Europas Vater Agenor verliert Land und Leben.
Agenor, sein Reitergeneral Abressonios und die kleine Streitmacht kommen gut voran. Vor Einbruch der Dunkelheit wollen sie in der Oasenstadt Melweli den ersten Überraschungsschritt getan haben, um – dank der drei Hirten, die ihm den entscheidenden Hinweis gegeben hatten – um dem Hinterhalt seines Doch-Nicht-Schwiegersohn Ufroras, junger König von Assur, zuvorzukommen.
Agenor ist bester Dinge. Eben erst hat er Abressonios versprochen, ihn reich mit Land und Leuten zu beschenken, wenn das Kriegsglück auf ihrer Seite bleibt und er dabei sein Bestes gibt. Der General legt sich ihm vor Freude und Dankbarkeit vor die Füße, küßt sie und weint vor Seligkeit. Das tut dem König gut. Er ist in Geberlaune. Auch seine drei Söhne – Kadmos, Phoinix und Kilix – will er wieder in Gnaden aufnehmen, wenn sie ihre aufsässige Schwester Europa gefangen zurück gebracht haben werden. Selbst seiner Frau würde er alle ihre Eigenmächtigkeiten verzeihen, doch die ist ja leider vorzeitig in die Unterwelt abgereist. Schade. Schade.
Der
Sand weht heiß in ihre Gesichter. Kurzer Halt. Die Soldaten brauchen
eine Verschnaufpause. Wasser trinken. Die Vorräte sind zu Ende. Aber
in der Oase werden sie ja reichlich frisches Wasser finden. Und
fremde Frauen. Und Tanz am Feuer abends. So sind alle voller
Zuversicht. Noch.
Da kommt der voraus geschickte Späher zurück, bringt sein dampfendes Pferd neben Agenor zum Stehen.
„Nun?
Was hast du für Neuigkeiten?“ fragt schmunzelnd der König der
Phönizier.
„Herr,
die Oase werden wir – wenn wir schnell reiten – noch vor der
Dämmerung erreichen. Die Leute dort ahnen nichts von unserem
Vormarsch. Und Ufroras und sein Heer werden erst im Morgengrauen
erwartet!“
Agenor
strahlt. Seine drei Nomaden haben ihn also nicht betrogen.
„Wir
machen kurzen Prozess, Abressonios. Schick schon einmal deine Reiter
voraus!“
Abressonios nickt nur und bald sehen Agenors Leute nur noch eine große Staubwolke. Die Reiterei reitet schnell. Angekommen wüten sie gnadenlos in der Oase, wo gerade Kinder am Wasser spielen, Kamele weiden und Frauen das Abendmahl bereiten. Das Geschrei ist überall, bald auch Feuer und bald ist beides wieder vorbei. Melweli, die Oase. Bis dahin ein kleines Paradies.
Agenor
sieht die Rauchwolke und tobt: Wie können die nur so dumm sein und
Feuer legen. Abressonios werde ich dafür bestrafen, morgen Abend,
wenn wir die Assurer besiegt haben, denkt er und verzieht dabei keine
Miene. Als sie die Oase erreichen, kommt Abressonios ihm entgegen,
steigt stolz vorm Pferd und meldet seine Heldentat:
„Herr, sie sind alle tot und alle Hütten platt. Meine Leute verscharren sie gerade alle im Sand.“
Agenor
gibt ihm mit kleiner Geste zu verstehen, dass er seine Arbeit gut
gemacht habe.
Die
kalte Nacht verbringen sie unter einem glitzernden Sternenhimmel. Die
Krieger träumen von der kommenden Schlacht und der Beute und den
Auszeichnungen, die ihr König Agenor ihnen zuteil werden lassen
wird. Nur das leise Schnauben der Pferde ist zu hören.
Noch vor Sonnenaufgang beziehen sie hinter hohen Dünen ihre Stellungen. Wenn die Assurer ohne jeden Verdacht und ohne jede Vorsicht vor der Oase auftauchen werden, sollen sie von den Seiten auf sie einstürmen, den Überraschungsmoment ausnutzen und sie überwältigen. So Agenors Plan. Der Reiterei soll dann der Rest überlassen bleiben.
Jetzt
lauern die drei Verbände an den geplanten Plätzen – nicht
sichtbar für die aus dem Osten erwarteten Feinde. Agenor hat Zelte
in der Oase aufschlagen lassen, sie sollen die Sicht auf die
niedergebrannten Hütten verdecken und gleichzeitig ein Zeichen sein,
dass Agenor und sein Heer keine Ahnung haben, was auf sie zukommt.
Man kann es bereits hören, bevor man sie sieht: Viele Pferde müssen da im Anmarsch sein. Dann zeigen sich die Vorhut und ein erster Reitertrupp. Agenor hatte seinem General eingeschärft, auf keinen Fall zu früh loszuschlagen, damit möglichst alle eingekesselt werden könnten. Der König ist unruhig. Er weiß nicht, warum. Eigentlich läuft doch alles nach Plan, ihr Sieg ist unvermeidlich. Warum diese Unruhe? Jetzt erscheint ihm auch noch das Bild seiner Frau, der gemeuchelten Königin, vor seinem inneren Auge. Sie scheint ihm etwas sagen zu wollen. Aber was? Da geht die Sonne auf. Der tiefrote Ball wächst langsam am Horizont über dem fernen Gebirgszug. Langsam. Und bringt fahles Licht zur Oase, wo ein schlimmes Blutbad bevorsteht, von dem noch niemand dort weiß.
Agenor
spürt, wie sein Herz heftig schlägt, wie Schweißperlen auf seiner
Stirn herunterlaufen. Warum schlägt er nicht los? Die arglosen
Feinde sind jetzt nah genug, also los jetzt, los!
Und
dann beginnt ein Dröhnen, ein Geschrei, als die drei Verbände nun
auf die ahnungslosen Assurer los stürmen. Aber die scheinen gar
nicht beeindruckt. Keine Panik, kein Davonlaufen, kein Angstgeschrei.
Im Gegenteil. Agenor, der es gar nicht fassen kann, was er da sieht,
bemerkt, wie die Assurer ihre langen Schilde vor sich aufbauen, einen
neben den anderen in einem großen Kreis, den sie dabei gleichzeitig
bilden. Wie ein eiserne Mauer, mannshoch, versteckt sich der wohl
nicht überraschte Feind hinter diesem metallenen Bauwerk. Wie kann
das sein?
Agenors Mannen – vorneweg sein General Abressonios – stürzen sich gerade immer noch mit wildem Kreigsgeschrei auf die feindlichen Soldaten hinter ihren Schilden. Doch im gleichen Augenblick sieht Agenor, der gerade erleichtert ausatmet, hinter seinen anstürmenden Verbänden in breiter Front eine riesige Streitmacht anrennen. Lautlos, völlig lautlos. Das muss ein böser Traum sein, denkt Agenor. Doch der nun anbrandenden Übermacht haben seine Krieger nichts entgegen zu setzen, zumal nun auch der eiserne Schilderkreis sich öffnet und die besten Männer von König Ufroras auch den Zweikampf suchen. Nun stecken sie in der Falle, zwischen zwei Fronten, ein zweites Blutbad muss nun die sonst so stille Oase über sich ergehen lassen. Diesmal aber sind es nicht Frauen und Kinder und Kamele, die herzzerreißend schreien, diesmal sind es die siegessicheren Phönizier, die da in ihrem Blut ertrinken.
Die Sonne, die inzwischen den schrecklichen Ort hell beleuchtet, sieht auch mitleidig, wie König Agenor gefangen genommen wird. Er hatte noch versucht, Richtung Westen zu fliehen. Er hat ein gutes Pferd. Aber es hatte nichts genutzt. Sie fangen ihn und bringen ihn zurück zur Oase, wo König Ufroras auf ihn wartet. Zitternd steht er nun vor seinem Beinahe-Schwiegersohn. Der grinst böse. Lässig lungert er auf einem Schemel:
„So
hast du dir sicher unser Wiedersehen nicht vorgestellt, Agenor!
Oder?“
Agenor
glaubt in einem bösen Traum eingesperrt zu sein, böse Dämonen
müssen ihn überwältigt haben. Er muss nur warten, bis dieser Traum
vorbei ist. Also einfach mal mit spielen.
„Nein,
fürwahr, so nicht. Aber sag mir, woher wusstest du, dass wir schon
die Oase erreicht hatten?“
Da
lachen Ufroras Paladine aus vollem Halse, der König stimmt ein.
Schließlich gebietet er dem Gelächter Einhalt, und nach einer
gehörigen Pause antwortet er so:
„Nun,
Agenor, König von Phönizien, Vater der Europa, um die du mich
betrogen hast, so höre: Du warst so dumm, ein großes Feuer am
späten Nachmittag in der Oase zu entfachen. Das war uns ein sehr
hilfreiches Zeichen. Danke auch dafür!“
Und
wieder lachen alle, die um König Ufroras herum stehen. Agenor, dem
die Angst ins Gesicht geschrieben steht, würde jetzt gerne seinen
Reitergeneral Abressonios vierteilen lassen. Dieser Idiot. Er hat den
klugen Plan zunichte gemacht.
„Die
Dummheit geht zu Lasten meines Reitergenerals Abressonios, mir wäre
so etwas nicht passiert!“
Ufroras
gibt mit kleiner Geste ein Zeichen. Sofort packen vier Männer Agenor
an den Armen, zwingen ihn in die Knie und halten ihn so fest. Noch
bevor der König protestieren kann, hört er die schneidende Stimme
von König Ufroras:
„Schade. Hättest du den Fehler auf dich genommen, hätte ich dein Leben geschont, so aber sollst du unehrenhaft geköpft werden und den Geiern zum Fraß dienen.“
Agenor hört es und kann es nicht fassen. Ist denn dieser Albtraum immer noch nicht zu Ende? Gleichzeitig sieht er seine Familie um sich stehen, seine Frau, seine drei Söhne und Europa, die ungehorsame Tochter, die doch an allem Schuld ist. Dann hört er sehr deutlich und schneidend ein Zischen in der Luft. Der Henker versteht sein Handwerk. Blut läuft aus seinem Kopf, als der im Sand zu liegen kommt.
König
Ufroras aber und seine Streitmacht feiern einen großen Sieg. Und am
nächsten Tag marschieren sie in Eilmärschen zum großen Fluss, den
sie auf einer aus vielen Booten zusammengestellten Brücke überqueren
und noch ehe die schlimme Nachricht in Agenors Königsstadt anlangt,
sind die Assyrer schon da. Es ist ein leichtes, die unbewachte Stadt
einzunehmen. Die Einwohner werden als Sklaven mitgenommen, auch der
Königsschatz darf nicht fehlen. Die meisten aber sind in den Gassen
und Häusern der Stadt verblutet.
König Ufroras aber wird in seiner Stadt eine große Prachtstraße anlegen lassen. Die hohen Wände aus riesigen Quadersteinen sollen auf beiden Seiten zur Straße hin mit großen Reliefs gestaltet werden. Und in bunten Farben. Darauf soll in allen Einzelheiten der erfolgreiche Feldzug gegen die Phönizier nachgemeißelt werden: Die Überraschungsschlacht vor der Oase, der eiserne Mauerring, die sterbenden phönizischen Soldaten, die Enthauptung des feigen Königs – auch sein Fluchtversuch wird dort festgehalten werden – der Eilmarsch und die Einnahme von König Agenors Stadt, die Versklavung der Überlebenden und die reiche Beute, die sie jubelnd mit nach Hause nehmen.
So werden auch noch die Kinder und Kindeskinder von diesem glorreichen Feldzug von König Ufroras erzählen können und von der Schmach der besiegten Feinde.