29 Aug

Autobiographische Blätter – Neue Versuche # 45 – Leseprobe

Wahrhaftiges oder Erdichtetes – wo ist der wirkliche Weg?

Zeit und Raum scheinen unsere Erlöser zu sein: da wir beides nur mit unserer Wahrnehmung und deren Umsetzung im Gehirn benennen, sichern und speichern, können wir immer das Gefühl haben zu wissen, was Sache ist.

Zurückblickend wird ihm immer deutlicher, dass es die Intuition war und ist, die ihn leitete und leitet, nicht der „analytische Verstand“.

Wie oft hat er schon als Schüler über die „Resultate“ der Naturwissenschaften gelästert, sie abgelehnt, verweigert. Emotional und ohne Argumente. Einfach so. Die Zahlenfetischisten galten ihm als Traumtänzer.

Wie sehr hat er sich über die wissenschaftliche Haltung der Geisteswissenschaften geärgert, wenn sie sich dem naturwissenschaftlichen Denkmuster gerne unterwarfen: Generative Transformationsgrammatik! Was für ein Münchhausen-Begriffs-Monster, mit dem sich die Linguistik, bzw. die Germanistik versuchte, dem Wissenschafts-Gestus der Naturwissenschaften anzugleichen! Ihm wurde geradezu körperlich schlecht, wenn er Bücher lesen sollte, die solchem Ansinnen verpflichtet waren. Wie sehr hat er sich an der Sprache der Wissenschaft gestoßen, die einfach durch einen aufwendigen Begriffsapparat zu verschleiern versuchte, dass es reine Kopfspiele waren, die da veranstaltet wurden, reine Kopfspiele. Nur weil man ein Maßband bemühte, war noch nichts gewonnen, was Wirklichkeit und Wahrheit im Grunde meinen könnten.

Es war geradezu ein ununterbrochener Amok-Lauf, den er sich abverlangte, den er aber nicht durchschaute. So kam er sich eher vor als Abwegiger, als Unverständiger, als Nicht-Könner, der einfach der Wissenschaftssprache nicht gewachsen war. Punkt. Der schwarze Peter lag „also“ bei ihm, musste er meinen. Das aber machte nur noch wütender.

Als Lehrer ging er in den Untergrund. Seine Botschaft war stets die Annäherung, die Möglichkeit, die Variante, nicht aber ein unanfechtbares Ergebnis. Textverständnis stets ein Wagnis und ein Sich-Treffen auf waghalsigsten Brücken. Erst recht bei der Notengebung. Nie waren ihm solche Zahlen wichtig, Wertschätzung war stets jenseits solcher scheinbarer Sicherheiten, nie sollten sie seine Bemühungen anfechten können. Die Lernenden sollten lernen, sich selbst beim Denken vertrauen zu können. Intuitiv.

Inzwischen wird er sich sicherer und sicherer in seinen Unsicherheits-Versuchen. Sie sind wohltuend vorläufig, offen für Korrekturen, einladend zu Alternativen, voller Witz und Humor, weil sie sich nicht allzu ernst nehmen. Eher ein Spiel in der Sprache, das vom Ergebnis her völlig offen bleibt.

Summa:

Das Wahrheits-Ritual kann nur eine Tangente sein, die sich verlegen dem Gedachten in die schräge Quere stellt, um es in die Not wendenden Schranken zu weisen. Denn der Gewissheits-Gestus der Naturwissenschaften blendet

nur – zwar sehr erfolgreich (vor allem die Männer!) – aber doch blind machend für die causa humana, die gekennzeichnet bleibt von Gebrechlichkeit, Vergänglichkeit und Irrtum.

So machen die Erdlinge Gedankensprünge in ihrer Bildersprache, damit anschaulich wird, was undurchschaubar bleibt: Wenn jemand sagt: Alles fließt, denken wir gerne an einen Fluss, an dessen Ufer wir winkend stehen und Ausschau halten nach Nessie oder dem „Evangelium der Aale“…

Selbst alle sogenannten Abstraktionen (Abziehbildchen…hihihi…) bleiben dennoch das, was sie sind, Gedankenspiele auf dünnestem Eis. Da lässt sich zwar gut Schlittschuh Laufen (wieder der Griff zum Bildervorrat!), aber eben auch wunderschön ausrutschen und hinfallen. Mag der Berg an wissenschaftlichen Begriffen auch noch so hoch und staunenswert erscheinen, er bleibt nicht nur eine Erscheinung, er ist auch nur ein Wörterberg. Frei erfunden, besteigbar in der Phantasie, in der Wirklichkeit eine bleibende Fata Morgana. Wissenschaftler in der Weltkugel ratarm.

Nehmen wir den Raum 10 im Adolfinum: Wenn ihn sich die damals Anwesenden heute vorstellen, werden unglaubliche Varianten aufschreibbar sein, und was darin zu hören war, werden unendlich viele Erinnerungsberichte möglich machen, alle mit dem Gestus der Wahrheit geschmückt, bzw. beschwert. Aber wer beschwert sich denn darüber? Außer mir doch niemand. Ich habe das Problem. Punkt. Oder vielleicht doch nicht?

Auf alles gibt es eine probate Antwort, die Fehler sind längst ausgemacht und markiert. Ganz schnell, ganz einfach. Und so wahr. Wirklich?

Unser Gedächtnis ist synchron so schnell, uns angenehme Denkangebote als wahrhaftige Alternativen beim Denken zu präsentieren, dass gar keine Zeit mehr bleibt, sie kritische zu hinterfragen. Oder?

Denken ist ein unfassbar lustvoller Vorgang.

Gefährlich schön, verführerisch, aber auch eine Odyssee.

Wieder so ein Bild.

Wie denn auch anders?

So wird es ein endloser Reigen um das goldene Kalb der Wahrheitssuche.

Also, tanzen wir, so lange unsere Beine uns zu tragen vermögen!

Musik!

29 Aug

Europa – Meditation # 214

Europa – Bilder und deren Schatten.

Wie gerne wir Europäer doch unsere Verwicklungen vergessen, wenn es ungemütlich werden könnte!

Wer erinnert sich denn noch an den Korea-Krieg?

Damals waren die Medien in der BRD, dem einen der beiden Rest-Staaten Deutschlands, im Zitter-Modus. Schließlich war damals, also 1950, der große, neue Freund aus Übersee in einen „unseligen Krieg“ im Fernen Osten verwickelt. Titel-Seiten waberten in „neuer Weltkriegsgefahr“, der gerade beginnende Wiederbelebungsprozess in den ehemaligen Westzonen (Trizonesien!) hatte ja gerade erst zaghaft begonnen. Man wollte jetzt unbedingt alles richtig machen, dem ehemaligen Feind ein verlässlicher Freund sein – gerade in unsicheren Zeiten. China war Verbündeter der USA im Krieg gegen Japan gewesen, jetzt war es der Klassenfeind, genau wie es Russland gewesen war, der große Verbündete im Krieg gegen den Faschismus, damals. Jetzt, seitdem der sogenannte Eiserne Vorhang herunter gefallen war (was für ein einprägsames Bild hatte Churchill da für Jahrzehnte der westlichen Welt geschenkt!) Und dass die Japaner, die in China (Harbin) ein Lager für Experimente mit Giften unterhalten hatten, dem viele chinesische und koreanische Zivilisten als Versuchskaninchen zum Opfer fielen – von den sowjetischen, amerikanischen und britischen Kriegsgefangenen ganz zu schweigen – ihre Versuchsergebnisse an die Amerikaner einfach so und ungestraft weiter geben durften, war natürlich keine Thema für die Medien in Europa: Amerika war ja der Erlöser und Mister Saubermann sowieso! Und wir heutigen Europäer haben es längst vergessen, wenn es je Thema am Rande gewesen sein sollte.

Der Antikommunismus ist nach wie vor ein Dauerbrenner – in Wahlkämpfen in Großbritannien genauso wie in den USA: Das Feindbild, das da gepflegt wird, wirkt weiter Wunder. Die Angst lässt den Wähler dann das Kreuz unbedingt an der richtigen Stelle machen. So gewann Cameron in England seine zweite Wahl, so gewinnt Trump zur Zeit wieder Wählerstimmen. Und wir Europäer schütteln zwar befremdet mit unseren Köpfen, doch bleiben auch hier die alten Bilder wirkmächtig. Denn jede Kapitalismus-Kritik kann so werbewirksam unter den Tisch gekehrt und lächerlich gemacht werden: Die ewig Gestrigen haben eben einfach immer noch nicht den Schuss gehört!

So können die großen Sieger weiter den Planeten nach Gutsherrenart ausbeuten, jeder Kritiker daran gerät sofort in Verdacht, verfehlte Gesellschaftsmodelle zu favorisieren. Und das Gedächtnis, das gerne bereit scheint, Problemfelder auszublenden und zu vergessen, hilft uns Europäern gnädig dabei, die eigentlich anstehenden politischen und ökonomischen Korrekturen geflissentlich zu übersehen.

Derweil werden die Schatten der „Gewinner-Konzepte“ länger und länger.

Aber wer möchte schon gerne schlechte Nachrichten durchdenken?

22 Aug

Europa – Meditation # 213

Das Geschäftsmodell des Anthropozäns ist insolvent!

Der Nabel der Welt von einst wird die Geister, die er rief, nun nicht mehr los. Je weiter sich in Europa das Denken – und danach auch das Tun – vom gemeinsamen Überlebenswillen entfernte, desto atemberaubender wurden auch die Konzepte, die sich im Gehirn der denkenden Menschen aufblähten. Je mehr der Europäer von den Abläufen der Dinge zu verstehen schien, umso mehr glaubte er die Dinge auch beherrschen und in seine Dienste nehmen zu können. Am offensichtlichsten in der Erfindung der Zähmung der Atomkraft. Ein Irrtum, der trotz aller Desaster und Restposten als großer Sieg des Denkens und Gestaltens gefeiert wird. So häuften die Europäer Erfindung und Erkenntnis auf einander. Das Selbstbewusstsein wuchs, schließlich nimmt er sich selbst zum Gegenstand seiner Untersuchungen und erfindet mit Hilfe der Sprache Konzepte, die sein Denken und Handeln logisch erklären sollen.

Und allen auf diesem Planeten sollen die Ergebnisse zugute kommen, meinten die Europäer großherzig. Großherzig? Nein, es ist nicht die Empathie, es ist die Gier, die sie rücksichtslos voran trieb.

Es gipfelt in dem kühnen Gedanken, dass jeder für sich und zuerst seine eigene Existenz planen und durchsetzen kann und soll. Die Konkurrenz dabei belebe nur das Geschäft – im wörtlichen wie im übertragenen Sinn.

Herrschaft des Volkes (Demokratie) und freier Handel und Wandel überall – das sind die Eckpfeiler dieses Evangeliums – und gerne auch im Hintergrund weiter das Evangelium transzendentaler Ausweitung. Und mit Hilfe der neuesten Apparate und deren Vernetzung kann dieses unterhaltsame Spiel in Dauerschleife jedem zu seiner eigenen Selbstverwirklichung dienlich sein. Gewissermaßen paradiesische Verhältnisse habe der Mensch sich da geschaffen – nicht irgendwelche Götter seien es also, die ihn von fast allen Beschränkungen frei mache. Nur Krankheit und Tod sind noch nicht genügend eingehegt. Aber was wäre der Mensch auch ohne weitere große Herausforderungen?

In diesen Tagen allerdings ist es in Europa Zeit für einen Kassensturz. Zu offensichtlich sind die Erosionserscheinungen im Politischen wie im Ökonomischen. Die Folgen der ungebremsten Individualisierung weltweit führt uns nun die Pandemie vor Augen. Und in Tagträumen können die Europäer nun weiter ihre Visionen „leben“.

Da war noch nie eine Herrschaft des Volkes (wo es tatsächlich Tagträumer versuchten, wurden sie schnell von den Schergen der Stellvertreter der Herrschaft des Volkes kassiert) und da war auch noch nie eine Wirtschaft, der es genügte, genug zu haben – seit den Jägern und Sammlern. Von dem Amoklauf wider die Anonymität von Milliarden von isolierten Erdlingen seitdem ganz zu schweigen.

Jetzt erst – in allerletzter Sekunde – schwant den Selbstbetrügern und den Betrogenen, dass das Geschäftsmodell des Anthropozäns insolvent ist. Angeschoben von der Denkwut der Europäer stehen sie nun vor einem Weltladen, der pleite ist. Seit Monaten haben die Erdlinge schon ihre Jahresration verbraucht und tun immer noch so, als wäre da mehr – aber die Epochen des unabhängigen Individuums waren lauter Luftnummern, die allzu vielen Menschen das Leben kosteten. Jetzt sind sie selber an der Reihe und wundern sich.

Endlich gelangen sie doch zu Aristoteles zurück, dass wir eben nur als Gemeinschaftswesen zu so etwas wie Sinn des Lebens gelangen können – in überschaubaren Gruppen, mit überschaubaren Plänen in überschaubaren Gegenden. Wie zum Beispiel in den Regionen Europas.

Vieles ist da zu entdecken und Not die Treue zur Natur, die uns zum Abenteuer Leben losschickt, es zu nutzen in überschaubarer Zeit.