14 Nov

Europa – Meditation # 233

Wenn Narrative unkontrolliert wuchern dürfen.

Die Neugierde kennt keine Grenzen, keine Zufriedenheit, kein Halten. Sie will immer weiter und weiter, lässt Ballast einfach hinter sich und vergisst gerne die Geschichten, die die Neugierde kalt lässt.

Auch die Erzählungen von Krankheiten, die die Menschen heimsuchten, sind spannend, so lange gestorben wird haufenweise. Dann will der neugierige Mensch aber wieder spannendere Bildgeschichten erzählt bekommen. Wie in allen Kulturen auf diesem Planeten so auch auf dem kleinen Erdteil Europa, der sich schon immer einzureden wusste, wie wichtig, wie einmalig und wie unübertroffen er doch sei. Da sind Pest und Cholera nur Episoden. Auf zu neuen Abenteuern!

So segelte er in die Welt hinaus, stolz richtete er seine Symbole, Totems an fernen Stränden auf und fühlte sich stets als der bessere, der erfolgreichere, der Gott Gesandte. Und wer sich dem unverbesserlich widersetzte, musste es mit seinem kleinen Leben büßen. Zu groß, zu siegreich, zu stark war die europäische Botschaft. Und zu Hause wuchs das Narrativ von Jahrhundert zu Jahrhundert. Die Opfer waren nicht mehr zu zählen, es waren einfach zu viele, zu unwichtige – aus Sicht der Europäers.

So auch in der „Neuen Welt“, die ganz anders, viel freier und gottgewollter gestaltet werden sollte, im Namen Gottes und in eigener Regie. Der Erfolg über die Widersacher bestätigte ihnen nur das Sendungsbewusstsein, das sie tief gläubig pflegten.

So erzählten sie sich auch die Geschichte mit den gewaltsam heran Geschleppten aus Afrika: Wir sind die besseren, die kultivierteren, die stärkeren. Das gibt uns das Recht dazu, von Gottgefälligkeit flankiert, versteht sich.

Was heutzutage vielen in Europa nicht klar ist, dass diese Art Geschichten zu erzählen nicht vom Himmel fielen, sondern in Europa erfunden wurden, um sie dann als Erfolgsrezept zu exportieren. Und wenn nun eben diese Europäer sich empört abwenden von einem Konzept, das auf ihrem eigenen Mist gewachsen ist, dann weigern sie sich einfach, das so sehen zu wollen.

Die Erzählung der Demokratiegeschichte war und ist immer noch ein Narrativ, das von den besitzenden Männern weiter gegeben wird – von der Athener Polis bis zum Washingtoner Kapitol – eigenartig, dass selbst die Architektur ganz ähnlich aussieht. Bis in das Wahlrecht hinein reichen die Vorurteile der wohlhabenden Familien bis heute. Und diejenigen, die diesen Reichtum erst ermöglichten, sind entweder vernichtet worden – Genozid – oder versklavt gewesen.

Gewalt und Bosheit, Gier, Lüge und Selbstbetrug sind in dieser europäischen Erbschaft fest verankert, ritualisiert, wie das Zähneputzen. Die beiden Weltkriege wirken bereits eher verstaubt und ausgelutscht, sie sind längst keine interessanten Narrative mehr. Krieg der Sterne kommt da schon besser rüber.

Aber im Spiegel möchte man hierzulande natürlich nur den sehen, der als homo sapiens auch ein homo humanus ist – vorbildlich und angstarm und als schöne Beigabe auch ein guter Christ obendrein.

(Gut dass keiner weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß…)

08 Nov

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 107

Der Spruch des Orakels von Delphi

Das Zirpen der Zikaden macht die Hitze am Tempel Apolls auch nicht kühler. Im Gegenteil. Kadmos knirscht mit den Zähnen. Die Priester hier in Delphi haben ihn ganz schön geschröpft. Ein Spruch aus dem Mund der Pythia kostet ihn wahrlich einiges: Er soll an der Opferstraße einen Dankestempel errichten lassen, damit alle wissen, dass man selbst in Phönizien nicht auf die Weissagungen Apolls verzichten kann. Nun hofft er, dass ihm der Aufenthaltsort seiner Schwester Europa eröffnet wird. Er will unbedingt seinen Brüdern Kilix und Phoinix zuvorkommen. Endlich könnte er ihnen klar machen, dass er zwar der jüngste, aber nicht der dümmste ist.

Aber noch muss er warten. Die Pythia sitzt nun schon eine Weile auf ihrem Dreifuß und immer noch kommt keiner der stolzen Priester heraus, um ihm zu sagen, was sie weiß. Der Rundtempel wirkt auf Kadmos, als sei es die Büchse der Pandora. Wie komme ich denn gerade jetzt auf so etwas, denkt er erschrocken. Ein ungutes Gefühl macht sich in ihm breit. Die Zeder, unter der er sitzt, spendet ihm zwar Schatten, aber keine Geborgenheit. Er kommt sich so allein und verlassen vor, hier, in der Fremde, bei diesen selbstgefälligen Griechen. Erschöpft fallen ihm die Augen zu. Und dass sein Vater, Agenor, so gegen seine Schwester tobt, gefällt ihm auch ganz und gar nicht. Vielleicht sollten wir alle vier gar nicht mehr nach Hause zurückkehren. Kadmos erschrickt bei diesem Gedanken. Warum will er das? Vielleicht können sie zusammen den Vater wieder versöhnen, damit Frieden in die Familie zurückkehrt. Das wünscht er sich von ganzem Herzen. Und schon schickt er ein Stoßgebet zu Apoll: „Hilf uns, bitte, hilf uns! Wir werden als Dank auch einen Tempel errichten lassen.“

„Ganz schön heiß hier oder?“ Die Stimme neben ihm holt ihn schroff aus seinem Gebet zurück in die Hitze des Tages. Erschrocken reißt er die Augen auf. Vor ihm steht ein dunkle Gestalt. Groß, sehr aufrecht. Er kann das Gesicht des Fremden gar nicht erkennen, so blendet ihn die Sonne. Doch bevor er antworten kann, sieht er aus dem Augenwinkel, wie zwei Priester aus dem Tempel kommen. Jetzt werde ich es erfahren, jetzt wird alles gut. Kadmos erhebt sich, reckt sich und sieht nun auch das Gesicht des Fremden genau. Langes weißes Haar umrahmt freundlich lächelnde Augen, darunter ein schmaler grinsender Mund. Wenig angenehme Erscheinung, denkt Kadmos. Und dass der Fremde jetzt neben ihm steht, wo die Priester den Orakelspruch verkünden werden, passt ihm überhaupt nicht.

„Wellen werfen manches Schiff an Land. Diesmal sind es zwei, die gestrandet sind. Und schon sind sie getrennt. Eine Insel ist der Mensch.“

Kaum haben sie im Chor die Botschaft ausgesprochen, verbeugen sie sich und wenden sich wieder zum Gehen. Kadmos aber hat so viele Fragen, jetzt. Er will ihnen hinterher laufen, doch da fasst ihn der Fremde am Arm und flüstert ihm verschwörerisch zu: „Junger Mann, das ist ein ziemlich leichtes Rätsel. Soll ich es euch verraten?“

08 Nov

Leseprobe – Historischer Roman II YRRLANTH Blatt 117

Vorübungen zum Sterben in Lutetia, Luxovium und in der Villa Marcellina

Milde lächelnd sieht die große Göttin im winterkalten ehemaligen Gallien Männer Männerdinge tun. Stumm, stöhnend und schwitzend stehen sie sich gegenüber und üben das Töten. Was für Toren, was für arme Narren! Die große Göttin kennt ihre Gedanken nur zu gut: Sol, der Sonnengott, führe ihnen die Hand mit dem Schwert oder dem Speer oder dem Bogen. Sie versprechen ihm Opfergaben noch und noch, nur um sich des Sieges sicher zu sein.

So im hohen alten Buchenwald bei Lutetia. Pippin will auf Nummer sicher gehen, deshalb hat er einigen herumlungernden und frierenden Männern große Versprechungen gemacht, wenn sie sich ihm anschließen. Keine Waffen, keine Erfahrung? Kein Problem. Pippa hat ihm einen Sack Münzen besorgt (wo hat sie den her? Pippin will lieber gar nicht erst fragen), damit hat er Ausrüstung gekauft und jedem, der mit kommt, zwei Silberlinge in die Hand gedrückt.

Auf einer weiten Lichtung – den ersten Schnee haben sie mühsam zu den Seiten geschoben – stehen sie sich jetzt paarweise gegenüber. Pippin gibt ihnen Befehle: „Zurück, vor, Schwertarm hoch, Gegner Schritt zurück!“ Und das immer wieder. Ihr Atem fliegt als kleine weiße Wolke aus ihren Mündern, als wären es ihre Seelen. Seelenlos schlagen sie aufeinander ein. Schrill kreischt das Metall, wenn es auf Metall trifft. Aber schon nach einer kurzen Weile wollen alle eine Pause machen. Sie haben Hunger, sind müde. Solche Anstrengungen kennen sie nicht, wollen sie nicht. Die Münzen aber schon. Also treibt Pippin sie wieder und wieder an, macht dazu neue Versprechungen, schwadroniert vom König, der sie auszeichnen werde. Und in seinem Kopf sieht er schon die Villa dieses stolzen Römers in Flammen aufgehen, hört, wie der Bischof ihn lobt, sieht sich an der Tafel des Königs sitzen.

Auch in Luxovium sieht man Männer ihrem Kriegshandwerk mürrisch nachgehen. Hier ist es Rochwyn, der seine Leute bei Laune halten will, damit sie in diesen düsteren und eiskalten Wochen nicht trübsinnig oder jähzornig werden. Er hat sie zu Schießübungen hinter dem Kloster zusammen gerufen. Die alten Eichen, die dort in Reihe stehen, als wären sie die Wächter des Klosters, will er als Zielscheibe nutzen beim Bogen Schießen. „Also los, Leute! Jeder hat zehn Pfeile. Wer sie alle dicht nebeneinander ins Ziel bringt, hat einen Lederbeutel Roten in Aussicht!“ Da geht ein Grölen durch die Reihe seiner alten Krieger. Und schon geht es los. Rochwyn weiß, wenn sie im Frühling weiter ziehen, kommen ganz andere Feinde auf sie zu, als sie bisher zu Gesicht bekamen. Und er will keinen weiteren seiner Männer verlieren. Also müssen sie besser sein als die Gegner.

Und in der Villa Marcellina? Hier sind die Fallen fertig gebaut, kunstvoll mit Reisig überdeckt und Julianus übt jeden Tag mit allen Männern der Villa den Kampf Mann gegen Mann. Sie alle wissen, um was es geht.