Somythall auf dem Weg zur Göttin Atawima
Dünne Rauchsäulen stehen über Luxovium an diesem nebligen Wintermorgen. Zwei Raben zanken sich schon um einen schmutzigen Rest Brot an einer der vielen, dampfenden, warmen Quellen. Fliegen auf, stürzen nieder, immer wieder. Kreischen wollüstig durch die Stille dieses Morgens. Licht wächst langsam in den Tag, der eigentlich noch schlafen wollte. Ein Eichhörnchen buddelt zappelnd im frostigen Boden am Waldrand. Wo hatte ich denn nur die Nuss vergraben, zischt es dabei unwirsch vor sich hin? Wo nur, wo?
Jetzt kommt auch Bewegung im Steinhaus des Abtes auf: In der großen Küche schürt Pater Maurus das Feuer, legt trockene Scheite nach und hängt den großen Wassertopf an den Haken über den lustig tänzelnden Flämmchen. Rochwyn ist schon längst auf den Beinen, gibt gerade seinen Leuten letzte Anweisungen für die Abreise: Sänfte holen, Pferde satteln, die Packesel mit Essen und Wasserschläuchen beladen. Auch Somythall ist heute früh aufgewacht. Ihr morgentliches Gespräch mit der großen Göttin hat sie schon geführt. Sie ist in warme Gewänder gehüllt. Ihre Amme hat ihr beim Ankleiden geholfen. Die Schwangerschaft macht alles etwas beschwerlicher als sonst. Aber sie fährt gerne mit den Händen über den weiter wachsenden Bauch, spricht mit ihrem strampelnden Kind und atmet langsam und tief durch dabei. Immer wieder.
„Das Wetter könnte zwar besser sein, aber zumindest ist es halbwegs trocken geblieben über Nacht.“ Abt Ambrosius möchte wohl gutes Wetter machen bei Rochwyn. Der hört aber gar nicht zu, trinkt hastig die warme Milch, die auf dem langen Tisch in mehrere Becher ausgeschenkt ist, wischt sich schmatzend den Mund ab und verlässt den Saal. Die anderen Mönchen sitzen schweigend an ihren Plätzen, mampfen Brot und versuchen nichts zu verpassen. Denn gerade tragen Rochwyns Leute säckeweise Sachen aus dem Haus. Wo wollen die denn hin? Weiß Abt Bernardus bescheid? Und warum macht sich Abt Ambrosius gerade so wichtig? Und diese schwangere Frau. Sollte die nicht besser im Warmen bleiben, in ihrem Zustand? Gestützt von Bruniguld, der Amme, verlässt die junge Frau gerade die kalte Vorhalle. Dann wird es wieder still im Kloster. Aber man hofft, dass am Abend im Kapitelsaal ihr Abt ausführlich berichten wird. Hoffentlich.
Ohne viel Lärm und Worte setzt sich der Trupp langsam in Bewegung. Rochwyn hatte seinen Leuten noch einmal eingeschärft, ja vorsichtig die Sänfte zu tragen. Vorne die Reiter, in der Mitte Somythall in der Sänfte – die Teppiche an den Seiten sind heruntergerollt, so dass niemand sehen kann, wer da getragen wird – und hinten Rochwyn als Nachhut mit den Packeseln und vier Bogenschützen.
Als sie am Stadtbrunnen von Luxovium vorbei kommen, tuscheln da bereits die Mädchen aufgeregt miteinander: Könnte das vielleicht Brunichild sein? Bei der weiß man ja nie, wo sie plötzlich auftaucht, die alte Zauberin und Königin. Vielleicht hat sie dem Abt eins ausgewischt, weil der Columban entwischen ließ, vielleicht…
Somythall lässt sich langsam in den Schlaf wiegen. Die Sänftenträger geben sich wirklich größte Mühe, ihr ihre Reise so bequem wie möglich zu machen. Und Bruniguld läuft nebenher, als wäre sie ein junges Reh. Sie ist so froh, dass sie nun zu Atawima reisen. Die junge Frau aus Hibernia wird dort göttliche Hilfe erhalten, da ist sie sich ganz sicher.
Und als nun die Leute in Luxovium ihr Tagewerk beginnen, ist die Reisegruppe schon im nahen Buchenwald verschwunden. Ihre Schritte hallen zwischen den hohen Stämmen als würde man behutsam Schwerter scheren. Nebelschwaden schweben unschlüssig wie traurige Fahnen im fahlen Licht, das durch die entblätterten Baumkronen kalt glänzend herabfällt. Die warme Atemluft der Tiere strömt wie silberne Fäden aus den Nüstern. Wer redet da mit wem? Sind es die alten Bäume, die da freundlich grüßen oder ist es das Farn, das da wedelnd flüstert? Somythall hebt im Halbschlaf ein bisschen den Vorhang zur Seite. Sie sieht ein Eichhörnchen über die dünnen Äste laufen. Was für eine Leichtigkeit! Lachend fliegen ihre Gedanken zur Göttin hinauf: Atawima, ich komme. Du kennst mich. Ich bin so voller Freude. Wir kennen die fast schon vergessene Botschaft vom Glück. Und wieder verfolgt sie wohlgefällig den Tanz des Eichhörnchens zwischen der Leere und den helfenden Bäumen. Als würden sie ihr zulächeln. Auch euch grüße ich von Herzen, flüstert Somythall jetzt ganz leise. Ihr habt uns auf unserer Reise von meiner Heimat, Hibernia, bis hierhin still und schützend begleitet. Ihr seid verlässliche Freunde. Danke. Und es scheint ihr jetzt so, als würden die alten Wesen leicht schwankend schmunzeln und so etwas raunen wie: Ach, das machen wir doch gerne, wir kennen euch doch, wir helfen doch jedem. Das ist unsere Freude am Leben, am Werden und Vergehen. Sind wir nicht alle verwandt miteinander? „Somythall? Ist das nicht ein wunderbarer Morgen hier im Wald?“ Es ist Bruniguld, die neben der Sänfte her läuft und zu ihr hinein schaut. Somythall nickt. Kann ihre Amme Gedanken lesen? „Ich könnte singen vor Glück, Bruniguld!“ erwidert Somythall fast jauchzend. Und das mitten im Winter, auf beschwerlicher Reise. Bruniguld kann kaum Schritt halten mit den Sänftenträgern. Aber das Ziel ihrer Reise macht sie so stark, dass sie einfach tapfer weiter neben der Sänfte her läuft. Somythalls Blick schweift wieder zurück zu den Nebelschwaden, die nun dünner und dünner zu werden scheinen, sich auflösen. Da sieht sie zwei Rehe in großen weiten Sprüngen seitlich von dem raschelnden Trupp an ihr vorbei hasten. Dann sind sie außerhalb ihres Blickfeldes. Schade. Gerade wollte ich sie noch grüßen, die zwei. Dann sieht sie die beiden wieder. Jetzt stehen sie bewegungslos da zwischen den Bäumen, schauen direkt zu ihr hin und grüßen freundlich zurück.Ein Lächeln wärmt ihr das Gesicht: Vielleicht hat die Göttin sie als freundliche Begrüßung ihnen entgegen geschickt.