19 Jan

Europa – Meditation # 172

Die Europäer finden in der Not zu sich selbst

Not? Welche Not denn? Nun, altvertraute Muster erweisen sich nach und nach als nicht mehr glaubwürdig, empfehlenswert, zukunftsweisend. Im Gegenteil, die enge Bindung an den ehemaligen Befreier vom faschistischen Joch, die man lange als gewinnbringende Freundschaft verstanden wissen wollte, entpuppt sich nun als Ausverkauf eigener Identität und kultureller Besonderheit.

Die Rahmenbedingungen amerikanischen Wirtschaftens zwangen die europäischen Länder mehr und mehr, sinnvolle gesellschaftliche Bindungen nicht nur zu lockern, sondern preiszugeben und sie dem freien Spiel wirtschaftlicher Profitmaximierung unterzuordnen.

Die Resultate sind ernüchternd: Der Energiebereich schuf zwar Gewinne, aber keine gerechte Verteilung, der soziale Bereich schuf zwar neue Chancen, aber keinen halbwegs gerechten Lastenausgleich und der kulturelle Bereich öffnete sich zwar vielen neuen Themen, höhlte aber heimlich, still und leise alte Identitäten nachhaltig aus.

Die frohe Botschaft der atlantischen Freunde – Wohlstand, Wachstum, Tempo, Automatisierung, ungebremste Geldgier und globale Digitalisierung – lässt die Beglückten nun dastehen vor einem ideologischen und philosophischen Scherbenhaufen. Denn behutsames Nachdenken, bedächtiges Verweilen im Hier und Jetzt und die Wertschätzung europäischer Traditionen und kultureller Besonderheiten, waren leichtfertig über Bord geworfen worden.

Gerne hatte man die eigene Sprache mit dem Vokabular jener frohen Botschaft aufgepeppt, vergaß aber, den eigenen Kindern solides Lesen und Schreiben – vom ordentlichen Schwimmen ganz zu schweigen – beizubringen.

Der Katzenjammer, der jetzt – scheinbar völlig unvorhersehbar – die Europäer erfasst, weil Freundschaft, Solidarität und Respekt vor dem eigenen Geworden Sein mit Geringachtung bedacht wurden, schlägt über Nacht um in alte Muster, die doch als überlebt und untauglich galten. Weit gefehlt: hinter dem biederen neuen Begriff illiberale Demokratie verschanzen sich die Verängstigten, Verschreckten und „Verkannten“ – europaweit. Und weltweit – in den USA, in Indien, Russland und Brasilien – werden ebenfalls die Karten neu gemischt: nach ähnlich untauglichen Mustern, die schon einmal zu Lasten derer ausprobiert wurden, die sich davon Hilfe und mehr Wertschätzung erhofft hatten. Da feiern konfuse Ängste und überzogenes Geltungsbedürfnis unschöne Koalitionen. Aber Angst machen, gilt nicht. Überall in Europa nehmen junge und alte Leute ihre anstehenden Probleme selber in die Hand – ob es nun soziale oder ökologische sind, ganz gleich – und pfeifen auf die Phrasen der Parteigrößen. Volksparteien? Was ist das denn? Regionale Bündnisse können viel ehrlicher und überzeugender Menschen für Menschen in Bewegung setzen. Man kennt sich, man vertraut sich, man hilft sich.

19 Jan

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 91

Nur Tagträume der drei Brüder Europas?

Die drei göttlichen Brüder – Zeus, Poseidon und Hades – brauchen vom Zweistromland zur Insel der Tochter des Kronos – jetzt aber olympische Adoptivtochter vom Heißsporn Zeus selbst – knapp eine Stunde. Unterwegs hatten sie sich als besonderen Scherz ausgedacht, diesmal als arme Fischer aufzutreten, um mal wieder ein Bad in der Menge zu nehmen. Lange mussten sie über diesen genialen Einfall lachen, lange.

Auf Aphrodites Insel ist gerade Mittagszeit. Die drei Brüder Europas liegen mit geschlossenen Augen am Strand – unweit des Tempels der Göttin – im Schatten eines Pinienwäldchens und geben sich genüsslich ihren Tagträumen hin. Nicht weit von der Stelle, wo sie sich ausruhen, stehen drei Fischer bei einander. Sie machen sich an einem zerrissenen Netz zu schaffen, das vor einem an Land gezogenen flachen Boot gelegen hatte. Die drei haben keine Ahnung, was zu tun ist. Sie sind ja keine Fischer, sondern olympische Götter. Grinsend ziehen sie mal da, mal dort am Fischernetz, als könnten so die Löcher weniger werden. Dabei unterhalten sie sich – wie drei Verschwörer – leise über Europas träumende Brüder Kilix, Kadmos und Phoinix.

Vielleicht sollten wir warten, bis sie wieder aufwachen“, sagt gerade der eine Fischer zum anderen.

Nein, Bruder, wir werden einfach ein paar Geschichten in ihre Ohren träufeln“, meldet sich Hades zu Wort.

Hervorragende Idee! Jeder nimmt sich einen und träufelt ordentlich was hinein. Was haltet ihr davon?“ fragt Zeus lachend.

Hades und Poseidon schauen verdutzt und mit offenem Mund ihren Bruder an. Dann haben sie verstanden, lachen, klatschen in die Hände und nicken erleichtert. Das dürfte ja wohl nicht so schwierig werden, denken sie; lässig lassen sie das Netz fallen, schlendern langsam am Strand entlang Richtung Pinienwäldchen und überlegen sich dabei, was sie denen eintrichtern könnten. Der Ehrgeiz hat sie nämlich gepackt. Jeder möchte hinterher sagen können: Meine Idee war aber die beste!

Hört mal, ihr zwei“, beginnt später Kilix als erster zu sprechen, „wenn wir weiter zu dritt nach ihr suchen, sind wir sicher weniger erfolgreich, als wenn jeder für sich auf die Suche geht. Oder?“

Kadmos und Phoinix hatten den gleichen Gedanken, sie haben sich auch schon Ideen ausgedacht und so brechen sie noch am gleichen Tag auf: Kilix will mit einem schnellen Segler Richtung Athen segeln, Kadmos mit einem großen Handelsschiff nach Ägypten und Phoinix mit einem Pilgerschiff nach Delos, wo einst Leto Artemis und Apollon zur Welt brachte. Er will dort die Priester befragen, ob sie etwas von ihrer Schwester Europa gehört haben. Abends, als alle drei Schiffe längst abgelegt haben, hocken drei alte Fischer in einer Hütte im Hafen vor ihren Weinkrügen, lachen, trinken und halten sich für große Siegernaturen. Sie sind einfach die Größten, meinen sie.

18 Jan

Leseprobe – Historischer Roman Teil II – Blatt 103

Somythall auf dem Weg zur Göttin Atawima

Dünne Rauchsäulen stehen über Luxovium an diesem nebligen Wintermorgen. Zwei Raben zanken sich schon um einen schmutzigen Rest Brot an einer der vielen, dampfenden, warmen Quellen. Fliegen auf, stürzen nieder, immer wieder. Kreischen wollüstig durch die Stille dieses Morgens. Licht wächst langsam in den Tag, der eigentlich noch schlafen wollte. Ein Eichhörnchen buddelt zappelnd im frostigen Boden am Waldrand. Wo hatte ich denn nur die Nuss vergraben, zischt es dabei unwirsch vor sich hin? Wo nur, wo?

Jetzt kommt auch Bewegung im Steinhaus des Abtes auf: In der großen Küche schürt Pater Maurus das Feuer, legt trockene Scheite nach und hängt den großen Wassertopf an den Haken über den lustig tänzelnden Flämmchen. Rochwyn ist schon längst auf den Beinen, gibt gerade seinen Leuten letzte Anweisungen für die Abreise: Sänfte holen, Pferde satteln, die Packesel mit Essen und Wasserschläuchen beladen. Auch Somythall ist heute früh aufgewacht. Ihr morgentliches Gespräch mit der großen Göttin hat sie schon geführt. Sie ist in warme Gewänder gehüllt. Ihre Amme hat ihr beim Ankleiden geholfen. Die Schwangerschaft macht alles etwas beschwerlicher als sonst. Aber sie fährt gerne mit den Händen über den weiter wachsenden Bauch, spricht mit ihrem strampelnden Kind und atmet langsam und tief durch dabei. Immer wieder.

Das Wetter könnte zwar besser sein, aber zumindest ist es halbwegs trocken geblieben über Nacht.“ Abt Ambrosius möchte wohl gutes Wetter machen bei Rochwyn. Der hört aber gar nicht zu, trinkt hastig die warme Milch, die auf dem langen Tisch in mehrere Becher ausgeschenkt ist, wischt sich schmatzend den Mund ab und verlässt den Saal. Die anderen Mönchen sitzen schweigend an ihren Plätzen, mampfen Brot und versuchen nichts zu verpassen. Denn gerade tragen Rochwyns Leute säckeweise Sachen aus dem Haus. Wo wollen die denn hin? Weiß Abt Bernardus bescheid? Und warum macht sich Abt Ambrosius gerade so wichtig? Und diese schwangere Frau. Sollte die nicht besser im Warmen bleiben, in ihrem Zustand? Gestützt von Bruniguld, der Amme, verlässt die junge Frau gerade die kalte Vorhalle. Dann wird es wieder still im Kloster. Aber man hofft, dass am Abend im Kapitelsaal ihr Abt ausführlich berichten wird. Hoffentlich.

Ohne viel Lärm und Worte setzt sich der Trupp langsam in Bewegung. Rochwyn hatte seinen Leuten noch einmal eingeschärft, ja vorsichtig die Sänfte zu tragen. Vorne die Reiter, in der Mitte Somythall in der Sänfte – die Teppiche an den Seiten sind heruntergerollt, so dass niemand sehen kann, wer da getragen wird – und hinten Rochwyn als Nachhut mit den Packeseln und vier Bogenschützen.

Als sie am Stadtbrunnen von Luxovium vorbei kommen, tuscheln da bereits die Mädchen aufgeregt miteinander: Könnte das vielleicht Brunichild sein? Bei der weiß man ja nie, wo sie plötzlich auftaucht, die alte Zauberin und Königin. Vielleicht hat sie dem Abt eins ausgewischt, weil der Columban entwischen ließ, vielleicht…

Somythall lässt sich langsam in den Schlaf wiegen. Die Sänftenträger geben sich wirklich größte Mühe, ihr ihre Reise so bequem wie möglich zu machen. Und Bruniguld läuft nebenher, als wäre sie ein junges Reh. Sie ist so froh, dass sie nun zu Atawima reisen. Die junge Frau aus Hibernia wird dort göttliche Hilfe erhalten, da ist sie sich ganz sicher.

Und als nun die Leute in Luxovium ihr Tagewerk beginnen, ist die Reisegruppe schon im nahen Buchenwald verschwunden. Ihre Schritte hallen zwischen den hohen Stämmen als würde man behutsam Schwerter scheren. Nebelschwaden schweben unschlüssig wie traurige Fahnen im fahlen Licht, das durch die entblätterten Baumkronen kalt glänzend herabfällt. Die warme Atemluft der Tiere strömt wie silberne Fäden aus den Nüstern. Wer redet da mit wem? Sind es die alten Bäume, die da freundlich grüßen oder ist es das Farn, das da wedelnd flüstert? Somythall hebt im Halbschlaf ein bisschen den Vorhang zur Seite. Sie sieht ein Eichhörnchen über die dünnen Äste laufen. Was für eine Leichtigkeit! Lachend fliegen ihre Gedanken zur Göttin hinauf: Atawima, ich komme. Du kennst mich. Ich bin so voller Freude. Wir kennen die fast schon vergessene Botschaft vom Glück. Und wieder verfolgt sie wohlgefällig den Tanz des Eichhörnchens zwischen der Leere und den helfenden Bäumen. Als würden sie ihr zulächeln. Auch euch grüße ich von Herzen, flüstert Somythall jetzt ganz leise. Ihr habt uns auf unserer Reise von meiner Heimat, Hibernia, bis hierhin still und schützend begleitet. Ihr seid verlässliche Freunde. Danke. Und es scheint ihr jetzt so, als würden die alten Wesen leicht schwankend schmunzeln und so etwas raunen wie: Ach, das machen wir doch gerne, wir kennen euch doch, wir helfen doch jedem. Das ist unsere Freude am Leben, am Werden und Vergehen. Sind wir nicht alle verwandt miteinander? „Somythall? Ist das nicht ein wunderbarer Morgen hier im Wald?“ Es ist Bruniguld, die neben der Sänfte her läuft und zu ihr hinein schaut. Somythall nickt. Kann ihre Amme Gedanken lesen? „Ich könnte singen vor Glück, Bruniguld!“ erwidert Somythall fast jauchzend. Und das mitten im Winter, auf beschwerlicher Reise. Bruniguld kann kaum Schritt halten mit den Sänftenträgern. Aber das Ziel ihrer Reise macht sie so stark, dass sie einfach tapfer weiter neben der Sänfte her läuft. Somythalls Blick schweift wieder zurück zu den Nebelschwaden, die nun dünner und dünner zu werden scheinen, sich auflösen. Da sieht sie zwei Rehe in großen weiten Sprüngen seitlich von dem raschelnden Trupp an ihr vorbei hasten. Dann sind sie außerhalb ihres Blickfeldes. Schade. Gerade wollte ich sie noch grüßen, die zwei. Dann sieht sie die beiden wieder. Jetzt stehen sie bewegungslos da zwischen den Bäumen, schauen direkt zu ihr hin und grüßen freundlich zurück.Ein Lächeln wärmt ihr das Gesicht: Vielleicht hat die Göttin sie als freundliche Begrüßung ihnen entgegen geschickt.