03 Mai

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 98

Europa mit Archaikos im Hafen der Stadt

Europa ist noch ganz benommen von den Geschehnissen des Vortags. Die plötzliche Bedrohung, der Sandsturm im Fischerviertel, die Rettung, der Fremde. Da kommt ein Bote des Minos von Kreta: „Frau! Archaikos wünscht eure Begleitung bei der Begrüßung der Schiffe, die vom Festland heute kommen und die jährlichen Abgaben abliefern.“

Europa nickt. Gleich. Sie muss sich sammeln. Droht erneute Gefahr? Archaikos hat ihr zwar versprochen, sie zur Frau zu nehmen. Aber der Rat der Alten und Sardonios stehen dem nach wie vor feindlich gegenüber. Was planen sie? War der fehlgeschlagene Anschlag gestern von ihnen ausgeheckt?

In weiten, wallenden Gewändern eilt sie im Schatten der Häuser zum Palast. Vor dem Haupttor stehen bereits die Wächter um die Sänfte des Minos herum. Kaum ist sie da, werden die Leinenstoffe gerafft und eine Hand streckt sich ihr entgegen:

„Komm, wir sind schon spät. Die Schiffe laufen bereits in den Hafen ein!“

Seine Stimme zu hören, entspannt Europa sofort. Der Tonfall ist freundlich und einladend. Als sie nun ihm gegenüber Platz nimmt, die Stoffe wieder den schwankenden Raum mit gedämpften Licht einhüllen, fühlt sie sich wie in einem wohltuenden Traum entführt.

„Wie mutig von dir, mich zu diesem Anlass mitzunehmen, Archaikos“, flüstert sie ihm zu. Der Minos lächelt. Jedes Mal, wenn er sie sieht, fühlt er sich wie verwandelt: heiter, gelassen, ruhig und zufrieden. Der Kampf, der gerade hinter vorgehaltener Hand im Palast geführt wird, hält ihn sonst fest in seinen Krallen.

„Europa, du bist ein Geschenk der Götter für mich.“

Im Laufschritt eilen die Wächter samt Sänfte hinunter zum Hafen. Gerade machen die drei Segler am Hafendamm fest. Planken werden von Bord aufs Pflaster geschoben. Peitschen Knallen. Tiergeschrei. In sicherem Abstand thronen Archaikos und Europa in der weit geöffneten Sänfte und sehen staunend dem Entladen zu. Die Fischer, Frauen und Kinder stehen an der hohen Mauer dahinter und freuen sich. Jedes Jahr ist es wie ein Fest, diese Ankunft der Abgaben: Manchmal sind es Unfreie, manchmal Schafe, diesmal sind es Stiere. Brüllend werden sie an dicken Stricken von Bord geschafft. Zum Schluss – ein Raunen geht durch die Zuschauer – ein weißer, besonders großer Stier.

„Gefällt er dir?“ fragt Archaikos lächelnd. Und ob er ihr gefällt. Sie nickt nur, streichelt seine Hand. Natürlich werden nicht nur die Stiere beobachtet, nein, auch die hohen Gäste in der Sänfte. Wer ist diese Frau? Gesprächsstoff für Tage und Wochen ist gesichert.

„Ich werde für ihn von meinem Architekten Thelérasos einen besonders großen Käfig hinter dem Palast bauen lassen.“

„Wozu?“ Europa durchfährt ein leichter Schauer.

„Dort sollen meine Feinde zu Tode kommen. Der weiße Stier wird der Henker sein.“

01 Mai

Leseprobe – Historischer Roman II Blatt # 110

Der getaufte Schlächter von Albträumen geplagt.

Schweißgebadet reißt es ihn aus dem Schlaf. Fratzen hingen ihm ins Gesicht, grässliches Kichern tropfte ihnen aus den zahnlosen Mäulern. Glitschige Knöchel griffen nach seinem Hals, der Gestank war unausstehlich. Er musste sich dabei zusehen, wie er erbärmlich erstickte. Gehängte lachten ihn höhnisch aus.

„Gräääh…!“ Ein gurgelnder Ton steckt ihm in der Kehle fest. Das Bärenfell drückt ihn nieder. Er stößt es zornig von sich. Wieder versucht er zu rufen. Tonlos. Endlich öffnet sich die Tür zu seinem düsteren und kalten Schlafraum. Sie haben es also doch gehört.

„Holt mir den Bischof, sofort!“ zischt er den verstörten Mann an. Der fährt herum und stolpert aus dem dunklen Gemach nach draußen. Kaum hat Chlotar die Augen geschlossen, da sind sie wieder da. Jetzt zwar unscharf und verzerrt, aber dafür sind es mehr geworden. Sie grölen. Tanzen, hopsen, kreischen. Er reißt die Augen auf. Er wälzt sich von seinem Lager, rappelt sich hoch, zieht sich das schwere Bärenfell um den zitternden Leib. Wo bleibt der denn? Ich darf ihm nicht zeigen, wie ich mich fühle. Es würde ihn freuen. Dieser Mistkerl von Bischof. Der neue Gott soll jetzt mal zeigen, was er kann.

Da hört er im Vorraum Schritte, Geflüster.

„Wo bleibt er denn?“ schreit er wütend los.

Na endlich! Da kommt er ja. Arnulf. Er wirkt unsicher, fahrig. Er hat wohl Angst, denkt der König. Gut so. Soll er auch. Er atmet tief ein, streckt sich, setzt eine wild entschlossene Miene auf und faucht Arnulf an:

„Hast du nicht gesagt, unser neuer Gott könne uns auch unsere Träume deuten?“

Der Bischof versteht nicht, was die Frage soll. Ist das eine Falle?

„Er ist allmächtig, er ist…“ Der König unterbricht den Bischof schroff:

„Ja, ja. Ich kann es nicht mehr hören. Unsere alten Götter sind genauso mächtig. Oder? Aber, was ist mit den Träumen? Schickt er sie uns oder ist es Teufelswerk?“

Arnulf zögert mit der Antwort. Er weiß einfach nicht, wo das hinführen soll. Hat der König schlecht geträumt?

„Herr, Christus ist unser Retter. In jeder Not.“

Chlotar tobt innerlich. Das tut ihm gut, denn es vertreibt die üblen Bilder der Nacht. Zugleich wird ihm klar, dass der Bischof Angst vor ihm hat. Das tut ihm so richtig gut. Jetzt gelingt ihm sogar schon wieder ein Grinsen.

„Geh jetzt wieder. Später können wir das Gespräch fortsetzen. Deine Antworten stellen mich nicht zufrieden. Denk darüber nach, Arnulf!“

Mit einer kleinen Geste gibt er dem Bischof zu verstehen zu gehen. Der verbeugt sich unsicher und huscht hinaus.

Wieder allein mit seinen schlimmen Bildern der Nacht weiß der König nicht, wem er sich anvertrauen könnte. Dem Bischof jedenfalls nicht.