06 Jan

Europa – Meditation # 170

Das kleine Europa – die große Aufgabe

2020. Schaudernd und enttäuscht wendet sich der Europäer vom Westen ab und sieht im Osten schwelende Konflikte noch und noch. Wie sind sie entstanden? Wer ist der Verursacher? Wenn für viele Europäer 1989 schon eine historische Zäsur ist, die ihnen bloß dreißig Jahre später vage und nichtssagend erscheint, dann sicher erst recht eine Epoche, die 1914 aus den Angeln gehoben wurde. Sarajewo. Ein Mord aus heiterem Himmel. Bagdad. Ein gewaltsamer Tod, der vom blauen Himmel fiel. Zwei Erzählungen, die aber kaum miteinander verglichen werden können.

Mitverantwortung der Europäer damals wie heute ist allerdings nicht von der Hand zu weisen. Es einfach an „die Politiker“ zu delegieren, ist bloß eine weitere Nebelkerze am rauchigen Neujahrshimmel. Das Demokratie-Modell nimmt alle in die Pflicht – europaweit, wenn auch Repräsentanten das Tagesgeschäft auf Zeit betreiben.

Von neuer Unübersichtlichkeit ist die Rede dieser Tage. Gab es denn je eine Übersichtlichkeit im Handeln der Völker dieser Welt? Ist die Unordnung nicht viel plausibler als jedes Ordnungsmuster, das doch nur eine wohlfeile Kopfgeburt ist? Ganz gleich, ob jemand im Baskenland, im Jura, in Schottland, in Irland, auf Korsika, auf Usedom oder in der Bretagne seine Heimat hat… Und könnte es nicht sein, dass die Ereignisse der letzten Tage in Bagdad, Washington und Teheran nicht mehr sind als nützliche Weckrufe, sich im Provisorium der Verträge der Völker miteinander zu erinnern, dass wir stets auf dünnem Eis schlittern, schwanken, den Halt zu verlieren drohen? Und je mehr wir uns im vertrauten Lebensraum verunsichert fühlen, desto weniger helfen dann fromme Sprüche der Parteien – europaweit…

So lange schon profitieren wir Europäer vom sogenannten Wachstum der Wirtschaft weltweit. Die Schieflagen und Schäden, die solches Wachstum mit sich brachten, mussten bisher immer die „anderen“ bezahlen. Und die in vorauseilendem Gehorsam abgelieferte Gefolgschaft dem großen Bruder jenseits des Meeres gegenüber erweist sich mehr und mehr als Irrweg, Illusion.

Auflösungserscheinungen auf vielen Ebenen sind die Folgen.

Die Botschaften eines Buddha oder eines Jesus sind im Westen wie im Osten immer noch nicht angekommen, die Gesundbeter hatten so viele Jahrhunderte Konjunktur, jetzt gehen ihnen die Argumente aus und die Gefolgschaft.

Vielleicht könnte Europa so etwas wie Avantgarde werden. Avantgarde in Sachen Wiedergutmachen – zum Wohle der Menschen und der Natur.

Dazu bedarf es keiner Parteiprogramme, dazu bedarf es nur der Solidarität aller Lebewesen, das wäre eine Sprache, die alle verstehen. Beethovens Neunte liefert frei Haus die Musik dazu. Nur weil es bisher schlecht, bzw. schwach geredet wurde, muss es nicht falsch sein!

02 Jan

Blatt 101 – Historischer Roman (Leseprobe)

Die geheimnisvolle Geschichte der Amme

Während die beiden Äbte im Kloster des Columbans misstrauisch einander umkreisen, immer in der Hoffnung, dass der andere sich verrät, liegt Somythall im Halbschlaf und hochschwanger halb im warmen Wasser der römischen Therme und träumt sich in das Bild des Dionysos, der scheinbar wohlwollend auf sie hinabschaut. Neben ihr kniet Bruniguld, ihre Amme. Sie knetet in gleichbleibender Bewegung ihrer Hände und schmalen Finger Arme und Nacken Somythalls.

Ich muss dir ein Geheimnis anvertrauen, mein Kind“, flüstert Bruniguld.

Somythall schließt genüsslich die Augen. Sie schwitzt angenehm, denkt immerzu an das Kind, das da in ihr wächst.

Willst du es nicht hören?“

Was?“

Das Geheimnis.“

Wenn Bruniguld wüsste, was ich für Geheimnisse erzählen könnte. Somythall denkt an ihre Großmutter, an Brighid, im fernen Louernia. Voegrun. Ein Stich fährt ihr durch den Leib. Voegrun Coemgen. Ob er an sie denkt, der schöne? Sie würde gerne Bruniguld von Atawima erzählen, der großen Göttin. Da kommt ihr aber Brunigulds Stimme dazwischen:

Gar nicht weit von hier – höchstens zwei oder drei Tagesreisen der untergehenden Sonne entgegen – hat sie ihren Tempel, weit über tausend Jahre wohnt sie dort schon.“

Somythall fühlt einen leichten Schauer durch ihren warmen Leib gehen. Von wem redet Bruniguld da? Als sie jetzt wieder die Augen einen Spalt weit öffnet und in das Lächeln des Dionysos sinkt, fährt ihr die Erinnerung an ihre Entführung durch den Kopf. Der Schreck ist fast so groß wie damals, als es passierte, als Rochwyn mit seinen Leuten auf die Jagd gegangen waren, als…

Atawima. Sie heißt Atawima. Seit über tausend Jahren geben ihre Priesterinnen dort ihre fast schon vergessene Botschaft vom Glück weiter. Hast du nie davon gehört?“

Somythall kann es nicht fassen. Hatte Bruniguld gerade von der fast schon vergessenen Botschaft vom Glück geflüstert?

Atathima?“ Somythall tut so, als habe sie diesen Namen noch nie gehört.

Nein, Atawima. Du hörst mir ja gar nicht zu.“

Bruniguld ist verunsichert. Sie war sich ganz sicher, dass Somythall bescheid weiß. Sie war sich ganz sicher. Und jetzt kennt sie nicht einmal ihren Namen! Sollte ich mich so getäuscht haben? Bruniguld schweigt, knetet Somythalls Arme und verliert sich im großen Mosaik, auf dem zahhllose Wassertropfen glänzen oder in eigenartigen Linien an der Wand hinabrutschen wie erschöpfte Bergsteiger. Wasserdampf wabert zwischen den beiden Frauen und den alten goldglänzenden Figuren an der Wand.

Ob ich vor der Geburt dort noch hinreisen sollte?“

Da geht es wie ein Freudenschrei durch Brunigulds Körper: Ich habe mich also doch nicht getäuscht, sie weiß, wovon ich rede.

Es hat seit Tagen nicht mehr geregnet oder geschneit. Die Wege scheinen begehbar zu sein. Du könntest dich ja in deiner Sänfte tragen lassen.“

Eine innere Stimme sagt Somythall, dass sie gehen soll, dass sie gerufen wird, dass die große Göttin ihre Hand über sie hält, dass es auch für die Geburt gut wäre.

Rochwyn sollte aber mitkommen. Er würde mich sonst sicher nicht gehen lassen.“

Bruniguld hätte eigentlich gerne protestiert, aber da ist gar kein Drängen in ihr, das auszudrücken. Wie kann das sein, fragt sie sich. Wie kann Atawima einverstanden sein?

Rochwyns Geschlecht – du weißt, er und seine Familie stammen aus Arelatum – ist den alten Göttern stets treu geblieben. Die Christen findet er verlogen und herrschsüchtig, auch die Arianer, die Westgoten. Sein Vater hat sogar enge Beziehungen zu Guntram, dem König der Burgunder, gehabt, er war sogar der Taufpate von Theuderich. Du weißt doch, dass Brunichild dessen Vormundschaft inne hat oder?“

Brunichild? Du solltest nicht einmal ihren Namen ausprechen! Sie ist eine Zauberin, die Königin von ganz Gallien werden möchte. Nenne nicht ihren Namen, nie!“

Somythall hält den Atem an. Bruniguld hatte ihr fast weh getan, als sie den Namen der fränkischen Königin aussprach. Warum diese Ablehnung? Vielleicht könnte auch Brunichild für die fast schon vergessene Botschaft vom Glück gewonnen werden, vielleicht arbeitet sie sogar insgeheim auf Seiten der großen Göttin. Wie könnte sie auch sonst so mächtig und von den Männern gefürchtet sein, denkt Somythall. Aber sie schweigt. Bruniguld wertet ihr Schweigen als Einverständnis. Ihre knetenden Finger lösen sich ein bisschen aus ihrem festen Zugriff. Sie seufzt wie eine Alte, die ihr Enkelkind endlich überzeugt hat, ihr zu gehorchen.

Somythall schließt ihre Augen wieder ganz. Auch sie seufzt und atmet tief ein und aus.

So wird ja auch ihr Warten auf die Niederkunft verkürzt, denkt sie erleichtert. Und zu Atawima wollte sie eigentlich schon auf der Hinreise. Doch da war die Entführung dazwischen gekommen. Und wie aus heiterstem Wintersonnenhimmel fällt ihr Julianus ein, die Villa, Marcellus, Philippos. Warum gerade jetzt? Sie lässt sich einfach wohlig in einen Tagtraum fallen: Als sie die Vorhänge ihrer Sänfte zurückschlägt, um einen ersten Blick auf den Tempel von Atawima zu werfen, steht mit strahlendem Lächeln im Gesicht Julianus vor ihr, verbeugt sich tief und sagt dann in gepflegtem Latein:

Herrin, ich begrüße euch hier an diesem heiligen Ort. Ich soll euch Grüße ausrichten von unserer Schutzgöttin, von Diana.“