88
Chandaraissa, die Hohepriesterin, erinnert an die fast schon vergessene Botschaft vom Glück
Die alten Ratsherren halten den Atem an. Ihr Mann, Sardonios, hat sich selbst ans Messer geliefert. Wenn sie sich jetzt für ihn verwendeten, würde ihr geheimes Verhältnis zum Herrn der Namen und Zahlen, der Sicherheit und des Hofhaltung auffliegen. Doch da wird ihnen von einer Seite geholfen, von der sie es überhaupt nicht erwartet hatten.
Die Hohepriesterin erhebt sich, dabei berührt sie wie zufällig auch Europas Hand. Archaikos, der gerade versucht, das Geständnis von Sardonios zu verarbeiten, gibt ihr wortlos zu verstehen: Bitte – ihr habt das Wort, Chandaraissa. Sie verneigt sich und spricht dann so:
„Unsere große Göttin“ – alle in der hohen Halle erheben sich ehrfurchtsvoll, verneigen sich tief, strecken dann steil die Arme nach oben und flüstern im Chor: Unsere große Göttin – unsere große Göttin – unsere große Göttin – „hat mir soeben eine Botschaft eingegeben.“
Ergriffen sitzen nun alle wieder da und hängen kurzatmig an den Lippen Chandaraissas. Eine Botschaft der großen Göttin.
„Sie will keine Menschen mehr getötet sehen, wenn sie großes Unheil angerichtet haben. Sie will sie selber entscheiden lassen, wie sie mit ihrer üblen Tat weiter leben werden.“ Chandaraissa macht eine lange Pause. Sie schaut kurz zu Europa, ihrer neuen Freundin, lächelt und fährt dann so fort: „Ihre Botschaft vom Glück ist die von Vergeben, von Freude, von Liebe und Verstehen wollen und nicht von Hassen, Gewalt und Angst und Schrecken. Daran sollte ich noch einmal erinnern.“
Archaikos, der Minos von Kreta, gefällt es gar nicht, dass er jetzt nicht mehr eine Hinrichtung fordern darf. Doch da kommt ihm ein überraschender Gedanke. Wenn Sardonios nicht mit dem Tode büßen soll, dann soll er im Kerker neben dem Minotaurus lebenslang über seinen bösen Plan nachdenken. Und in das Geraune der sprachlosen Zuhörer hinein verkündet er kurzerhand sein Urteil.
Währenddessen hocken die drei großen Raben auf einer hohen Klippe am Nordufer der Insel Kreta und freuen sich diebisch über ihren Streich.
„Habt ihr gesehen“, krächzt gerade Zeus laut kichernd, „wie erschrocken die unserem Sturzflug zugeschaut haben?“
Poseidon stimmt in das Gekichere ein. Er flattert ausgelassen mit seinen weiten schwarzen Flügeln, bevor nachlegt:
„Gott, Bruder, mir war gar nicht klar, was das für eine tolle Idee war, du bist wirklich der Größte.“
Hades, dem diese Schmeichelei seines jüngeren Bruders überhaupt nicht gefällt, gießt gleich mal Wasser in den frischen Wein:
„Wenn mich nicht alles täuscht, läuft der Prozess gerade in der hohen Halle – trotz unserer Schock-Flug-Nummer und unseren schrillen Schreien – gar nicht im Sinne unserer Gesamtpläne. Im Gegenteil.“
Da fährt ihm aber gleich Zeus dazwischen:
„Spielverderber. Das war doch erst unser erster Streich!“
„Genau“, plappert Poseidon gleich hinterher, „genau.“